Aufbruch in die Moderne – die russischen Symbolisten

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Die große Zeit der russischen Literatur war das 19. Jahrhundert gewesen. Es war die Zeit des Realismus, für die große Namen wie Nikolaj Gogol, Ivan Turgenev, Fëdor Dostoevskij und Lev Tolstoj (um nur die berühmtesten zu nennen) stehen. In ihren Werken wurde die Lebenswirklichkeit in allen Bereichen geschildert – gesellschaftlich, politisch und rein menschlich; die Schriftsteller sahen ihre Aufgabe darin, aufklärend, kritisch, im weitesten Sinn des Wortes erzieherisch zu wirken. Zum Zeitpunkt des Todes von Dostoevskij 1881 war der Höhepunkt des Realismus erreicht. Danach sank das Interesse sowohl der Schriftsteller als auch der Leser ständig; immer weniger sahen die Schriftsteller ihre Aufgabe darin, „belehrend“ – d. h. positive Lösungsansätze aufzeigend – zu wirken. Die Schriftsteller des sich aus dem Realismus entwickelnden Naturalismus – wie Boborykin und Mamin-Sibirjak – beschränkten sich darauf, schonungslos die Finger auf die blutenden Wunden der Gesellschaft zu legen. Čechov – ursprünglich ein aufrechter Realist – glitt in Ironie und Zynismus, ja fast in die Hoffnungslosigkeit, ab. Lev Tolstoj verwarf in seinem Werk Die Beichte (1882) gar sein ganzes bisheriges Leben und Schaffen. Was war geschehen?

Es war die Zeit Alexanders III.; eine politische und gesellschaftliche Eiszeit war über das Land hereingebrochen. Die Reaktionäre – an der Spitze Kaiser Alexander III. und seine graue Eminenz Pobedonoszev – versuchten, die gesellschaftlichen Uhren zurückzudrehen, was ihnen aufgrund ihrer Stellung auch teilweise gelang. (Mehr zur politischen und gesellschaftlichen Situation dieser Zeit finden Sie im Essay Kaiser Alexander III., das zum Verständnis der Veränderungen wichtig ist.) Die „Narodniki“ – „Volkstümler“ –, ein Teil der Intelligenzija, der in den 1870er Jahren „ins Volk“ gegangen war, um dort aufklärend zu wirken – hatten erkennen müssen, dass sie das Volk mit ihren Ideen nicht erreichten; nach dem gelungenen Attentat auf Alexander II. wurden sie von Alexander III. gnadenlos verfolgt und vernichtet. Aleksandr Blok, der Bedeutendste unter den Symbolisten, schrieb rückblickend:

„ … es gibt tatsächlich nicht nur zwei Begriffe, sondern auch zwei Realitäten: Volk und Intelligenz; anderthalb Hundert Millionen auf der einen und einige Hunderttausend auf der anderen Seite; Menschen, die sich im Allerwesentlichsten nicht verstehen.“ (1)

Immer mehr spürten die Schriftsteller des Realismus, dass sie mit ihrem elementarsten Anliegen, das sie als den Sinn ihrer Arbeit, ja ihrer Existenz betrachteten, gescheitert waren. Alle Schriftsteller Russlands hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt über ihre gesellschaftspolitische Aufgabe definiert; niemals hatten sie sich als Künstler gesehen, und nicht nur die Prosa (Romane, Erzählungen, usw.), sondern auch die Lyrik (Gedichte) stand meist unter dem Diktat sozialpolitischen Engagements.

Und dann standen ja auch die Zeichen der Zeit gegen sie: In Russland herrschten „Turbomaterialismus und -kapitalismus“. Die Industrialisierung, die im Westen ein halbes Jahrhundert zuvor vonstattengegangen war, wurde mit Riesenschritten nachgeholt und führte zu einer beispiellosen Verelendung des Volkes. Ein Teil der Schriftsteller radikalisierte sich und wurde zu Revolutionären (Gorkij u. a.), ein großer Teil aber resignierte.

