Auch Mauern sind nicht in Stein gemeißelt…. Oder: wie kommen wir da wieder raus…

Auch Mauern sind nicht in Stein gemeißelt…. Oder: wie kommen wir da wieder raus…

[von Michael Schütz] Bekanntlich möchte niemand eine Mauer bauen.

Trotzdem schreitet der Mauerbau 4.0 an der Grenze zu Russland voran. Diese Mauer errichten wir vor allem in unseren Köpfen, teilweise existiert sie auch physisch als Zaun. Die Mauer entsteht allerdings nicht wegen allfälliger aktueller Krisen, in denen Russland gerade eine Rolle spielt, sondern wir haben damit schon weitaus früher begonnen. Die jetzige Krise wird nur als Vorwand genommen, diesen Mauerbau zu rechtfertigen.

Bereits in der ersten 2000er Jahren hat sich in der Bevölkerung, angestoßen durch das übliche Triumvirat aus Politik, Medien und sog. Experten, ein starkes anti-russisches Feindbild zurückgemeldet. Damals vom Autor auf dieses Feindbild angesprochen, beharrten seine lieben Mitbürger immer darauf und einige sahen sich sogar im Recht, ihr Feindbild auch durchzusetzen.

Feindbilder sind u. a. deswegen so erfolgreich, weil sie Entlastung versprechen und außerdem zur Kollektivbildung beitragen. Das Dumme daran ist allerdings, dass Feindbilder gleichzeitig auch als selbsterfüllende Prophetie funktionieren. Das heißt, auf kollektiver Ebene schafft man sich auf diese Weise selbst die Konflikte, für die man dann andere verantwortlich machen kann. So sehen wir uns darin bestätigt, dass wir es schon immer gewusst haben. Was wir aber nicht verstehen wollen, ist, dass wir einfach am Kopf stehen und die falsche Perspektive eingenommen haben.

Die Welt ist also nicht so simpel gestrickt, wie sich das viele Leute – gerade im öffentlichen Debattenraum –  vorstellen, in der es den Einen ganz, ganz Bösen gibt, der an allem Schuld trägt.

Das was wir als Welt wahrnehmen, ist ein Zusammenspiel zwischen Kollektiv und Individuum, wobei dem Individuum selbst Entscheidungsfreiheit bleibt.

Man könnte es auch anders beschreiben, es läuft aber auf das Selbe hinaus: wir sind immer Teil des Problems oder Teil der Lösung.

Das bedeutet u. a., dass man auch aus einem Feindbild aussteigen und die Wahrnehmung verändern kann. Es ist nur in seltenen Fällen so, dass etwas zwangsweise so ist, wie es ist, in der Regel kann man sich frei entscheiden, wofür man steht.

Dass es so weit kommen konnte, wie es gekommen ist, hat also weniger oder sogar nichts damit zu tun, dass es irgendwo da draußen den ganz, ganz Bösen gibt, der von dunklen Kräften getrieben, die Welt auffressen möchte, sondern es hat vor allem mit unbewussten kollektiven Entscheidungen zu tun.

Eine der am meisten frappierenden Erfahrungen für den Autor ist es gewesen, zu sehen, wie wenig, das heißt, eigentlich gar nicht der Konflikt im Donbass im Bewusstsein der Leute angekommen ist:

Dort wird seit 2014 gekämpft – „ach so, wusste ich nicht“.

Es gab da auch ein Minsk-Friedensabkommen – „ach ja, so ganz dunkel kann ich mich vielleicht daran erinnern“.

Wir sprechen da nicht vom „einfachen Arbeiter“, sondern von der gut situierten Mittelschicht, vom sog. „Bildungsbürgertum“. Es herrscht die totale Leere oder ist es Finsternis? Auf jeden Fall ist es Verdrängung.

