ARD kürzt Putin-Interview – Zensur durch Weglassen

ARD kürzt Putin-Interview – Zensur durch Weglassen

ARD beerbt “Der schwarze Kanal”

[ von Gunnar Jütte ] Freitagabend nach den Tagesthemen und dem Wetter bringt die ARD ein Exklusiv-Interview mit Wladimir Putin. Thomas Roth ist im Gespräch mit Wladimir Putin zum Kaukasuskonflikt. Gewohnt jovial stellt Roth, der Leiter des ARD Moskaustudios, seine Fragen an den russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin, der in Sotschi weilt.

Nachdem das ZDF bereits einen Tag vorher dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili in dem Polit-Talk von Maybrit Illner die Möglichkeit gab, sich ausführlich über den „lange geplanten“ Angriff Moskaus so wie die Vertreibung Hunderttausender Georgier aus Abchasien und Südossetien auszulassen, zog die ARD am Freitag nach.

Allen, die das Interview zwischen 23:31 Uhr und 23:40 Uhr verpassten, gibt die ARD Gelegenheit, sich das Interview als Video im Internet oder auch als Text auf den ARD-Internetseiten anzusehen.
http://www.tagesschau.de/ausland/kaukasuskonflikt148.html

Knapp 9 Minuten räumt die ARD der Frage ein: „Neuer Kalter Krieg?“.

Ein Tag später kam die Überraschung: das Interview lief auch im russischen Fernsehen. Dort dauerte es zur Überraschung der Zuschauer aber nicht knappe 9 Minuten sondern fast eine halbe Stunde.

Wenn man dann die „gekürzte“ ARD-Fassung mit der russischen Fassung vergleicht, dann fällt auf, dass wesentliche Teile die zum Verständnis der russischen Situation führen könnten, wesentliche Teile die die Entwicklung aufzeigen könnten, weggelassen, herausgeschnitten wurden.

Das komplette in Russland ausgestrahlte Interview ist im Detail, in der Wortführung und der Grundhaltung Putins so glasklar, dass kein Wort und keine Nuance verloren gehen sollte, denn Putin spricht aus voller Überzeugung – und überzeugend! – vom Verlangen Russlands nach kooperativen, gleichberechtigten internationalen Beziehungen … und bringt die ganzen dunklen Punkte ins Gespräch.

Wenn ein gebührenfinanzierter Sender, der durch Meinungsinstitutionen wie Tagesschau und Tagesthemen bei den deutschen Zuschauern ein hohes Ansehen genießt, dem immer noch wahrheitsgemäße Berichterstattung unterstellt wird, ein Interview ohne Hinweis kürzt, dann kann man ihm nur „Zensur durch Weglassen“ bescheinigen. (Man lese die Folgen der „Emser Depesche“ im Geschichtsbuch nach!)

Sollte wirklich programmtechnisch keine längere Zeit für das eingeschobene Exklusiv-Interview mit Wladimir Putin gewesen sein? Man hätte die Sondersendung doch lediglich um 15 Minuten verlängern müssen; man hätte einen anderen Sendeplatz (z.B. Phoenix) finden können und auf diesen oder auf die ARD-Internetseite verweisen können. Dort hätte das ganze Interview Platz gefunden. Aber selbst auf der ARD-Internetseite wird suggeriert, dies sei das ganze Interview.

Die nachfolgende Sendung dauerte übrigens 320 Minuten und hatte den Titel „Der Kampf ums Weiße Haus – Die lange Nacht der US-Wahlen“

Deutschland als Hort der Pressefreiheit scheint überholt. Interviews für das deutsche Fernsehen kann man sich ausgerechnet in dem vielgescholtenen Russland in voller Länge unzensiert anschauen.

Nachfolgend die Übersetzung des Interviews der ARD, welches im russischen Fernsehen gezeigt wurde

Roth: Sehr geehrter Herr Premierminister. Nach der Eskalation der Situation in Georgien herrscht im Westen die öffentliche Meinung vor, nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien und unter anderen Menschen, dass sie mit Gewalt eine Situation aufgebaut haben: Russland gegen den Rest der Welt.

Putin: Was meinen Sie, wer hat diesen Krieg begonnen?

Roth: Der letzte auslösende Vorfall war der Angriff Georgiens auf Zchinwali.