Sinn- und heimatlos geworden suchten viele von ihnen nach einem neuen Selbstverständnis, einer neuen Aufgabe, an der sie ihr Schaffen und Leben ausrichten konnten. Hinzu kam, dass zur gleichen Zeit die Malerei des russischen Realismus, die Zeit der großartigen „Peredvižniki“, der „Wanderausteller“ (Ilja Repin, Ivan Šiškin, Ivan Kramskoj, Viktor Vasnecov u. a.), an Bedeutung verlor. Die neue Künstlergeneration (Michail Nesterov, Michail Vrubel, Konstantin Somov, Léon Bakst, Aleksandr Benua u. a.) richtete ihren Blick nach Westen. In Russland begann die Malerei der Moderne, in Westeuropa Jugendstil genannt (Oberbegriff Symbolismus). Ihre Maxime war, dass die Kunst zweckfrei sein müsse, dass sie nur um ihrer selbst willen bestehe – „L‘art pour l’art“ war die neue Devise. Schönheit und das Empfinden des Malers waren Selbstzweck. In der Musik geschah Ähnliches, wie es zum Beispiel bei Igor Stravinsky deutlich wird.

Eine entscheidende Rolle spielte die aus der Ausstellervereinigung Mir iskusstva (dt. Die Welt der Kunst) hervor- gegangene gleichnamige Zeitschrift, die der große Theaterschaffende Sergej Djagilev und der Künstler Aleksandr Benua (Alexandre Benois) 1899 gegründet hatten; hier fand man zusammen: Maler veröffentlichten ihre Bilder, Dichter ihre Werke, Dichter schrieben zu Gemälden und Maler illustrierten die Texte der Dichter; in der Folge statteten Maler auch Theateraufführungen aus (z. B. die berühmt gewordenen „ballets russes“ von Sergej Djagilev) und last not least bildeten sich Musikzirkel. Die einstmals gesellschaftspolitisch relevante Literatur war in der Kunst angekommen und die Künste beeinflussten sich gegenseitig: die Malerei Vrubels z. B. Aleksandr Blok und die Symphonischen Dichtungen verschiedener Komponisten Andrej Belyj.

Im Symbolismus steht der Künstler im Zentrum – sein Wesen, seine Empfindung, sein Denken, nicht sein Wollen oder ein Zweck. Anders als in der Romantik oder dem Impressionismus drückt er keine Gefühle aus, sondern – vereinfacht gesagt – sich selbst, wobei er mit Symbolen eine andere Welt erschafft.

Für die Symbolisten existierten zwei Welten: auf der einen Seite die reale, wahrnehmbare Welt und auf der anderen Seite eine „jenseitige“ Welt, die (und hier spalten sich die Symbolisten schon in zwei Richtungen auf) entweder eine vom Künstler nach seinem Ideal entworfene (Brjusov) oder eine „höhere“, religiös metaphysische Welt (Blok, Ivanov) ist. Und sie kannten keine Tabus; sie wollten das, was sie „darstellten“ auch leben – so kam es manchmal zu sehr skurrilen Lebensweisen, was man ihnen häufig heftig „ankreidete“.

Der Betrachter und insbesondere der Leser, der bar jeder „Grundkenntnisse“ ist, wird es schwer haben, den Sinn eines (literarischen oder grafischen) Werkes des Symbolismus zu erfassen (und das gilt besonders für die heutigen rationalen Menschen), doch darauf kommt es dem Künstler auch gar nicht an . Er will nur sich (sein Werk) präsentieren. Wobei zur symbolistischen Malerei (aufgrund der durch sie hervorgerufenen Gefühle) noch eher ein Zugang zu finden ist als zu den meisten literarischen Werken. Im weitesten Sinn gibt es Berührungspunkte zur heutigen belletristisch-esoterischen Literatur und (zumindest äußerlich) zu Science-Fiction-Werken.

In der Literatur war es natürlich die Lyrik, die den Symbolisten am nächsten lag – Gedichte verwendeten von jeher Symbole. Und fast alle Symbolisten waren zumindest anfangs Lyriker. Sie schrieben zwar sehr schnell auch Prosa, doch auch in dieser Gattung sind die lyrische, poetische Sprache und auch der Symbolgehalt in ihren Werken nicht zu übersehen. Für eine kurze Zeit – in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – prägte der Symbolismus die Literatur Russlands, eine Zeit, die literarisch so fruchtbar war, dass man sie auch das „Silberne Zeitalter“ nennt – das „Goldene“ war die Puškinzeit. Er war aber nicht die einzige bedeutende Strömung dieser Epoche: Parallel dazu entwickelte sich der „revolutionäre“ Realismus, dessen wichtigster Protagonist Maksim Gorkij war und der später in den sozialistischen Realismus überging.

