Ausgleich statt Polarisierung

[Von Dr. Christian Wipperfürth] Es sind zahlreiche Tote zu beklagen. Zwar haben die Staatsführung und die drei Oppositionsführer am Abend des 19. Februar 2014 einen Gewaltverzicht vereinbart. Er wurde jedoch bereits am Morgen danach gebrochen. Beide Lager – nicht nur eines – müssen massiv zur Mäßigung angehalten werden. Der Westen und Russland müssen sich abstimmen und gemeinsam mit den Akteuren in der Ukraine an einer tragfähigen Zukunft für das Land arbeiten. Der Westen allein kann diese Aufgabe nicht bewältigen.

Es war abzusehen, dass der Waffenstillstand brüchig ist. Die Stimmung ist irrational aufgeheizt, der rechtsextreme Flügel der Opposition hat das Gewaltverzichtsabkommen nicht anerkannt und Vertreter der staatlichen Sicherheitskräfte glauben, Rechnungen mit den Demonstranten begleichen zu müssen. Da die Gewalt wieder aufgeflammt ist, besteht eine hohe Gefahr, dass sie weiter eskaliert. Dies könnte zu einem gewaltsamen Auseinanderbrechen der Ukraine führen.

Neben diesem Extremszenario besteht die reale Gefahr, dass die Ukraine  unregierbar wird. Die wirtschaftliche Lage ist chronisch angespannt, und die bereits seit Monaten andauernde schwere politische Krise verschärft die ökonomischen Probleme. Deshalb gehen auch die Steuereinnahmen zurück. Der Zinssatz für ukrainische Staatsanleihen ist in den vergangenen  Wochen deutlich angestiegen, was den seit vielen Jahren hochgradig defizitären Staatshaushalt weiter belastet. Die Milliardenkredite Russlands im Dezember 2013 haben die Lage also nur vorübergehend entspannen können. Zudem ist der Kreditmarkt für ukrainische Unternehmen nur noch sehr schwer zugänglich, worunter die Investitionstätigkeit leidet. Die politische und die ökonomische Krise des Landes verschärfen sich wechselseitig.

Die Eskalation der Gewalt

Für die blutige Gewalt macht die eine Seite radikale Demonstranten, die andere von der Regierung instruierte Provokateure verantwortlich. Vitali Klitschko, einer der Oppositionsführer der Ukraine, rief noch während der ersten Welle der Gewalt am 18. Februar den Westen auf, einzugreifen. Demokratische Staaten dürften nicht tatenlos zusehen, »wie ein blutiger Diktator sein Volk tötet«. Carl Bildt, langjähriger schwedischer Außenminister, erklärte, dass der Präsident der Ukraine Viktor Janukowitsch »Blut an seinen Händen « habe. Der polnische Ministerpräsident, Donald Tusk, kündigte an, sich für EU-Sanktionen gegen die ukrainische Führung einzusetzen. Einen Meinungsaustausch mit dem ukrainischen Präsidenten lehnte er ab, da jedes Gespräch mit ihm in »einem Fiasko« ende. Derartige Einstellungen verschärfen aber die Krise.

Stimmen der Vernunft

Der deutsche Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, sprach hingegen davon, dass es »Gewalt und Gegengewalt« gegeben habe, ohne Schuld zuzuweisen oder zu thematisieren, welche Seite ursprünglich die Verantwortung für das Blutvergießen trägt. Es obliege aber den Sicherheitskräften, zu deeskalieren, so Steinmeier, der zugleich einen Ausgleich zwischen den ukrainischen Konfliktparteien forderte. Nur ein Ausgleich könne ein erfolgversprechender Weg sein.

Wenn sich im Falle einer schweren innenpolitische Krise äußere Akteure, in diesem Fall die EU oder auch Russland, eindeutig auf die Seite eines Lagers stellen, besteht die Gefahr, dass dessen Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, beeinträchtigt wird. Dies war in der Ukraine der Fall. Der Westen und Russland sollten – möglichst gemeinsam – die Akteure in der Ukraine massiv zum Ausgleich drängen. Und auch Anreize dafür bieten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonierte am 19. Februar mit dem russischen Präsidenten, Wladimir Putin, um über die Situation in der Ukraine zu sprechen. Sie sagte, beide seien übereingekommen, alles zu tun, um eine Eskalation der Gewalt zu vermeiden. Sie erklärte, sich mit Russland »weiterhin eng abzustimmen«.

Der Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, betonte die Verantwortung der ukrainischen Führung, friedlich mit den Demonstranten umzugehen. Er machte aber deutlich, dass er von den Demonstranten ebenfalls Gewaltfreiheit erwarte.

Am 19. Februar sprachen sich die Bundeskanzlerin und Frankreichs Präsident François Hollande bei ihrem gemeinsamen Ministerrat für Sanktionen gegen die Urheber der Gewalt in der Ukraine aus. Dabei ließen sie offen, ob sie eine Seite für alleinverantwortlich für das Blutvergießen halten.

Sanktionen oder ihre Androhung können in ausgewählten Fällen ein angemessenes Mittel der Außenpolitik sein. Trifft dies auch auf die Ukraine zu? Kontosperrungen oder Einreiseverbote, die gegen Vertreter einiger Staaten verhängt wurden, besitzen Symbolkraft, aber darüber hinaus nur einen zweifelhaften politischen Wert. So haben einzelne Länder und die EU diese Maßnahmen beispielsweise gegenüber Vertretern Weißrusslands verhängt, haben jedoch nach einigen Jahren aufgrund ihrer Erfolglosigkeit begonnen, hiervon wieder abzurücken.