Putin: Ich danke Ihnen für diese Antwort. Das ist die Wahrheit. So war es. Dieses Thema werden wir noch etwas genauer besprechen. Ich will nur anmerken, dass nicht wir diese Situation geschaffen haben. Jetzt zur Frage des Ansehens Russlands. Ich bin überzeugt, dass das Ansehen jedes Landes, das in der Lage ist, das Leben und die Würde seiner Bürger zu verteidigen, eines Landes, das in der Lage ist, eine unabhängige Außenpolitik zu realisieren, dass das Ansehen eines solchen Landes in der Welt mittel- und langfristig immer wachsen wird. Und umgekehrt wird das Ansehen solcher Länder, die es zur Regel gemacht haben die außenpolitischen Interessen anderer Länder zu bedienen und die eigenen nationalen Interessen dabei zu vernachlässigen, unabhängig davon wie sie das begründen, sinken.

Roth: Sie haben trotzdem die Frage nicht beantwortet: Warum haben sie das Risiko der Isolation ihres Landes auf sich genommen?

Putin: Mir kam es so vor, als hätte ich eine Antwort gegeben. Aber wenn weitere Erläuterungen erforderlich sind, so werde ich sie liefern. Ich denke, dass ein Land, in diesem Fall Russland, das in der Lage ist die Ehre und Würde seiner Bürger, ihr Leben zu schützen, seine internationalen Verpflichtungen im Rahmen der Friedensmission zu erfüllen, dass so ein Land nicht in die Isolation geraten wird, was auch immer unsere Partner im Rahmen des Blockdenkens in Europa oder USA sagen. Europa und USA sind noch nicht die ganze Welt.

Und umgekehrt will ich noch einmal unterstreichen, wenn irgendwelche Staaten der Meinung sind, dass sie ihre eigenen nationalen Interessen missachten können, indem sie die Interessen anderer Staaten bedienen, außenpolitische Interessen. Das Ansehen dieser Länder, wie auch immer sie ihre Haltung erklären mögen, wird in der Welt allmählich sinken. In diesem Zusammenhang, wenn europäische Länder die außenpolitischen Interessen der USA bedienen möchten, so werden sie dadurch nach meiner Meinung nichts gewinnen.

Betrachten wir jetzt unsere internationalen Verpflichtungen. Nach internationalen Vereinbarungen haben sich die russischen Friedenstruppen verpflichtet die Zivilbevölkerung Südossetiens zu schützen. Erinnern wir uns jetzt an das Jahr 1995 – an Bosnien. Wie wir alle wissen: Die europäischen Friedenstruppen, die durch niederländische Truppen vertreten waren, haben eine der Konfliktparteien gewähren lassen und erlaubten dieser Konfliktpartei ein ganzes Wohngebiet zu zerstören. Es wurden hunderte Menschen getötet und verletzt. Das Problem und die Tragödie von Srebrenica sind in Europa gut bekannt. Wollten sie etwa, dass wir uns genauso verhalten hätten? Fort gegangen wären und den georgischen Truppen die Möglichkeit gegeben hätten die Einwohner von Zchinwali zu töten?

Roth: Ihre Kritiker sagen, dass das Ziel Russlands nicht der Schutz der Zivilbevölkerung war, sondern der Versuch den Präsidenten Saakaschwili abzusetzen, Georgien weiter zu destabilisieren, und somit den Beitritt Georgiens zur NATO zu verhindern. Ist das so?

Putin: Das ist nicht so. Das ist einfach eine Verdrehung von Tatsachen. Das ist eine Lüge. Wenn das unser Ziel gewesen wäre, hätten wir wahrscheinlich diesen Konflikt begonnen. Doch wie sie selbst gesagt haben, die georgische Seite hat diesen Konflikt begonnen. Jetzt erlaube ich mir, die Fakten der neueren Geschichte in Erinnerung zu rufen. Nach der unrechtmäßigen Entscheidung über die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo haben alle erwartet, dass Russland die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anerkennt. Es ist doch wirklich so, dass alle diese Entscheidung Russlands erwartet hatten. Und wir hatten ein moralisches Recht darauf, aber wir haben es nicht getan. Wir haben uns mehr als nur zurückhaltend benommen. Ich werde das nicht weiter ausführen, wir haben es in Wirklichkeit einfach nur geschluckt.

