Anti-Impf-Bewegung in Russland

Anti-Impf-Bewegung in Russland

[von Anastasia Petrowa] Gestern endete die Weltimmunisierungswoche, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes Jahr in der letzten Aprilwoche veranstaltet. Sie hat mich inspiriert, eines der umstrittensten Themen der modernen Medizin zu besprechen. Was spricht für die Durchführung von Impfungen? Irren sich die Impfkritiker? Wie sieht die aktuelle Situation in Russland aus?

Die Anti-Impf-Bewegung ist eine soziale Bewegung, die die Wirksamkeit, Sicherheit und Rechtmäßigkeit von Impfungen in Frage stellt. Die Impfkritiker existieren seit dem späten 18. Jahrhundert – dem Beginn der Pockenimpfung. Russland ist hier keine Ausnahme. Impfungen fürchtete man sowohl unter Kaiserin Katharina II (gegen Pocken impfte sie zuerst sich und ihren Sohn und zwang anschließend das gesamte Volk dazu) als auch heute. In Russland sind die bekanntesten und aktivsten Vertreter der Anti-Impf-Bewegung die sowjetische Virologin Galina Cherwonskaya, der Homöopath Alexander Kotok und der Blogger Anton Amantonio, der keine medizinische Ausbildung besitzt. Galina Cherwonskaya nimmt einen besonderen Platz in der Anti-Impf-Bewegung ein. Sie nahm an der Entwicklung der ersten sowjetischen Polio-Impfstoffe teil, äußert sich seit den 80er Jahren öffentlich zum Thema Impfungen und veröffentlicht regelmäßig Artikel und Bücher. Kritisiert wird sie dafür, dass sich bei ihr Fakten und Verschwörungstheorien oftmals vermischen sollen. Cherwonskaya wird auch die massenhafte Ablehnung von Impfungen gegen Diphtherie, die Anfang der 90er Jahre zu einer Epidemie führte, vorgeworfen[1].

Ein wichtiger Bestandteil der modernen Anti-Impf-Bewegung ist die aktive Nutzung des Internets und der sozialen Netzwerke. In Russland spielt vor allem Instagram eine besondere Rolle, da dort jeder Blogger und Scheinexperte seine Sichtweise einem millionenschweren Publikum vermitteln kann. Und für Leser ist es viel einfacher, Informationen aus Instagram zu beziehen, als wissenschaftliche Literatur zu lesen. Durch die Covid-19-Pandemie spitzt sich die Impfdebatte nun zu. Einige Stars und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vertreten in den Medien die Meinung, dass diese Pandemie speziell für eine Massenimpfung und das Chippen der Bevölkerung organisiert wurde, was Teile der Bevölkerung dazu motiviert, sich nicht an die Quarantäne zu halten und gegen das Gesetz zu verstoßen.

Was sind die Argumente der Impfkritiker in Russland (die sich übrigens kaum von den globalen unterscheiden)?

  1. Verschwörung der Pharmaunternehmen: Pharmaunternehmen profitieren finanziell stark davon, Menschen Impfstoffe zu verabreichen. Um den maximalen Profit zu erzielen, arbeiten sie mit der medizinischen Gemeinschaft zusammen. Das Argument ist weit verbreitet: Viele Kritiker der Schulmedizin vertreten diese Meinung, einschließlich Vertreter der AIDS-Leugnung.
  2. Verleugnung der Rolle von Impfungen am allgemeinen Rückgang der Erkrankungshäufigkeit und der Erhöhung der Lebenserwartung. Impfkritiker rechnen dies einer allgemeinen Verbesserung der Lebensqualität an, und sagen, dass die Statistik manipuliert wird. Es ist schwer, mit Menschen zu diskutieren, die die offizielle Statistik ablehnen. Aber ich gebe ein einfaches Beispiel: 1980 betrug der Prozentsatz der gegen Diphtherie geimpften Menschen 20% weltweit und es gab 97 511 Krankheitsfälle, 2018 lag der Prozentsatz bei 90% und es gab 16 651 Fälle (die Weltbevölkerung stieg in der Zwischenzeit um 3 Milliarden)[2].
  3. Verleugnung der Notwendigkeit einer Impfung gegen bereits verschwundene oder weniger häufige Krankheiten. Das Argument ist einfach: Es gibt eine bestimmte Krankheit schon lange nicht mehr, warum sollen wir geimpft werden? Das Gegenargument lautet, dass nur die sogenannte „Herdenimmunität“ uns vor Pocken und Diphtherie bewahren und es bei ausbleibenden Impfungen zu einer Katastrophe kommen könne. Dazu kam es beispielsweise in der ersten Hälfte der neunziger Jahre in Russland. Aufgrund der Massenverweigerung der Impfung in der UdSSR in den 1980er Jahren (1986 war die Impfrate niedriger als 70%) kam es zu einer Diphtherie-Epidemie in Russland: 1994 wurden 40.000 Fälle registriert, mehr als 1.000 Erkrankte starben. Zum Vergleich: In den 1970er Jahren wurden nicht mehr als 50 Fälle pro Jahr registriert[3].
  4. Die Gefahren von Impfstoffen und Komplikationen nach der Impfung. Es wird behauptet, dass die medizinische Statistik reale Daten über Komplikationen nach Impfungen verschleiert und verzerrt. WHO-Experten stellen fest, dass das Problem der Sicherheit neuer Impfstoffe verständliche öffentliche Sorgen auslöst, weil beispielsweise in den 1950er Jahren 220.000 Kinder mit impfstoffbedingter Polio infiziert wurden. In Russland setzt die Sängerin Julia Samoilowa (Teilnehmerin von Eurovision 2017-2018) ein markantes Beispiel. Ihre von den Medien verbreiteten Worte, dass sie aufgrund einer Impfung behindert wurde, lösten eine Welle von Impfverweigerungen aus. Hier ist nach Ansicht von Impfbefürwortern eine Aufklärung darüber erforderlich, dass moderne Impfstoffe sicherer seien und die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen äußerst gering. Die WHO erklärt: „Schwere oder langfristige Nebenwirkungen sind äußerst selten. Die Wahrscheinlichkeit, eine schwere Nebenwirkung bei der Impfung zu bekommen, beträgt 1 zu einer Million“[4].
  5. Verletzung der Menschenrechte: In Russland behaupten Impfkritiker, die Impfung ist „universell“, „erzwungen“ und „obligatorisch“, obwohl das Gesetz zur Prävention von Infektionskrankheiten das Recht vorsieht, die Impfung abzulehnen[5].

