„Alles ist nicht so gut und nicht so schlecht, wie es scheint“ – Zukunftsforscher über die Corona-Pandemie

„Alles ist nicht so gut und nicht so schlecht, wie es scheint“ – Zukunftsforscher über die Corona-Pandemie

Sergej Pereslegin, Soziologe und Publizist, ist ein sehr renommierter russischer Zukunftsforscher. russland.NEWS sprach mit ihm über die Folgen des Coronavirus für die Welt.

Sergej Borisowitsch, alle wiederholen denselben Satz, der bereits zum Klischee geworden ist: „Nach dem Coronavirus wird die Welt nicht mehr dieselbe sein wie vorher“! Das gleiche hat man allerdings auch nach dem 11. September 2001 gesagt …

Sergej Pereslegin: Und die Welt hat sich nach Nine-Eleven wirklich sehr verändert. Erstens erschien die Vogelscheuche des Weltterrorismus (dabei gab es den internationalen Terrorismus schon immer), und unter dem Zeichen des Kampfes gegen den Terrorismus gab es zwei Kriege – in Afghanistan und im Irak. Zweitens, was das Leben eines jeden von uns betrifft, so müssen wir jetzt viel strengere Kontrollen auf den Flughäfen durchlaufen. Die Veränderungen waren also erheblich, wir haben uns nur schnell daran gewöhnt. Und was jetzt geschieht, ist eine noch größere Veränderung der Welt. Für die USA, die stärkste Macht der Welt, wird die Coronavirus-Epidemie mit einem vollständigen Wechsel des Wirtschaftsmodells und einer sechsten technologischen Ordnung enden: der Roboterproduktion, enorme Arbeitslosigkeit, und völlig neuen Modellen der Regierungs- und Kriegsführung. Nun zu Europa. Alles in allem wurde die EU seit fast 200 Jahren lang aufgebaut, damit Europa eine Einheit erreichen konnte, die es seit dem Römischen Reich nicht mehr hatte. Die EU war stolz auf ihre vier Freiheiten: Freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Alle Entscheidungen in der EU wurden erst nach Erreichen eines Konsenses getroffen. Und plötzlich stellte sich heraus, dass diese größten Errungenschaften an einem Tag in Vergessenheit gerieten und durch die Entscheidung nur von wenigen Politikern zunichte gemacht wurden. Das Problem ist also, dass die Vorstellungen der Menschen von Freiheit zerfallen. Die Frage wurde wie folgt gestellt: Was ist wichtiger, die persönliche Freiheit oder vielmehr die bedingte Sicherheit? Und die Menschen haben sich für die Sicherheit entschieden. Dies ist der Übergang, nach dem die Welt nicht mehr dieselbe sein kann.

Es gibt jedoch die Meinung, dass wir den Weg der Humanisierung eingeschlagen haben, um alte Menschen zu retten, und dafür wurde eben die Freiheit geopfert. Von militärischen Konflikten in Syrien oder im Donbass ist nichts mehr zu hören …

Sergej Pereslegin: Die Konflikte sind nicht verschwunden, sie sind einfach nicht mehr medienrelevant. Was die Rettung von Menschenleben betrifft, ist die Freiheit des Geistes, des Glaubens, der Familie und der Liebe nicht wertvoller? Ich denke, es ist eine seltsame Humanisierung. Zum Beispiel gibt es in Moskau wegen des Kampfes gegen das Coronavirus ein System der Kontrolle der Bürger, auf das jeder Diktator neidisch ist. Und morgen werden sie uns sagen, dass es zur Bekämpfung des Terrorismus gebraucht wird. „Drachen“ wie dieser werden immer für noble Zwecke geschaffen. Ganz davon abgesehen, dass über die Gefahr des Coronavirus diskutiert werden kann, denn die Zahl der Todesfälle auf der Welt wird wahrscheinlich etwa 1,3 Millionen erreichen. Unsere Krankenhäuser für Infektionskrankheiten sind halb leer und warten auf die Ankunft von Coronavirus-Patienten. Dabei nehmen sie überhaupt keine Menschen zu geplanten Operationen auf. Zählen Sie also, wie viele Menschen bei diesem Prozess sterben werden. Darüber hinaus wird ein katastrophaler Rückgang des BIP auch Menschenleben kosten: Der Lebensstandard sinkt, das Niveau der Medizin sinkt, und die Selbstmordrate steigt.