Und was haben wir im Gegenzug bekommen? Eine Eskalation des Konflikts, einen Angriff auf unsere Friedenstruppen, den Überfall auf die Zivilbevölkerung Südossetiens und ihre Vernichtung. Sie kennen doch die Fakten, was dort vorgefallen ist und schon veröffentlicht wurde. Der französische Außenminister war in Nordossetien und hat dort die Flüchtlinge getroffen. Auch Augenzeugen erzählen, dass georgische Truppen mit den Panzern Frauen und Kindern überfahren haben, die Menschen in ihre Häuser getrieben und dort lebendig verbrannt haben. Georgische Truppen, als sie Zchinwali eingenommen haben, warfen einfach so im Vorbeigehen in die Keller der Wohnhäuser, wo sich Frauen, Kinder und Alte versteckt hielten, Handgranaten. Was ist das, wenn nicht ein Genozid?

Jetzt zu der georgischen Führung. Menschen, die ihr Land auf diese Katastrophe zugesteuert haben. Die georgische Führung unterstützte durch ihr Handeln die Auflösung der territorialen und staatlichen Integrität Georgiens. Solche Menschen haben aus meiner Sicht kein Recht einen Staat zu lenken, weder einen kleinen noch großen. Wenn sie anständige Menschen wären, müssten sie sofort selbstständig zurücktreten.

Roth: Das ist nicht ihre Entscheidung, sondern eine georgische Entscheidung.

Putin: Natürlich. Aber wir kennen auch Präzedenzfälle anderer Natur. Erinnern wir uns, wie amerikanische Truppen im Irak einmarschiert sind und was sie mit Saddam Hussein dafür gemacht haben, dass er einige schiitische Dörfer vernichtet hat. Hier in den ersten Stunden der Kampfhandlungen wurden vollständig 10 ossetische Dörfer auf dem Gebiet Südossetiens zerstört.

Roth: Herr Premierminister. Fühlen sie sich aufgrund dieser Vorkommnisse berechtigt auf das Gebiet eines souveränen Staates einzudringen, das heißt: Nicht in der Konfliktzone zu bleiben, sondern souveränes Gebiet zu bombardieren. Ich sitze heute hier neben ihnen nur dank eines Zufalls. 100 Meter von mir entfernt, in einem Wohngebiet Goris, ist eine Bombe explodiert. Eine Bombe, die von ihrem Flugzeug abgeworfen wurde. Ist das nicht eine Verletzung des internationalen Rechts, nämlich dass sie de-facto ein kleines Land besetzt haben? Woher nehmen sie dieses Recht?

Putin: Natürlich, haben wir ein Recht darauf …

Roth: Ich will nochmal darauf hinweisen: Die Bombe ist auf ein Wohnhaus abgeworfen worden.

Putin: Selbstverständlich haben wir im Rahmen des internationalen Rechts gehandelt. Der Angriff auf unsere Friedenstruppen, das Töten unserer Friedenstruppen und unserer Bürger – das alles wurde von uns eindeutig als ein Angriff auf Russland gewertet. In den ersten Stunden der Kampfhandlungen wurden durch georgische Angriffe sofort einige Dutzend unserer Soldaten getötet. Die südliche Stellung unserer Friedenstruppen wurde durch georgische Panzer umzingelt, die ein direktes Feuer auf sie eröffnet haben. Als unsere Friedenstruppen versucht haben, militärisches Gerät aus den Garagen zu holen, wurden sie mit „Grad“ Raketenwerfern beschossen. 10 Menschen, die sich in der Abstellhalle befanden, sind sofort getötet worden. Sie sind lebendig verbrannt.

Ich bin noch nicht fertig. Danach griff die georgische Luftwaffe verschiedene Punkte in Südossetien an, nicht in Zchinwali, sondern im Zentrum von Südossetien selbst. Wir waren gezwungen dazu überzugehen die Feuerstellungen, die sich nicht in der Konfliktzone und auch jenseits der Sicherheitszone befanden, anzugreifen. Doch es waren Orte, von wo aus die georgischen Truppen gesteuert wurden und die dazu dienten, russische Truppen und unsere Friedenstruppen anzugreifen.

Roth: Aber ich habe doch gesagt, dass Wohnhäuser bombardiert worden sind. Vielleicht verfügen sie nicht über die ganzen Informationen?

