„Alle Masken und Schafspelze sind abgelegt“: Was Experten und Beobachter zu den Weihnachtsereignissen in Russland sagen

„Alle Masken und Schafspelze sind abgelegt“: Was Experten und Beobachter zu den Weihnachtsereignissen in Russland sagen

Kurz vor russischen Weihnachten wurde der für seine Anti-Kriegs-Äußerungen bekannte Erzpriester Alexei Uminski als Vorsteher der Dreifaltigkeitskirche in Moskau abgesetzt und mit einem Dienstverbot belegt. An seine Stelle wurde Andrej Tkatschew berufen, ein ehemaliger ukrainischer Priester, der die russische Invasion in die Ukraine unterstützt. Wladimir Putin traf sich über die Feiertage in seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo mit Witwen und Kindern von in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten, die wie immer sorgfältig ausgewählt waren.

Die Dreifaltigkeitsikone von Andrei Rubljow (die Ikone gilt als ein Meisterwerk der Ikonenmalerei und die bedeutendste Ikone der russischen Tradition schlechthin), die die russisch-orthodoxe Kirche aus der Tretjakow-Galerie beschlagnahmt und in einer Vitrine ohne ausreichende Klimatisierung aufbewahrt hatte, wurde zu Weihnachten bei minus 20 Grad Außentemperaturen in die Christ-Erlöser-Kathedrale gebracht. Die Kunstexperten sind sich einig, dass der einzig richtige Ort für das Kunstwerk die Tretjakow-Galerie mit ihrer kontrollierten Atmosphäre sei.

Russische Theologen, Politologen, Schriftsteller, Journalisten und andere unabhängige Experten und Beobachter äußerten sich mit Empörung und Besorgnis über diese Ereignisse. Was sie dazu zu sagen haben, fasst das russische Portal für professionellen Journalismus Republic in einem Meinungsspiegel zusammen, aus dem hier Auszüge übernommen sind:

Andrej Kurajew, Theologe:

„Die Idee ist einfach: Im Lärm der Feiertage wird der Schuss weniger zu hören sein, und die Presse ist entweder im Urlaub oder druckt festliche „Essays“. So wurde Alexei Uminski kurz vor Weihnachten nicht nur als Vorsteher einer Kirche entlassen, die er 30 Jahre lang restauriert und eingerichtet hat. Er wird auch mit einem Amtsverbot belegt und, wie es scheint, vor Gericht gestellt (das Dekret wurde noch nicht veröffentlicht).“

Sergej Erschenkow, Journalist:

„Es geht nicht um das Warum, sondern um das Wie. Was zählt, ist die Zeit und der Ort. Heiligabend. Der Patriarch, der alle Masken und Schafspelze abgelegt hat, beschließt, zur Freude der Obskuranten und um uns aufgeklärte Christen zu ärgern, die Liberalen nicht nur zu opfern, sondern offen zu verspotten. An die Stelle der Pazifisten Alexei Uminski setzt er Andrei Tkatschow, der für seine wütenden Kriegspredigten bekannt ist. Das ist Trolling auf dem Niveau von Maria Sacharowa und des russischen Außenministeriums. Wissen Sie, was all diese Leute – der Patriarch, Ex-Priester Wolgin, Ex-Präsident Medwedew und Tkatschjow – gemeinsam haben? Sie sind alle ‚Ex‘, und wie alle Ex sind sie im Krieg mit sich selbst, mit dem Spiegel, der ihre Vergangenheit reflektiert.“

Alexander Archangelski, Schriftsteller und Kulturkritiker:

„Der geliebte Vater Alexei Uminski wurde seines Amtes als Kirchenvorsteher enthoben und mit einem Dienstverbot belegt, was an sich schon für viele Menschen schmerzlich ist. Aber diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben, haben versucht, den Schmerz noch zu verstärken. Sie legten den Zeitpunkt auf Weihnachten, um die Feiertage zu verderben, und ersetzten ihn durch Vater Alexander Tkatschow, der mit der Gemeinde nicht kompatibel ist. Die Frage, ob ideologischer Sadismus mit der Verkündigung Christi vereinbar ist, ist rhetorisch. Die Dämonen winden sich“.