Laut Experten der WHO werden die meisten Argumente der Anti-Impf-Bewegung durch wissenschaftliche Daten nicht gestützt. Die Organisation erklärte die Skepsis gegenüber Impfungen als eine der zehn größten Bedrohungen für die Gesundheit der Weltbevölkerung im Jahr 2019[6].

Ich sage euch jedoch ehrlich, dass die Popularisierung der Impfung in Russland unbemerkt bleibt. Über die Weltimmunisierungswoche habe ich als jemand, der im medizinischen Bereich arbeitet und dementsprechend viele Informationsquellen zu diesem Thema liest, nur von einem einzigen Arzt gehört. Es gab kaum Werbung, obwohl auf der WHO-Website alles einfach und zugänglich beschrieben ist. Ihr könnt euch selbst davon überzeugen: https://www.who.int/news-room/campaigns/world-immunization-week/world-immunization-week-2020

Die russischen Behörden sagen im Allgemeinen nicht viel zu diesem Problem. Jedes Jahr findet eine Impfkampagne gegen die Influenza statt, über deren Ergebnisse keine ausreichende Statistik vorliegt. Aktuelle Statistiken zu Routineimpfungen oder Information über die Vorteile von Impfungen gibt es auf der Website von der russischen Gesundheitsministeriums nicht. Routineimpfprogramme werden hauptsächlich in den Morgenshows zu medizinischen Themen popularisiert. Junge, berufstätige Eltern schauen diese Programme kaum an, sie surfen vor allem bei Instagram, wo Blogger Beiträge über die Gefahren von Impfstoffen veröffentlichen können.

Dieser Bereich ist demnach gesetzlich fast nicht geregelt. Die Impfung ist eine freiwillige Angelegenheit. Der Besuch von Kindergärten, Schulen und medizinischen Einrichtungen ohne Impfung ist praktisch uneingeschränkt möglich (mit Ausnahme von Infektionsausbrüchen, wenn nicht geimpfte Kinder keine Kindergärten besuchen können). Und erst nach der Masernepidemie 2018-2019, die in ganz Europa und einschließlich Russland stattfand, begann das Gesundheitsministerium an einem Gesetz zu arbeiten, das öffentliche Anti-Impf-Aufrufe verbietet[7]. Dieses wurde jedoch noch nicht verabschiedet.

Trotz alledem ist die Impfrate in Russland laut der WHO recht hoch: 2018 wurden 95% der Bevölkerung gegen Tuberkulose (BCG-Impfstoff), 97% – gegen Diphtherie, Pertussis und Tetanus (DTP), 97% – gegen Hepatitis B und 96% – gegen Poliomyelitis geimpft[8]. Deshalb ist die Situation trotz lokaler Masern und Keuchhustenausbrüche (registriert in Woronesch und St. Petersburg 2019[9]) nicht dramatisch. Es ist jedoch wichtig, das Thema nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Impfkritiker verfolgen vor allem das Ziel, die Gesundheit ihrer Kinder zu schützen. Die Anti-Impf-Bewegung ist das Ergebnis von allgemeinem Misstrauen der Medizin gegenüber. Wenn eine Person der Medizin vertraut, lässt sie sich impfen. Deshalb ist es sehr wichtig, die Bevölkerung aufzuklären, wahrheitsgetreue Information zugänglich zu vermitteln, und einander nicht zu beschuldigen. Wenn Menschen nicht nur von Nutzern sozialer Netzwerke mit entgegengesetzter Sichtweise, sondern auch von Ärzten buchstäblich angegriffen werden, verursacht dies nur Widerstand und den Wunsch, allen ihre eigene Wahrheit zu beweisen.

Quellen:

[1] https://medialeaks.ru/2202anl-antiprivivochniki/

[2] https://www.who.int/immunization/monitoring_surveillance/data/gs_gloprofile.pdf?ua=1

[3] https://ria.ru/20190629/1556016239.html

[4] https://www.who.int/ru/news-room/q-a-detail/q-a-on-vaccines

[5] http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_20315/dbd366e6b73b89cee917037eaf4c082dc7907f6a/

[6] http://web.archive.org/web/20190419101223/https://www.who.int/ru/emergencies/ten-threats-to-global-health-in-2019

[7] https://tass.ru/obschestvo/5766153

[8] https://apps.who.int/immunization_monitoring/globalsummary/timeseries/tscoveragebcg.html

[9] https://www.fontanka.ru/2020/03/10/69022516/

[Anastasia Petrowa/russland.NEWS]

Foto: Armin Kübelbeck, Creative Commons 3.0 via Wikimedia Commons, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en

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