Putin: Ich bin vielleicht nicht komplett informiert. Hier sind auch Fehler im Verlaufe der Militäroperation denkbar. Erst vor kurzem hat die US-Luftwaffe angeblich Taliban angegriffen und auf einen Schlag beinah einhundert Zivilisten getötet. Das ist die erste Möglichkeit. Aber die zweite ist wahrscheinlicher. Es ist so, dass die georgische Seite die Feuerleitstellungen, die Leitstellen der Luftwaffe und Radaranlagen öfters gerade in Wohngebieten stationiert hat. Sie hat das getan mit dem Ziel die Einsatzmöglichkeiten unserer Luftwaffe zu begrenzen, indem es die Zivilbevölkerung und sie zu Geiseln machte.

Roth: Der Außenminister Frankreichs, das gerade die EU-Präsidentschaft bekleidet, Herr Kouchner hat vor kurzem seine Besorgnis verkündet, dass die Ukraine zum nächsten Krisengebiet werden könnte. Genauer die Halbinsel Krim und die Stadt Sewastopol, die eine Basis der russischen Schwarzmeerflotte ist. Sind die Krim und Sewastopol das nächste Ziel für Russland?

Putin: Sie sagten: Nächstes Ziel. Wir hatten auch im aktuellen Konflikt kein Ziel. Daher denke ich, von irgendeinem nächsten Ziel zu reden ist einfach nicht korrekt. Das ist das Erste.

Roth: Schließen sie das aus?

Putin: Wenn sie mir erlauben zu antworten, dann werde ich alles erklären. Die Krim ist kein strittiges Gebiet. Dort gab es keinen ethnischen Konflikt, im Gegensatz zu Südossetien und Georgien. Und Russland hat vor langer Zeit die Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt. Wir haben im Grunde unsere Gespräche über die Grenzen beendet. Es geht um Demarkationsfragen, aber das sind schon technische Dinge. Die Frage über irgendwelche ähnliche Ziele Russlands gegenüber Ukraine riecht für mich sehr nach einer Provokation.

Dort, innerhalb der Gesellschaft, auf der Krim, finden schwierige Prozesse statt. Dort gibt es Probleme mit den Krimtataren, der ukrainischen Bevölkerung, der russischen Bevölkerung, allgemein der slawischen Bevölkerung. Aber das ist eine innenpolitische Angelegenheit der Ukraine selbst. Wir haben einen Vertrag mit der Ukraine über den Aufenthalt unserer Flotte dort bis zum Jahre 2017 und wir werden uns an dieses Abkommen halten.

Roth: Ein anderer Außenminister, dieses mal der britische, Herr Millbrand äußerte seine Bedenken, dass ein neuer Kalter Krieg beginnt. Ein neuer Rüstungswettlauf. Wie würden sie die Situation einschätzen? Stehen wir jetzt an der Grenze zu einer neuen Eiszeit, einem neuen Kalten Krieg, dem Beginn eines neuen Rüstungswettlaufs? Wie sehen sie das?

Putin: Wissen sie, es gibt so einen Witz: Wer schreit als erster: Haltet den Dieb? – Derjenige, der gestohlen hat.

Roth: Der Außenminister von Großbritannien.

Putin: Das haben sie so gesagt. Wunderbar. Es ist eine Freude mit ihnen zu reden. Aber sie haben es gesagt. Im Ernst strebt Russland keine Zuspitzung der Lage an. Wir wollen gute, nachbarschaftliche und partnerschaftliche Beziehungen mit allen. Wenn sie erlauben, werde ich sagen, was ich darüber denke. Es gab die Sowjetunion und den Warschauer Pakt. Und es gab sowjetische Truppen in Deutschland. Im Grunde muss man ehrlich sagen, das waren Besatzungstruppen, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als Verbündete getarnt geblieben sind. Diese Besatzungstruppen haben das Land verlassen. Die Sowjetunion ist zerfallen, der Warschauer Pakt existiert nicht mehr. Die Bedrohung seitens der UdSSR gibt es nicht mehr. Aber die NATO, die amerikanischen Truppen, sind in Europa geblieben. Warum? Dafür, um Ordnung im eigenen Bündnis zu schaffen, mit eigenen Verbündeten, dafür, um sie im Rahmen der Blockdisziplin zu halten, braucht man eine äußere Bedrohung. Iran kann diese Rolle nicht ganz ausfüllen. Man ist gewillt, die alten Feindbilder in Form von Russland wieder zu beleben. Aber keiner in Europa hat heute Angst.