Gleichwohl ist es in der derzeitigen Situation sinnvoll, weitgehende Maßnahmen anzudrohen. Nicht, um eines der ukrainischen Lager zu einseitigem Nachgeben zu nötigen, sondern um diejenigen, die auf welcher Seite auch immer Gewalt anordnen oder ausüben, abzuschrecken. Hierzu gehört die Ankündigung, Verantwortliche strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Hierzu könnten Informationen sowohl von Seiten der Opposition als auch der Regierung eingeholt werden.

Es ist ein zu kostspieliger Luxus, Sanktionen gegen ein anderes Land zu verhängen, nur um Beifall im eigenen Land zu erzeugen. Dafür ist die Lage in der Ukraine zu ernst. Sanktionen dürfen den Konflikt nicht anheizen, sondern müssen deeskalierend wirken.

Deutschland sollte sich nicht davon abhalten lassen, nachdrücklich für eine Mäßigung beider Lager in der Ukraine und eine konstruktive Einbindung Russlands einzutreten, auch wenn dies einige Bündnispartner sehr kritisch sehen. Nicht nur das deutsche, sondern auch das ukrainische, gesamteuropäische und wohlverstandene

westliche Interesse erfordern gerade dieses Vorgehen.

Die schweigende Mehrheit

Es ist keineswegs sicher, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Demonstranten unterstützt, wie Umfragen erweisen (s. hierzu DGAPkompakt, Nr. 4/2014). Dies zeigten auch die Nachwahlen zum ukrainischen Parlament in fünf Wahlkreisen mit insgesamt rund einer Million Einwohnern vom 15. Dezember 2013. Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits seit Wochen auf dem Maidan protestiert, sodass man von einem hohen Mobilisierungsgrad der Anhänger der Opposition ausgehen kann. Die Präsident Janukowitsch nahestehende Regierungspartei gewann jedoch vier Mandate, während die vereinigte Opposition lediglich einen Sitz erringen konnte.

Das Wahlergebnis ist kein hinreichender Beleg, dass die Bevölkerung hinter Janukowitsch steht, denn die Wahlbeteiligung war sehr niedrig und es gibt Berichte über Unregelmäßigkeiten. Es spricht mehr dafür, dass sowohl die Führung als auch die Opposition nur von einer deutlichen Minderheit der Bevölkerung unterstützt werden. Die Mehrheit scheint dem Präsidenten eher zu misstrauen, hält die Angebote der Opposition aber für untauglich, die tiefgreifenden Probleme des Landes zu lösen. Hierfür spricht auch, dass der Aufruf der Oppositionsführer für einen Generalstreik im Januar 2014 im Sande verlaufen ist.

Die Ukraine braucht den Westen und Russland

Die wirtschaftliche und soziale Lage der Ukraine ist seit langem prekär. Die Bevölkerungszahl ist seit dem Ende der UdSSR um etwa 20% gesunken, während es im Falle Russlands nur 4% waren. Die Wirtschaftsleistung pro Einwohner ist nur halb so hoch wie in Russland, während sie zu Sowjetzeiten vergleichbar war.

Eine tragfähige Zukunft der Ukraine ist nur denkbar, wenn die Ukrainer selbst gemeinsam daran arbeiten. Einseitige Stellungnahmen des Westens oder Russlands für jeweils eines der Lager in der Ukraine gefährden dies. Darüber hinaus ist das Land nicht in der Lage, sich einseitig für West oder Ost zu entscheiden. Denn die vorherrschende kulturelle Spaltung brächte bei einer Festlegung die Gefahr mit sich, dass die Ukraine daran zerbricht. Zudem wäre es kaum tragbar, den Warenaustausch mit ihrem wichtigsten Wirtschaftspartner, nämlich Russland, durch ein Freihandelsabkommen mit der EU zu gefährden. Die Ukraine benötigt West wie Ost gleichermaßen: als Kredit- bzw. Investitionsgeber, Wirtschafts- und Modernisierungspartner. Weder der Westen noch Russland sind bereit oder in der Lage, all dies auf sich allein gestellt bereitzustellen.

Weltpolitische Implikationen

Dauerhafte und massive innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Probleme der Ukraine gefährden auch die Stabilität der Nachbarländer, ja ganz Europas. An diesem 20. Februar sind die Aussichten bedrückend, weil abermals viel Blut vergossen wird.

Einseitige Stellungnahmen für eines der Lager in der Ukraine haben die Frontstellung in der Ukraine noch verstärkt und zu scharfen Wortwechseln zwischen dem Westen und Russland geführt. Die gegenseitigen Beziehungen werden so stark von Misstrauen und Nullsummendenken beherrscht wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Dies hat weltpolitische Auswirkungen, ob in Bezug auf die Rüstungsbeschränkung, die Situation in Zentralasien oder den Konflikt zwischen der Republik Moldau und dem abgespaltenen Landesteil Transnistrien. Die Spannungen drohen aber auch die Aussicht auf eine friedliche Beilegung des Bürgerkriegs in Syrien zu vermindern.

Die tragischen Ereignisse in der Ukraine sollten eine Phase verstärkter Kooperation zwischen dem Westen und Russland einleiten – wohlgemerkt nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg. Oder zumindest zu einem Meinungsaustausch führen, der nicht mit dem Megafon ausgetragen wird.

[Erschienen bei DGAP-Standpunkt]

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