Es geht aber noch weiter:

Der ganze europäische Zentralraum – also der Raum zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer – ist ein einziges historisches Minenfeld, ein bis in tiefe Schichten blutgetränkter Boden, dessen Konflikte nie wirklich aufgearbeitet worden sind. Es gab da schon Versuche, nicht sehr erfolgreich, aber im wesentlichen ist die Gewaltgeschichte dieses Raumes auf Ebene der europäischen Gesellschaften verdrängt worden und zwar total.

In dieser kollektiven Verdrängung sollten wir den eigentlichen Grund für den jetzigen Konflikt suchen.

Die These lautet daher: Wenn diese horrende Gewaltgeschichte des europäischen Zentralraums in das kollektive Bewusstsein der europäischen Bevölkerung eingegangen gewesen wäre, hätten wir jetzt andere, vor allem bessere Themen.

Der Glaube des Westens, man könne in diesem Raum tiefsitzender Verletzungen einfach mal so mit dem Besen ein bisschen herumrühren, ist daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.

Es mag jetzt zynisch klingen, ist aber einfach eine nüchterne Feststellung: Dass jetzt wieder mit militärischer Gewalt in diesem Zentralraum gekämpft wird, liegt im Rahmen der geschichtlichen Vorgaben. Das selbstbezogene und erstarrte Denken in der Europäischen Union hat hier ganz einfach die Wirkmächtigkeit der Historie nicht verstanden. Hier wäre eigentlich Fingerspitzengefühl gefragt gewesen, eine Kunst, die es aber im EUropäischen Rahmen nicht mehr zu geben scheint.

Für die Konflikte im europäischen Zentralraum lassen sich manchmal einfache Täter-Opfer Beziehungen nachzeichnen, oft verschwimmen aber die Grenzen in diesen Beziehungen, sodass man nicht mehr weiß, wer jetzt Täter und wer Opfer ist. Das bedeutet, dass man auf herkömmliche Weise kaum aus dieser Gewaltgeschichte herausfinden wird. Wir brauchen also einen anderen Ansatz, um diesen Raum zu befrieden, was wiederum eine Voraussetzung für europäische Stabilität darstellt.

Um diese Geschichte an einem konkreten Beispiel zu demonstrieren, mögen die Leserin und der Leser gestatten, dass sich der Autor hier selbst zitiert. In seinem – derzeit nicht weitergeführten – Blog https://mittelundosteuropa.wordpress.com/ geht es u.a. darum, eben ein Bewusstsein für diese zentraleuropäische Gewaltgeschichte zu schaffen. Eine der Geschichten, die in dem Blog erzählt werden, ist folgende:

„II. Weltkrieg, Litauen.

Die deutschen Truppen haben einen Großteil der westlichen Sowjetunion besetzt und sind sogar bis vor die Tore Moskaus vorgedrungen. Dann aber geht ihr Schlachtenglück verloren und die Sowjetarmee drängt die deutsche Streitkraft Schritt für Schritt zurück. Im Schatten dieser Ereignisse hat sich in Litauen, das noch von den Deutschen gehalten wird, ein zweites Kriegsgeschehen etabliert: Diverse Partisanengruppen haben sich in den Wäldern vor allem östlich und südlich von Vilnius, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehört hat, eingenistet und führen den Krieg auf einer zweiten Ebene fort. Das Problem dabei ist: Man hat keine einheitlichen Ziele. Mehr oder weniger sind die Deutschen der Hauptfeind Nr.1, aber man kämpft bereits um eine Nachkriegsordnung. Und da gehen die Meinungen weit auseinander.