Roth: Am Montag findet eine außerordentliche Sitzung des EU-Rates in Brüssel statt. Dort wird über Russland, über Sanktionen gegenüber Russland beraten. Zumindest werden diese Themen besprochen. Wie reagieren sie darauf? Ist ihnen das egal? Gehen sie davon aus, dass die sich die EU sowieso nicht einig wird?

Putin: Wenn ich sagen würde, dass uns das egal ist oder wir dem gegenüber gleichgültig sind, so hätte ich gelogen. Natürlich ist uns das nicht egal. Selbstverständlich werden wir aufmerksam verfolgen, was dort vor sich geht. Wir hoffen einfach, dass der gesunde Menschenverstand gewinnt. Wir hoffen, dass eine objektive und nicht politisierte Einschätzung der Geschehnisse, die in Südossetien und Abchasien vorgefallen sind, stattfinden wird. Wir hegen die Hoffnung, dass die Aktionen der Friedenstruppen Unterstützung finden und die Handlungen der georgischen Seite, die diese verbrecherische Aktion durchgeführt hat, verurteilt werden.

Roth: In diesem Zusammenhang möchte ich sie fragen: Wie wollen sie folgendes Dilemma lösen? Auf der einen Seite ist Russland daran interessiert, mit der EU zusammenzuarbeiten. Es kann auch nicht anders handeln angesichts der wirtschaftlichen Aufgaben, die es sich selbst gestellt hat. Auf der anderen Seite will Russland nach eigenen, russischen Regeln spielen. Das heißt, einerseits die Anerkennung der gemeinsamen europäischen Werte, andererseits – die Entschlossenheit nach eigenen russischen Regeln zu spielen. Aber man kann nicht diese beiden Seiten in Einklang bringen.

Putin: Wissen sie, wir haben nicht vor nach irgendwelchen besonderen Regeln zu spielen. Wir wollen, dass alle nach gleichen Regeln handeln, die da heißen – Internationales Recht. Wir wollen jedoch nicht, dass diese Begriffe von irgendwem manipuliert werden. In einer Region der Welt spielen wir nach diesen Regeln, in einer anderen – nach anderen. Nur damit es unseren Interessen entspricht. Wir wollen, dass die Regeln einheitlich sind, dass die Interessen aller internationaler Akteure berücksichtigt werden.

Roth: Auf diese Weise wollen sie sagen, dass die EU in verschiedenen Regionen der Welt nach unterschiedlichen Regeln spielt, die nicht dem internationalem Recht entsprechen.

Putin: Genau das! Wie wurde der Kosovo anerkannt? Man hat die territoriale Integrität eines Staates komplett vergessen. Man hat auch die UNO-Resolution 1244 vergessen, die der Westen selbst unterstützt hat. Dort durfte man es tun, in Abchasien und Ossetien jedoch nicht! Warum?

Roth: Das heißt Russland ist der einzige Schiedsrichter des internationalen Rechts? Alle anderen werden manipuliert? Sie nehmen es einfach nicht wahr. Sie haben andere Interessen oder es ist ihnen egal. Habe ich sie richtig verstanden?

Putin: Sie haben mich falsch verstanden. Haben sie die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt? Ja oder Nein?

Roth: Ich persönlich … ich bin ein Journalist.

Putin: Nein, die westlichen Länder.

Roth: Ja.

Putin: Im Grunde haben alle sie anerkannt. Aber wenn sie in dem Fall anerkannt wurde, erkennt doch die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens an. Es gibt keinen Unterschied. Es gibt keinen Unterschied zwischen diesen beiden Fällen. Das ist ein ausgedachter Unterschied. Dort gab es einen ethnischen Konflikt – und hier gab es einen ethnischen Konflikt. Dort gab es Verbrechen praktisch auf beiden Seiten – und hier. Wahrscheinlich kann man sie finden. Dort hat man die Entscheidung getroffen, dass diese Völker nicht in einem Staat zusammenleben können – und hier wollen sie nicht in einem Staat leben. Hier gibt es keinen Unterschied, und alle verstehen das. Das ist alles nur Gerede. Um die unrechtmäßigen Entscheidungen zu decken. Das ist das Recht des Stärkeren. Und damit kann sich Russland nicht einverstanden erklären. Herr Roth, sie leben schon lange in Russland. Sie sprechen ausgezeichnet Russisch, beinahe akzentfrei. Dass sie mich verstanden haben, ist nicht verwunderlich. Das freut mich sehr. Doch ich würde mir wünschen, dass mich auch meine europäischen Kollegen verstehen, die sich am ersten September versammeln und über diesen Konflikt beraten werden. Die Resolution 1244 wurde verabschiedet? Ja, sie wurde verabschiedet. Dort wurde die territoriale Integrität Serbiens explizit erwähnt. Man hat dann diese Resolution einfach in den Papierkorb geschmissen, sie einfach vergessen. Man hat versucht sie umzudeuten. Man konnte sie in keiner Weise umdeuten. Also hat man sie einfach vergessen. Warum? Man hat es so im Weißen Haus befohlen und alle haben gehorcht. Wenn europäische Länder auch weiterhin so ihre Politik gestalten wollen, dann werden wir wohl über europäische Angelegenheiten mit Washington verhandeln müssen.

