Beispiellose Kritik an russischen Generälen nach militärischen Misserfolgen Wladimir Solowjow

Beispiellose Kritik an russischen Generälen nach militärischen Misserfolgen

Nachdem russische Truppen am Samstag eine wichtige Verteidigungsanlage, die Stadt Lyman am Sewerskij Donez, aufgegeben haben und es am Sonntag ukrainischen Streitkräften gelang, an einem anderen Frontabschnitt, in der Region Cherson, einen operativen Erfolg zu erzielen, haben die Streitkräfte der Ukraine de facto den Boden der neuen Regionen Russlands betreten, deren Abkommen über den Eintritt in die Russische Föderation Wladimir Putin am Freitag unterzeichnet hat. Zuvor hatte er in seiner Ansprache versprochen, „unser Land mit allen Kräften und Mitteln zu verteidigen, die wir haben“.

Vor diesem Hintergrund wurde am Wochenende in russischen Medien eine öffentliche Debatte gegen die Führungsspitze des Verteidigungsministeriums gestartet. Als erster griff unmittelbar nach der Ankündigung des Truppenabzugs aus Lyman „in günstigere Positionen“ der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow das Verteidigungsministerium an. Er beschuldigte in unverhohlener Weise Generaloberst Alexander Lapin, den Befehlshaber des Westlichen Militärbezirks, die Stadt aufgegeben zu haben. Dem Generalstab und dessen Chef Walery Gerassimow warf er Vetternwirtschaft und Nepotismus vor.

Unmittelbare Unterstützung erhielt Kadyrow von Jewgeni Prigoschin, dem Gründer der Wagner-Truppe, der dazu aufrief, „all diese Stümper mit Maschinengewehren barfuß an die Front zu schicken“. Beide verfügen de facto über eine Privatarmee und damit Gründe für einen Konflikt mit dem Verteidigungsministerium. Kadyrow hat seit der im Juni vom Verteidigungsministerium durchgesetzten Entscheidung, nationale tschetschenische Bataillone stehen unter russischen Befehl, mit der mangelnden Kampfbereitschaft der Tschetschenen und wachsender Proteststimmung kämpfen. Prigoschin trägt einen langjährigen Konflikt mit Verteidigungsminister Schoigu über die Verpflegung von Militärangehörigen aus.

In den russischen Medien schlossen selbst sich offizielle Propagandisten der Kritik an Armeeführung an. RT-Chefin Margarita Simonjan antwortete im Fernsehen auf die Frage nach einem möglichen „Clinch zwischen den Behörden und der Gesellschaft“, dass sie „dem Volk“ diene und nicht Beamten oder „einigen Generälen“.

Der RT-Kolumnist Jegor Cholmogorow sammelte in einem historischen Exkurs Beispiele, wie wechselnde Verteidigungsminister und Generalstabschefs Kämpfe in kriegführenden Ländern begünstigt hätten. Personalersatz sei „natürlich kein Allheilmittel“ aber: „Wir brauchen andere Gesichter und andere Ansätze.“

Fernsehmoderator Wladimir Solowjow repostete einen Beitrag eines seiner Stammgäste, in dem er die „Vergoldung und den Schnickschnack des Panzerbiathlons“ kritisierte, bei dem sich „jeder wie ein Betrüger fühlte“.

Der Fernsehsender Westi Nedeli von Dmitri Kisseljow kritisierte die Armeeführung nicht, zeigte aber einen langen und ausführlichen Bericht eines Militärkorrespondenten über den Rückzug aus Liman und die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte.

Die als Kadyrow nahestehende geltende ehemalige Beraterin von Dumasprecher Wjatscheslaw Wolodin, Anastasia Kaschewarowa, beleidigte Schoigu und Gerassimow persönlich unter der Gürtellinie – ihr Beitrag wurde bereits 1,3 Millionen Mal aufgerufen.

Kremlsprecher Dmitri Peskow reagierte auf die Äußerungen von Kadyrow mit der Mahnung, die regionalen Gouverneure sollten über die Ereignisse in der Ukraine „weniger emotional sprechen“.

All dies ist im Ausland nicht unbemerkt geblieben. Das in Washington ansässige Institute for the Study of War (ISW) glaubt, die Äußerungen von Kadyrow und Prigoschin „die Grundlagen von Putins Führung öffentlich untergraben – wenn auch scheinbar unbeabsichtigt“. Die Washington Post berichtet, dass ein „Riss unter den Anhängern des Regimes“ an die Öffentlichkeit gelangt sei.

Roskomnadzor hatte am 21. September erneut russische Medien vor einer möglichen Sperrung von Websites zur Verbreitung von Informationen über die Mobilisierung aus anderen Quellen, mit Ausnahme von föderalen und regionalen Exekutivbehörden gewarnt. Dennoch haben Nachrichten über die Ursachen und Folgen dieser zuvor kaum vorhandenen öffentliche Kritik an der Armee in offiziellen und halbamtlichen Quellen in kurzer Zeit ein unerwartet hohes Niveau erreicht.

[hrsg/russland.NEWS]

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