Diese Ausgangslage führt zu einem Mehrfrontenkrieg zwischen mehreren dieser Parteien, im Untergrund wie an der Oberfläche, der mitunter ziemlich brutal geführt wird. Neben polnischen, national-litauischen und sowjetischen Partisanen gibt es noch eine vierte Gruppe im bewaffneten Untergrund und das sind jüdische Kämpfer, Männer wie Frauen, die dem Holocaust entkommen sind. Sie kämpfen buchstäblich um ihr Leben und das machte ihren Aufenthalt in den Wäldern besonders schwer. Diese jüdischen Partisanen sind vor allem „Selbstversorger“. Das birgt ein erhöhtes Konfliktpotential mit der Bevölkerung in sich, da sie alles, was sie benötigen, auch ihre Waffen, mittels Gewalt beschaffen müssen. Die sowjetischen Partisanen dagegen können zumindest ansatzweise auf eine Versorgung aus Moskau zurückgreifen, substantiell wird diese allerdings erst im Frühjahr 1944.

In den südöstlichen Gegenden Litauens, um die es in dieser Episode geht, leben nicht nur litauische, sondern besonders viele polnische Bauern, die alle durch die Partisanen doppelt unter Druck kommen, denn sie sind bereits von den Deutschen zu einer nicht geringen Abgabenleistung verpflichtet worden.

In dieser Situation bilden die Dörfer bewaffnete Selbstschutzgruppen, die, wie ihre Gegner sagen, auch mit den Deutschen kooperieren, um sich gegen die Partisanen wehren zu können. Es ist umstritten, was für eine Rolle diese Milizen bzw. der dörfliche Selbstschutz beim Widerstand gegen die Partisanen tatsächlich gespielt haben. Die Polen etwa spielen deren Bedeutung herunter, während die jüdische Seite den Milizen und Bauern eine aktive, antisemitisch motivierte Bekämpfung der Partisanen nachsagt. Die jüdischen Partisanen beschuldigen viele Bauern aktiv mit den Deutschen zusammenzuarbeiten. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach versuchen die Partisanen, sich vor allem an diesen Bauern schadlos zu halten. Ihre Überfälle sollen einen erzieherischen Charakter haben. Wer eine Bedrohung darstellt, wird gnadenlos angegriffen.

Im noch jungen Jahr 1944 entscheiden sich die Partisanen, an dem Ort Koniuchy (jetzt: Kaniukai, nahe der Weißrussischen Grenze) ein Exempel zu statuieren. Warum gerade dieser Ort ausgewählt wird, ist umstritten. In einem – im doppelten Sinne – Morgengrauen kommt es schließlich zu einem gemeinsamen Angriff sowjetischer und jüdischer Partisanen auf das Dorf. Die Partisanen schießen in die Häuser und stecken diese in Brand, treiben so deren Bewohner auf die Straße und nehmen die Flüchtenden dann gezielt unter Feuer. Die Menschen haben wenig Chancen dem Gemetzel zu entkommen. Nach eineinhalb bis zwei Stunden Angriff bleibt ein Haufen toter Dorfbewohner zurück, Männer Frauen und Kinder. Ganze Familien werden ausgerottet. Die Partisanen ziehen ab, ohne dass Sicherheitskräfte ihnen etwas anhaben können.

Am nächsten Tag erscheint eine offizielle Untersuchungskommission am Schauplatz des Geschehens. Die Beamten sind nicht schlecht erstaunt, als sie durch die Ortschaft gehen und das Ausmaß der Zerstörung erkennen. Alles wird gut dokumentiert und fotografiert, die zerstörten Häuser, die Leichen, das Leid, aber die Presse schweigt über den Vorfall. Die deutschen Besatzer werden in Koniuchy an ihr eigenes Verhalten erinnert: Das Ausradieren ganzer Dörfer mitsamt ihrer Einwohner, die schon mal bei lebendigem Leib verbrannt werden, gilt den Deutschen nicht nur in Litauen als probates Mittel zur sog. „Kollektivbestrafung“.