Roth: Ich verstehe, was sie gesagt haben. Können wir ohne Übersetzer weitermachen?

Putin: Sicher.

Roth: Danke. Ich würde gerne eine Frage stellen, die die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen betrifft. Unabhängig davon was es aktuell für Einschätzungen und Vorschläge gibt. Unter Berücksichtigung der besonderen Beziehungen zwischen unseren Ländern: Kann Deutschland in dieser Situation eine bestimmte Vermittlerrolle übernehmen?

Putin: Wir haben mit Deutschland sehr gute, sehr vertrauensvolle Beziehungen – sowohl im Bereich der Politik, als auch im Bereich der Wirtschaft. Als wir mit Herrn Sarkozy während seines Besuches in Moskau gesprochen haben, haben wir ihm deutlich gemacht, dass wir georgisches Territorium nicht annektieren wollen und dass wir natürlich Gebiete verlassen werden, wo wir uns heute befinden. Wir werden uns in die Sicherheitszone zurückziehen, die in den früheren internationalen Vereinbarungen definiert worden ist. Aber auch dort wollen wir nicht ewig bleiben. Wir sind der Ansicht, dass das georgisches Territorium ist. Unser Ziel besteht darin, die Sicherheit in dieser Region zu gewährleisten und einen geheimen Truppenaufmarsch zu verhindern, wie es dieses mal passiert ist. Bewaffnung, Technik, wir wollen Ansätze für einen neuerlichen bewaffneten Konflikt unterbinden. Und in diesem Zusammenhang kann ich sagen, dass eine Beteiligung an diesen Maßnahmen der internationalen Beobachtern aus OSZE, der EU und auch aus Deutschland von uns nur begrüßt werden würde. Es müssen nur die Prinzipien der Zusammenarbeit definiert werden.

Roth: Heißt das, dass sie in jedem Fall ihre Truppen zurückziehen werden?

Putin: Natürlich. Das Wichtigste für uns ist die Sicherheit in diesem Gebiet zu gewährleisten. In der nächsten Phase Südossetien zu helfen ihre Grenzen zu sichern. Es gibt für uns dann keinen Grund, uns in der Sicherheitszone aufzuhalten. Im Laufe dieser Arbeit würden wir eine Zusammenarbeit mit europäischen Strukturen und der OSZE nur begrüßen.

Roth: Angesichts der Krise, die es aktuell sicherlich gibt, in den Beziehungen zu den USA, zur EU: Welchen Beitrag können sie leisten, um diese Krise zu deeskalieren?

Putin: Erstens, ich habe darüber gestern mit ihren Kollegen von CNN gesprochen. Mir scheint es so, dass in einem hohen Maße diese Krise unter anderem durch unsere amerikanischen Freunde im Rahmen des Wahlkampfes dort provoziert worden ist. Das ist natürlich eine Nutzung der administrativen Ressourcen in ihrer bedauernswertesten Form, um den Vorsprung eines der Kandidaten zu gewährleisten. In diesem Fall des Kandidaten der regierenden Partei.

Roth: Haben sie Fakten, die das belegen?

