Altes Neues vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 9. Der bedauernswerte Reisende

Altes Neues vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 9. Der bedauernswerte Reisende

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themenbereiche Politik, Gesellschaft, Wirtschaft  Russland Enthaltene Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, St. Petersburg, Reisebericht, Stadtbeschreibung,

Es war gegen Mittag, als ich etwas einer Kibitke Ähnliches in der Ferne erblickte. Ich verdoppelte meine Schritte, und herangekommen, sah ich ein sehr jämmerliches Fuhrwerk: ein Pferd, so mager, dass man ihm, während es sich wie die Schnecke im Sande vorwärts bewegte, die Rippen im Leibe hätte zählen können, zog die Kibitke, deren Räder und ganzer Bau in solchem Zustande waren, dass man mit jedem Augenblicke den Zusammensturz dieses baufälligen Fuhrwerks erwarten konnte. Ein Mann, etwa dreißig Jahre mochte er gezählt haben, ein Tuch sorgsam um die Ohren gebunden, ein Frauenzimmer, das etwas älter war, und ein Mädchen von ungefähr zwölf Jahren, saßen in der Kibitke, welche, wie gesagt, von der ausgehungerten Mähre kaum fortgezogen werden konnte. Alle drei machten sehr saure Mienen. Neben der Kibitke ging ein Mann, auf deutsche Art gekleidet, der wohl schon so ziemlich über den Stillstand des menschlichen Lebens hinaus war, und der einen zehnjährigen Knaben an der Hand führte. Ich sah diesen Mann anfangs für einen Schneider an, der in der prachtvollen Residenzstadt St. Petersburg, wo alles Luxuriöse, das man sich nur denken kann, im Schwange ist, wohl aus der Mode gekommen sein mochte, und sich deswegen sein Brot in irgend einer Gouvernementsstadt des russischen Reiches suchen wollte.

„Wo geht die Reise hin?“ fragte ich ihn.

„Ach, du gerechter Gott! nach Orell soll sie gehen!“ rief er schmerzlich aus.

„Da haben wir ja ziemlich einen Weg“, sagte ich, „ich gehe nach Kiew!“

„Nach Kiew?“ staunte er, und sah mich mit etwas großen Augen an, „doch nicht in diesem Zustande? . . . Sie haben ja einen spahnneuen feinen Frack an und einen Hut nach der neuesten Mode; und das Pfefferröhrchen, das ist ja ein Spazierstöckchen und kein Reisestab auf einer so großen Reise!“

„Nun, wie Sie es haben wollen; wenn Sie meinen, dass ich in solchem Zustande nicht nach Kiew reisen könnte, so denke ich dahin zu spazieren“, sagte ich lächelnd.

„Ein schöner Spaziergang!“ rief er aus. „Wollen Sie etwa den Seume nachahmen? da haben Sie keine günstige Zeit und auch das Land nicht gewählt, wo man sich ein so sonderliches Vergnügen machen sollte. Hier in Russland müssen Sie viele Meilen weit gehen, ehe Sie ein Dorf antreffen, und was finden Sie da jetzt in der Fastenzeit? – Wasser, Brot, Kartoffeln, Grütze, Schnaps; freilich sind das Mittel, die Einen gerade nicht verhungern lassen, aber man will doch auch zuweilen eine kräftige Nahrung genießen, wenn man auf einem so großen Spaziergange begriffen ist. Allerdings kommen Sie auch durch Städte, wo Sie sich solche bereiten lassen können; allein Russland ist das Land nicht, wo man sich ein Vergnügen mit solchem Spazierengehen machen könnte, und daher glaube ich, dass demselben eine andere Ursache zum Grunde liegen muss, als bloße Sonderlichkeit.“

„Sie irren sich nicht, mein Lieber“, sagte ich, „mein Spazierengehen ist eine Folge seltsamer Umstände, dich mich von meiner Reisegesellschaft und meinen übrigen Habseligkeiten trennten, ohne dass ich gegenwärtig weiß, wo sie sich befinden“.

Jetzt erzählte ich dem Manne Alles, was mir seit den fünf Tagen begegnet war.

„Ach, du mein gerechter Himmel!“ rief er aus,“ da vergesse ich ja einen Augenblick meine Lage, die so traurig ist, dass sich ein Stein erbarmen möchte! Mich ließ man auch nicht nach Zarskoje Seló, wodurch wir alle Sechs in die drückendste Not versetzt wurden.“

„Aber wo ist denn der sechste“, fragte ich, „da ich nur fünf Personen erblickte. Rechnen Sie denn das Pferd nicht mit? das verlangt mehr als wir alle fünf!“ bemerkte er.