Reden wir über ein Worst-Case-Szenario. Werden aufgrund der anhaltenden erzwungenen Isolation echte Revolten ausbrechen?

Sergej Pereslegin: Dieser Aspekt beunruhigt mich am meisten. Obwohl wir Gottes Geschöpfe sind, sind wir auch große Primaten. Und große Affen reagieren auf Isolation mit schwerem Stress. Mehr als zwei Milliarden Menschen sind heute „in Haft“, was zu Neurosen und dann zu Psychosen führen kann. All dies erinnert uns an das berühmte Stanford-Prison-Experiment, allerdings nicht mit einer kleinen Gruppe amerikanischer Studenten, sondern mit Milliarden von Menschen. Der Hass wird sehr stark wachsen, nicht gegen die Behörden, sondern gegen diejenigen, die Ihnen beispielsweise eine Geldstrafe auferlegen, weil Sie das Haus verlassen haben. Im Mittelalter gab es zwar Quarantänen, aber nicht in diesem Umfang. Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das in der Geschichte der Menschheit keine Parallele hat. Und gerade, weil wir keine Erfahrung haben, wissen wir nicht, ob so etwas passieren wird. Oder vielleicht ist die Massenpsychose nicht das Schlimmste, was uns erwartet. Weil sich eine Psychose zu einem richtigen Wahnsinn entwickeln kann. Und noch eine Tatsache, über die man nachdenken sollte: In einigen Ländern ist die Saatkampagne bereits gestört, und die UNO hat vor einer Hungerkatastrophe gewarnt. Es könnte also auch zu Hungerrevolten kommen.

Lassen Sie uns über die technologischen Folgen der Epidemie sprechen. Pizza bestellen, im Homeoffice arbeiten, Geld überweisen, Lebensmittel kaufen, sogar für die Schule lernen – all dies geht, ohne das Haus zu verlassen. Die Menschheit, die den technologischen Fortschritt entwickelt, treibt sich aber damit selbst in die Einsamkeit?

Sergej Pereslegin: Die Antwort hier ist sehr einfach: Ja. Und eine solche Gesellschaft wurde bereits 1956 vom Science-Fiction-Autor Isaac Asimov in seinem Roman „Die nackte Sonne“ beschrieben: Alle Menschen leben allein, begleitet von einer großen Anzahl von Robotern. Aber ich muss Sie enttäuschen, bei weitem nicht alles kann online erledigt werden. Zum Beispiel führe ich derzeit Online-Seminare durch, aber die Effizienz von ihnen ist viel geringer. Es gibt eine Meinung, dass, wenn Menschen sich nahe sind, eine andere Art von Kontakt zwischen ihnen entsteht – es gibt etwas, das nicht über den Bildschirm übertragen werden kann. Dies betrifft vor allem das Erkennen und Verstehen von komplexen, heterogenen, unbestimmten und nicht-sichtbaren Sachverhalten. Einfache Dinge können auch ohne Internet gelernt werden.

Besteht die Gefahr, dass wir nach dem Ende der Epidemie nicht mehr in den „Offline-Modus“ zurückkehren möchten? Oder brauchen wir noch die Live-Kommunikation?

Sergej Pereslegin: Jetzt ist eine sehr interessante Situation entstanden. Noch vor zwei Monaten war ein Handschlag nichts Besonderes, aber jetzt ist er ein Zeichen völligen Vertrauens. Was vor Jahrhunderten üblich war, ist wieder da: Damals zog der Ritter seinen silbernen Handschuh aus und gab einem anderen Ritter seine Hand, um zu zeigen, dass er keine Waffe in der Hand hatund dass sie Freunde sind. Eine Krise ist ein Katalysator. Die Menschen sind gespalten in diejenigen, die online bleiben, und diejenigen, die sich viel mehr öfters als vor der Krise treffen wollen. Ich bin Christ und glaube an den Menschen als Ebenbild Gottes. Alles ist eigentlich nicht so gut und nicht so schlecht, wie es scheint. Alles ist anders.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

 

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