Putin: Wir haben eine Analyse der Situation. Wir wissen, dass sich in Georgien viele amerikanische Militärberater aufhielten. Es ist sehr schlecht eine Seite eines ethnischen Konflikts zu bewaffnen und sie danach dazu anzustiften, diese ethnischen Proleme mit Waffengewalt zu lösen. Das ist, wie es scheint, einfacher als langjährige Verhandlungen zu führen und nach Kompromissen zu suchen. Jedoch ist das ein gefährlicher Weg. Die Entwicklungen der letzten Wochen haben das bestätigt. Die Instruktoren, Lehrer im weitesten Sinne des Wortes, Personal, das mit Ausbildung der Truppe beschäftigt ist. Wo muss sich dieses Personal aufhalten? Auf Übungsgelände, in den Kasernen und in den Lehreinrichtungen, und wo waren sie? In der Konfliktzone. Alleine das legt die Vermutung nahe, dass die US-Administration über die Vorbereitung der Militäroperation informiert war und mehr noch, wahrscheinlich an dieser Operation teil nahm. Ohne den Befehl von der höchsten Stelle hatten US-amerikanische Bürger kein Recht, sich in der Konfliktzone aufzuhalten. In der Sicherheitszone durften sich nur die Einwohner, die Beobachter der OSZE und die Friedenstruppen befinden. Wir haben jedoch dort Spuren von US-Bürgern gefunden, die weder zur ersten, noch zur zweiten oder zur dritten Kategorie gehörten. Das ist schon eine Frage. Warum die Führungsriege der USA den Aufenthalt der US-Bürger dort erlaubt hat, vor allem, da diese US-Bürger kein Recht hatten sich in der Sicherheitszone aufzuhalten? Wenn sie dies jedoch erlaubt hat, dann entsteht bei mir der Verdacht, dass es dem Zweck dienen sollte, einen kleinen, siegreichen Krieg zu inszenieren. Und wenn das nicht klappen sollte – dann aus Russland ein Feindbild zu basteln um auf dieser Grundlage eine Mobilisierung der Wähler um einen der Präsidentschaftskandidaten zu erreichen. Natürlich des Kandidaten der Regierungspartei, weil über solche Ressourcen nur die Regierungspartei verfügen kann. Das sind meine Überlegungen und Annahmen. Das ist ihre Sache – dem zuzustimmen oder auch nicht. Aber diese Überlegungen haben ihre Daseinsberechtigung, weil wir in der Konfliktzone Spuren der Anwesenheit von US-Staatsangehörigen entdeckt haben.

Roth: Dann die letzte Frage, die ich ihnen gerne stellen würde und die mich selbst sehr interessiert. Sind sie nicht der Meinung, dass sie persönlich sich in der Falle eines autoritären Staates befinden? In dem jetzt existierenden System bekommen sie die Informationen von ihren Geheimdiensten, sie bekommen Informationen aus verschiedenen Quellen, unter anderem von höchsten Ebenen der Wirtschaft. Aber sogar die Massenmedien haben manchmal Angst etwas zu sagen, was dem widerspricht, was sie hören wollen. Ist es nicht vielleicht so, dass das von ihnen aufgebaute System ihnen den Blick versperrt, wirklich die Prozesse zu sehen, die heute in Europa, in anderen Ländern stattfinden?

Putin: Sehr geehrter Herr Roth. Sie haben unser politisches System als ein autoritäres charakterisiert. Sie haben im Verlaufe unserer heutigen Diskussion mehrmals auf gemeinsame Werte hingewiesen. Wo und was sind diese Werte?

Es gibt grundlegende Prinzipien. Zum Beispiel das Recht auf Leben. Es gibt in den USA die Todesstrafe, bei uns in Russland gibt es das nicht, auch bei euch in Europa gibt es keine Todesstrafe. Heißt das, dass sie vorhaben beispielsweise die NATO zu verlassen, weil es keine vollkommene Übereinstimmung der Werte in den USA und Europa gibt? Nehmen wir jetzt diesen Konflikt, den wir gerade besprochen haben. Ist ihnen etwa nicht bekannt was in Georgien in den letzten Jahren passierte? Der mysteriöse Tod des Ministers Tschwania. Die Unterdrückung der Opposition. Die gewaltsame Auflösung der oppositionellen Demonstration im November letzten Jahres. Die Durchführung der nationalen Wahlen praktisch unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes. Dann diese verbrecherische Aktion in Ossetien mit mehreren Toten. Und dennoch ist es natürlich ein demokratisches Land, mit dem man einen Dialog führen muss und es in die NATO, vielleicht auch in die EU aufnehmen muss. Und wenn ein anderes Land seine Interessen schützt – einfach das Recht seiner Bürger auf Leben, Bürger die angegriffen worden sind. Bei uns sind achtzig Menschen sofort nach dem Angriff getötet worden. 2000 Zivilisten sind dort tot. Und wir haben kein Recht das Leben unserer Bürger zu schützen? Und wenn wir unser Leben schützen, dann nimmt man uns die Wurst weg? Haben wir die Wahl – zwischen der Wurst und dem Leben? Wir wählen das Leben, Herr Roth.