Wladimir Pastuchow, Politologe:

 „Mit solchen „coolen“ Entscheidungen sägt die Russische Orthodoxe Kirche am Ast, auf dem sie sitzt, nämlich an ihrer konfessionellen Legitimität. Je mehr Kirchendissidenten sie nach außen drängt, desto schneller wird sich in dieser Außenwelt eine kritische Masse von Klerikern bilden, die eine alternative „Freie Orthodoxe Kirche“ gründen werden. Ein neues Schisma ist fast unvermeidlich, und Kyrill wird als der große Schismatiker in die Geschichte der russischen Kirche eingehen. Grundsätzlich wird sich die Gründung einer freien orthodoxen Kirche historisch gesehen sehr positiv auf die Entwicklung des religiösen Lebens in Russland auswirken. In gewissem Sinne kann man diesen Schritt, wie viele andere Schritte Kyrills, sogar begrüßen. Bringt einen Narren dazu, zu Gott zu beten – und er wird endlich dieses hässliche Phänomen zerstören, das eher einer Mischung aus der Propaganda- und Agitationsabteilung des Provinzparteikomitees und der örtlichen Abteilung des Staatssicherheitskomitees ähnelt als einer echten Kirche.“

Viktor Schenderowitsch, Schriftsteller:

„Vater Alexei Uminski ist ‚aus dem Dienst verbannt‘. Einfach entlassen. Einer der wenigen Priester, die meine Achtung und Sympathie für die Orthodoxie erweckten. Hat sich für Gefangene eingesetzt. Gegen den Krieg. Natürlich wird er verbannt, nicht die, die im Namen Christi diesen Massenmord mit ausgelöst haben…“

Leonid Gosman, Politiker:

„Es gibt einen Staat, der sich wie ein Staat des Orthodoxen Glauben positioniert. Und hier sieht man, wie weit er vom Volk entfernt ist, welch schreckliche Kluft zwischen dem Staat und dem Volk besteht. Schauen Sie, am Weihnachtstag bombardieren sie weiter. Sie töten am Weihnachtstag weiter. Und das hält sie nicht davon ab, sich mit einer Kerze hinzustellen und sich zu bekreuzigen. Leute, ihr dürft eine Kathedrale nicht betreten. Ihr müsst vor der Kirchentür niederknien, ihr dürft nicht hinein, nach allen Traditionen. Sie bombardieren weiter und veranstalten diese Farce – Putins Treffen mit den Familien der Toten. Das ist wirklich ein Alptraum. Er organisiert ein Treffen mit den Angehörigen der Menschen, die er getötet hat. Er persönlich hat sie getötet! Wer hat sie umgebracht? Er hat sie umgebracht. Er hat sie zum Sterben geschickt. Und er trifft sich mit ihnen.“

Kirill Martynow, Chefredakteur der Zeitung „Nowaja Gaseta. Europa“

„Putin hat sich mit den Frauen der im Krieg Gefallenen getroffen, um ihnen zu sagen, dass Weihnachten ein ‚gemütliches Familienfest‘ ist. Was hier geschieht, ist ein symbolischer Austausch, der die Bedeutung der so genannten Familienwerte offenbart, in deren Namen Putin regiert. In der Realität werden Familien nach dem Gutdünken des Diktators zerstört, Männer werden getötet, Frauen zu Witwen, Kinder zu Waisen, aber dann bietet Putin sich selbst, seine warme Familienpräsenz, als Ausgleich an. Er verkörpert die „traditionelle russische Familie“, in der er Vater, Ehemann, Bruder und Vaterland zugleich ist. Der Krieg soll dafür sorgen, dass niemand außer Putin Verwandte hat.“

Boris Wischnevsky Politiker:

„Die ‚Dreifaltigkeit‘ von Andrei Rubljow wurde am ersten Weihnachtstag aus dem wissenschaftlichen Grabar-Restaurierungszentrum in die Erlöserkathedrale gebracht. Bei 20 Grad Frost, der den Zustand des Kulturdenkmals weiter zu verschlechtern drohte. Experten und Museumsfachleute waren und sind sich einig, dass die ‚Dreifaltigkeit‘ außerhalb der Mauern der Tretjakow-Galerie in Gefahr ist <…> Dennoch wurde ein Kulturdenkmal von Weltbedeutung gewaltsam von seinem notwendigen Aufbewahrungsort entfernt, und nun behandelt die russisch-orthodoxe Kirche es wie eine legale Beute, mit der man machen kann, was man will. Die Folgen sind absehbar: Der ‚Dreifaltigkeit‘ droht die Zerstörung. Und diese Leute erzählen uns etwas von ’spirituellen Werten‘.“

[hrsg/russland.NEWS]

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