„Ja so!… Es waren also höchst dringende Geschäfte, die Sie in Zarskoje Seló hätten verrichten sollen?“ fragte ich.

„Ja, höchst notwendige Geschäfte!“ versetzte er. „Wenn es Ihnen nicht lästig fallen möchte, würde ich Ihnen den traurigen Gang meines Schicksals erzählen?“

„Erzählen Sie, armer Mann“, sagte ich, „ich werde es mit Teilnahme anhören.“

„Zuvor“ hub er also an, „muss ich Ihnen bemerken, wie Sie auch wohl wissen, dass es Künstler und Handwerker gibt, bei welchen das junge Volk dem alten vorgezogen wird…. Sie verstehen wohl? – und in dem Grade, wie die Modesucht herrschender wird, wird auch unser Einer von den jungen Zierlingen immer mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt! und so ging es auch mit mir. Ich habe allerdings schöne Zeiten in St. Petersburg verlebt, die ich unendlich besser hätte benutzen können, als ich es tat! Was war in der Residenz an der Newa für eine goldene Zeit, als der unvergessliche Krieg mit den Franzosen gewonnen und geendigt war! Es war in der Tat ein pomphaftes Schauspiel, das in der wunderbaren Stadt wohl schwerlich wieder aufgeführt wird! Kauf-, und Handelsleute, Gelehrte, Künstler, Handwerker und Tagelöhner aller Art, kurzum! ein Jeder, der nur arbeiten wollte, ganz besonders aber der Ausländer, hatte die Hülle und die Fülle zu tun. Und mit welchem ungeheuren Preise wurde die Arbeit bezahlt! Dem Künstler fehlten Gehilfen, und dem Handwerker Gesellen; sehr oft aber wurde Arbeit bestellt, die schnell fertig gemacht werden sollte, es möge kosten, was es wolle, und da gab man, ich übertreibe die Sache nicht, zu hundert Rubel (Kupfer oder Assignaten 5 Pf. Sterling) Trinkgeld den Gesellen, dass sie nur arbeiten möchten. Außerdem war derselben Gehalt unerhört groß. Welchen Vorteil die Meister gehabt haben mögen, lässt sich leicht denken! Viele haben die Zeit besser benutzt als ich, und sitzen nun da, wie der Vogel im Hanfsamen, sie leben auf eine glänzende Art von ihren Renten. Ja, es wurden Viele meines Standes so reich, dass sie vor lauter Übermut nicht wussten, was sie mit ihrem Gelde anfangen sollten; sie gingen nach Deutschland und kauften sich den Baron-Titel. Ich hatte also auch damals, indem ich schon etabliert war, recht viele und vorteilhafte Beschäftigungen und keine Familie. Freilich fehlte mir eine gute Hausfrau, ohne welche es in einer so geschäftigen Zeit nicht recht geht. Überdies, ich muss es, wenn auch nicht zu meinem Lobe, bekennen, dass ich durch die Sucht, Bücher zu lesen und zu studieren, mein Fach gänzlich vernachlässigt habe. Statt meinen Wirkungskreis, den mir Gott angewiesen hat, zu erweitern, habe ich die erforderlichen Mittel dazu und meine Zeit auf Bücherkaufen und Lesen verwendet. Allerdings schafft sich ein Geist, der Geschmack für das Schöne und Gelehrte hat, einen Genuss dadurch, der des materiellen Vorteils mehr als wert ist. Aber die Erfahrung lehrt auch, dass ein solcher Genuss am Ende Folgen hat, die auf unsere spätere Existenz einen höchst schlimmen Einfluss ausüben. Wenn man bedenkt, dass Gelehrte, deren Profession es ist, Bücher zu schreiben, während ihrer Arbeit fast verhungern, was soll dann aus dem Laien werden, der durch Schreiben und Studieren noch obendrein seinen Wirkungskreis vernachlässigt! Ich habe dies leider allzu früh erfahren müssen! Ich heiratete und bekam bald zahlreiche Familie, welche, wie die Kinder heranwuchsen, mir immer mehr und mehr kostete. Aus allen Teilen Europas strömten die Ausländer nach dem gesegneten St. Petersburg. Alles, Alles hat sein Ziel! Die Vögel waren schon fast ausgeflogen, und die Ausländer strömten desto zahlreicher herbei, gar nicht bedenkend, dass sie doch endlich flügge werden und dann!