Jetzt zu einem anderen Gut – der Pressefreiheit. Sehen sie sich an, wie diese Ereignisse in den Medien der USA, die zu den Leuchtfeuern der Demokratie gehören und auch in Europa dargestellt werden. Ich war in Peking, als dieser Konflikt entfacht wurde. Es begann schon der massive Beschuss von Zchinwali, es gab schon Bodenoperationen der georgischen Truppen, viele Opfer – und niemand hat etwas von den Vorfällen berichtet. Die ARD schwieg und auch alle amerikanischen Sender schwiegen als wäre nichts passiert – Stille. Kaum hatten wir den Aggressor zurückgedrängt, ihm die Zähne ausgeschlagen, kaum hatte er seine amerikanische Bewaffnung fallen gelassen und ist überstürzt geflüchtet – haben alle sich sofort an internationales Recht und an aggressives Russland erinnert. Alle hatten sofort ein Gesprächsthema.

Jetzt noch einmal zu der Wurst, der Wirtschaft. Wir wollen normale wirtschaftliche Beziehungen zu allen unseren Partnern. Wir sind ein sehr zuverlässiger Partner. Wir haben immer unsere Verpflichtungen erfüllt. Als wir das Pipelinesystem in die Bundesrepublik Anfang der 60er gebaut haben, haben auch damals unsere Partner jenseits des Atlantiks den Deutschen geraten diesem Projekt nicht zuzustimmen. Sie müssten das wissen. Doch damals hat die Führung Westdeutschlands eine richtige Entscheidung getroffen und dieses System wurde zusammen mit der UdSSR gebaut. Heute ist es eine der zuverlässigsten Quellen der Energieversorgung Deutschlands. 40 Milliarden Kubikmeter Gas bekommt Deutschland jährlich. Im letzten Jahr und in diesem Jahr auch. Wir garantieren das. Lassen sie uns die Sache globaler sehen. Wie sieht unser Export in die europäischen Länder und auch in die USA aus? Zu mehr als 80% sind das Ressourcen – Öl, Gas, Holz, Metalle und Dünger. Das ist alles, was von der Weltwirtschaft und auch von der europäischen Wirtschaft nachgefragt wird. Das sind alles Dinge, die auf den Weltmärkten sehr gut verkauft werden können.

Wir haben auch Möglichkeiten im Hightech-Bereich. Doch sind diese Möglichkeiten bisher sehr begrenzt. Und trotz der Vereinbarungen mit der EU, sagen wir mal im Bereich der Kernenergie und der entsprechenden Brennstoffe, wird der europäische Markt unrechtmäßig vor uns verschlossen. Übrigens aufgrund der Haltung unserer französischer Freunde. Aber sie wissen davon, wir haben lange mit ihnen darüber diskutiert.

Aber wenn jemand diese Beziehungen zerstören möchte, können wir nichts dagegen tun. Wir wollen das nicht. Wir hoffen sehr darauf, dass unsere Partner weiterhin ihre Verpflichtungen so erfüllen werden, wie wir unsere Verpflichtungen erfüllt haben und in Zukunft erfüllen werden. Das ist das, was unseren Export betrifft. Was jedoch ihren Export angeht, also für uns Import ist, so ist Russland ein großer und zuverlässiger Markt. Ich weiß jetzt nicht genau die Zahlen, aber die Importe beispielsweise der deutschen Maschinenbauprodukte nehmen von Jahr zu Jahr zu. Diese Zahlen sind heute einfach sehr groß. Wenn jemand an uns nichts mehr verkaufen will? Dann werden wir diese Produkte woanders besorgen. Wer profitiert davon? Ich weiß es nicht.

Wir wollen eine objektive Analyse der Situation. Wir hoffen, dass der gesunde Menschenverstand und die Gerechtigkeit siegen werden. Wir sind ein Opfer der Aggression. Wir hoffen auf die Unterstützung unserer europäischen Partner.

Roth: Herzlichen Dank für dieses Interview Herr Premierminister.

Putin: Vielen Dank.

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