Große, teils weltberühmte Namen des Silbernen Zeitalters sind: Dmitrji Sergeevič Merežkovskij (*1865, †1941), Fëdor Sologub (*1863, †1927), Valerij Jakovlevič Brjusov (*1873, †1924), Konstantin Dmitrievič Balmont (*1868, †1942), Andrej Belyj (*1880, †1934), Aleksandr Aleksandrovič Blok (*1880, †1921), Vjačeslav Ivanovič Ivanov (*1866, † 1949), Innokentij Fëdorovič Annenskij (*1856, †1909), Aleksej Michajlovič Remizov (*1877, †1957), Zinaida Gippius, auch Sinaida Hippius (*1869, †1945).

Im Wesen des Symbolismus lag, dass er den Lesern keine Antworten auf die sie bedrängenden Fragen der Zeit geben konnte (und es auch nicht wollte). Das erwies sich als großes Manko. Sehr bald erkannten die Schriftsteller, dass ihr „Experiment“ zum Scheitern verurteilt war.

Wann der Symbolismus am Ende war, kann man fast auf den Tag genau sagen: Es war am 7. August 1921, als der große Meister der Symbolisten Aleksander Blok tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde – ein Schock nicht nur für die Dichter und die Intelligenzija. Und am 24. August wurden der Schriftsteller Gumilëv und 61 weitere erschossen. „Alles, was danach kam, war nur die Fortsetzung davon: die Abreise von Belyj und Remizov ins Ausland, die Abreise Gorkijs, die Massenausweisung der Intelligenzija im Sommer 1922, der Beginn planmäßiger Repressionen, die Vernichtung zweier Generationen“, schreibt Nina Berberova in „Ich komme aus St. Petersburg. Autobiographie“ (im Original Kursif moi, 1966, deutsch 1990).

Der Dichter Vladislav Chodasevič schrieb 1928 rückblickend:
„ … Wer einmal die Luft des Symbolismus geatmet hatte, war für immer gezeichnet (ob von hässlichen Malen oder von schönen – das ist eine andere Frage). Die ,Menschen des Symbolismus’ und seines Umfeldes erkannten einander. Sie hatten alle etwas gemeinsam, nicht nur in ihren Werken, sondern auch in ihren Persönlichkeiten. Sie mussten sich nicht unbedingt lieben, sie konnten verfeindet sein und einander nicht besonders hoch schätzen… Eine intensive Verbindung von Menschen einer Epoche war das keinesfalls; aber sie gehörten dennoch zueinander – als ,Brüder wider Willen’ gegenüber den unverständigen Zeitgenossen… In die Werke der Symbolisten ist die komplizierte und teilweise verworrene Geschichte einer ganzen Lebensphase vieler Menschen verwoben. Viele Werke (d. h. Kapitel und Episoden dieser Geschichte) können nur über Vergleiche und Annäherungen begriffen werden… Am Ende erschließt sich alles Bedeutende nicht anders als über die innere und äußere Biografie des Verfassers. Und das nicht nur, weil die Symbolisten vor allem Lyriker waren (auch im Roman und im Drama). Das vorherrschend Lyrische bei ihnen ist selber die Folge einer tiefen, einer primären Ursache: nämlich der engen und untrennbaren Verbindung von Schreiben und Leben. Ja, gerade bei diesen, die so oft für ‚intellektuell’ oder ,unaufrichtig’ erklärt wurden, war die Verbindung von Leben und Kunst so stark, ja unzerreißbar, wie das vielleicht früher nur bei wenigen und später bei niemandem mehr anzutreffen war.“ (2)

(1) [zitiert nach Christa Ebert: Symbolismus in Rußland – Zur Romanprosa Sologubs, Remisows, Belys]
(2) [ebenda]

Literatur:
Ebert, Christa: Symbolismus in Rußland – Zur Romanprosa Sologubs, Remisows, Belys. Berlin: Akademie-Verlag, 1988
Lauer, Reinhard: Geschichte der russischen Literatur – von 1700 bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck Verlag, 2000
Luther, Arthur: Geschichte der Russischen Literatur. Leipzig: Bibliographisches Institut, 1924
Düwel, Wolf/ Grasshoff, Helmut [Hrsg]: Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917 (in zwei Bänden). Berlin: Aufbau-Verlag, 1986
Berberova, Nina: Ich komme aus St. Petersburg. Autobiographie (im Original Kursif moi, 1966, dt. 1990)

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