Koniuchy entwickelte sich in der Erinnerungskultur vor allem der Polen zu einem Symbol oder auch Synonym für das Unrecht, das der polnischen Bevölkerung durch die prosowjetische und auch jüdische Kriegsführung angetan wurde. Doch auch für die jüdischen Partisanen bildete Koniuchy eine Zäsur: Sie, die aus ganz normalen Familien kamen, mehr oder weniger bürgerlich, die Träume von ihrer Zukunft hatten, sich bilden, für eine bessere Welt eintreten wollten, saßen jetzt in den Wäldern und hatten die Lust am Töten entdeckt. Sich rächen zu können für das erlittene Unrecht, die scheinbar befreiende Kraft des Schießens, jetzt genauso stark zu sein wie die Mörder ihres Volkes, das hat aus ihnen andere Menschen gemacht.

Nachwort:

Die Vorfälle in Koniuchy werden, da verschiedene Volksgruppen involviert gewesen sind und es um verschiedene Interessen gegangen ist, auch entsprechend unterschiedlich dargestellt. Für Polen und Litauen stellen heutzutage die dortigen Geschehnisse ein Kriegsverbrechen dar, wer für die einen ein Held ist, ist für die anderen ein Terrorist. Es ist nicht mehr klar, welche ethnische Zusammensetzung die Dorfbevölkerung tatsächlich hatte. Es spricht einiges dafür, dass es einen erheblichen Anteil an litauischen Einwohnern gab. Auch die genaue Opferzahl ist nicht mehr auszumachen. Namentlich festmachen konnte man später nur 38 Personen, denen auf einem großen Erinnerungskreuz am Schauplatz gedacht wird. Dagegen sprechen Schätzungen und Mutmaßungen von über einhundert bis zu dreihundert Opfern.“

Soweit diese Geschichte (Auszug aus dem Aufsatz „Blut und Erde“), die erahnen lässt, dass herkömmliche Denk- und Aufarbeitungsmuster auf einem solchen Boden nicht mehr greifen werden. Sonntagsreden von Politikern und Gedenkgottesdienste national geprägter Kirchen werden kaum Abhilfe leisten können.

Wie schon betont: Mit Russland zu reden ist eine Sache, aber wenn wir tatsächlich Stabilität in Europa haben wollen, müssen wir die blutgetränkte Erde dieses zentraleuropäischen Raumes gewissermaßen reinigen. Das bedeutet einerseits, diese Geschichten im öffentlichen europäischen Bewusstsein zu verankern. Andererseits sind in Zentraleuropa die Stränge der Schuld so sehr in einander verwoben, dass man sie kaum voneinander lösen können wird.

Der Vorschlag des Autors lautet daher, eine Einladung dazu auszusprechen, gemeinsam über die Geschehnisse zu trauern.Egal wer jetzt wo und wie Täter oder Opfer gewesen ist oder sein mag, ob man jetzt involviert war oder auch nicht.

Zudem wird es notwendig sein, eine gemeinsame Spiritualität zu finden. Gerade in Zentraleuropa ist die Verehrung der Muttergottes ein großes Thema, hüben wie drüben, das hat aber eigenartigerweise nicht dazu geführt, dass sich die Völker einander näher gekommen sind. Der christliche Glaube scheint dagegen eher ein Element der Spaltung zu sein – vorsichtig ausgedrückt.

Hier sind die Bürger gefordert. Wenn wir meinen, dass Politik, Medien oder Kirchen vorangehen werden, werden wir noch weitere tausend Jahre warten müssen. Es muss den Menschen an der Basis selbst ein Anliegen sein, die zentraleuropäische Geschichte aufzuarbeiten, mitzuhelfen, die Konflikte zu bereinigen und damit jetzt zu beginnen. Wenn die derzeitige Situation dazu keinen Anstoß bietet, welche dann?

Wenn wir das verstanden haben und tat-sächlich zum Handeln schreiten, werden sich die Mauern in unseren Köpfen, wie in real, langsam aber sicher auflösen. Mauerbau bringt sowieso keinen wirklich durchschlagenden Erfolg:

Der römische Limes … ist Geschichte.

Die Berliner Mauer … ist Geschichte.

Die Chinesische Mauer … ist eine Ausnahme.

Und die Mauer zu Russland … ist … ?

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