… Auf diese Weise wurde ich wie auch Andere meines Faches und Alters, immer mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, wir waren am Ende des pompösen Schauspiels nichts weiter, als Statisten, und waren sogar froh, dass wir noch solche Rollen spielen konnten. Unterdessen wurde ich immer älter und verlor immer mehr und mehr an der Gunst und dem Zutrauen meiner Gönner, denn ein Jeder richtet sich gerne nach der Mode, und alte Burschen, die Geld haben, wenden oft Alles an, um die Mode mitzumachen, um als junge Stutzer zu passieren! Und hierin liegt eben das schlimme Ding, das einen Alternden unseres Faches quält und herunter bringt! Der Mensch hofft immer; aber von Jahr zu Jahr ward’s mit meinen Umständen schlimmer. Nach dem Rate meiner Bekannten, entschloss ich mich seit lange, St. Petersburg zu verlassen und meine fernere Existenz in irgend einer andern Stadt des Reiches zu suchen, da es in den Gouvernements-Städten Russlands noch immer an guten Meistern aller Art mangelt. Ist man aber einmal in einer schlimmen Lage, so hält es mit dem Fortreisen gewaltig schwer, zumal, wenn man zahlreiche Familie hat. Man hat Schulden, und obendrein kein Geld zum Reisen! kein Fuhrwerk oder keine Mittel eins zu mieten. Erspart man sich Etwas, oder wird man durch einen günstigen Zufall in den Stand gesetzt, sich das Eine anzuschaffen, so fehlt es doch am Andern, ohne das man nicht reisen kann. Kurzum, es verging manches Jahr, ohne dass ich einen einzigen Schritt hätte tun können, meinem vorgesteckten Ziele näher zu treten. Endlich wurde ich, nachdem ich meine Schulden so ziemlich gedeckt hatte, in den Stand gesetzt, dieses Pferd samt der Kibitke für 50 Rubel B. Assg. oder 2 Pf. Sterling, zu kaufen, (armer Mann, dachte ich, das Pferd sieht auch nach 50 Rubel B. Assg. aus); nun blieb mir aber kein Groschen Geld übrig; man muss doch auch Zehrgeld haben! Das Pferd war gekauft, und dass ich es nicht wieder verkaufen wollte, lässt sich leicht denken. Der Hafer ist aber in St. Petersburg zu jeder Zeit schrecklich teuer, dessen ungeachtet musste das Pferd tagtäglich gefüttert werden, und wie noch gefüttert, da es so ganz und gar ausgehungert war. So hatte ich also wieder meine liebe Not mit dem Pferde!! Auf einmal, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, zu meinem Glücke oder Unglücke, wurden bei meiner Frau zwei Damenhüte für 50 Rubel bestellt. Ich muss Ihnen bemerken, dass meine Frau solche Produkte mit vielem Geschmacke zu verfertigen versteht. „Das hat uns der liebe Gott beschert“, rief sie freudig aus, „die Materialien für zwei Hüte, so wie man sie wünscht, habe ich vorrätig, ein Pferd mit der Kibitke haben wir auch, folglich können die 50 Rubel Reisegeld bleiben!“ Kaum waren die Hüte fertig, ließ ich auch sogleich einen Pass für uns ausfertigen. Die Herrschaft, die sie bestellt hatte, wohnt in Zarskoje Seló. Der Pass nach Orel war ausgefertigt, und in der Hoffnung, 50 Rubel für die Hüte als Reisegeld zu erhalten, fuhren wir aus St. Petersburg; zu unserem größten Jammer aber ließ man uns nicht nach Zarskoje Seló. So haben wir nun die beiden Hüte bei uns; aber wir haben keinen Groschen Geld. Gestern Abend fand meine Frau zu unser Aller Freude einen Rubel Kupfer (oder B. Assg) in ihrem Ridikule, von dem fiel gar nichts wusste, dass sie ihn hatte. Nun kehrten wir ein; ich verlangte für 60 Kopeke Hafer und Heu fürs Pferd und für 40 Kopeke Milch und Brot für uns. Am andern Morgen, nämlich heute in aller Frühe, verlangte der Wirt aber einen Rubel und sechzig Kopeken, weil das Pferd mehr Futter und wir mehr Essen, als wir begehrt, erhalten hätten. Lieber Freund, sagte ich zum Wirt, durchsuche alle unsere Taschen und auch unsere Kiste, stülpe die Kibitke um, und um! und findest du einen einzigen Groschen, so soll sie samt dem Pferde dein sein. Aus dieser Versicherung wurde es dem Burschen begreiflich, dass es ziemlich schlecht um unsere Finanzen bestellt sein müsse. Fahrt mit Gott! sagte er. Nun haben wir noch über 1.000 Werst zu machen und haben keinen Groschen Geld.“ –

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–9-Der-bedauernswerte-Reisende

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