75 Jahre nach Stalingrad – wieder Deutsche an der Wolga

August 1942. In den Dörfern Malaja und Bolschaja Rossoschka, knapp 40 Kilometer vor Stalingrad am Rande der Steppe gelegen, gehen die etwa 2.000 Einwohner, darunter 500 Kinder, ihren Beschäftigungen im Gemüsegarten, im Haus oder beim Spielen nach.

Sie wussten, es war Krieg und viele ihrer Männer und Söhne dienten bereits in der Roten Armee. Aber sie ahnten nicht, dass in wenigen Stunden die Steppe brennen, ihre Häuser zerstört und viele von ihnen nicht mehr am Leben sein würden. Denn im fernen Berlin hatte ein Wahnsinniger am letzten Julitag den Befehl gegeben, mit allen Mitteln Stalingrad einzunehmen, jene Stadt, die den Namen seines Hauptfeindes trug. So setzten sich Hunderte Panzer und Tausende Motorschützen-Fahrzeuge in Bewegung, um den Willen ihres „Führers“ in die Tat umzusetzen. Vor den Rossoschka-Dörfern stellten sich den faschistischen Angreifern mehrere russische Schützendivisionen entgegen, die aber der feindlichen Übermacht nicht gewachsen waren. Bei Rossoschka verloren 30.000 sowjetische Soldaten durch deutsche Kugeln Granaten und Bomben ihr ihr Leben. Am 23. August, so berichteten Augenzeugen, war der Himmel schwarz von Tod bringenden Flugzeugen der faschistischen Luftwaffe. Allein an diesem Tag starben durch ihre Bomben 30.000 Menschen in Wolgograd.

Bei der fast ein halbes Jahr andauernden Stalingrader Schlacht kamen bis zur Kapitulation durch Generalfeldmarschall Friedrich Paulus und seiner 6. Armee am 2. Februar 1943 über eine Million sowjetischer Soldaten und Zivilisten um, rund 150 000 deutsche Soldaten starben in diesem erbarmungslosen Gemetzel, fast 100.000 kamen in Gefangenschaft.

Totenstille über der Steppe

Heute,75 Jahre später, herrscht in der weiten Steppe – dort wo einst die Dörfer Malaja und Bolschaja Rossoschka standen und Traktorenknattern und Kinderlachen zu hören war, später aber Geschützdonner und das Schreien von Verwundeten und Sterbenden –  Totenstille.

Auf einem Gelände von sechs Hektar liegen die Gebeine Zehntausender sowjetischer und deutscher Gefallener auf benachbarten Grabfeldern in Massen- und Einzelgräbern. Der 1999 eingeweihte Friedhof entstand auf der Grundlage einer deutsch-russischen Regierungsvereinbarung unter aktiver Mitwirkung des deutschen Volksbundes der Kriegsgräberfürsorge.

Immer noch finden Suchtrupps sterblichen Überresten von in der Stalingrader Schlacht Gefallenen, die auf dem Soldatenfriedhof ihre letzte Ruhe finden. Seit dem vorletzten Jahr verbindet eine Friedenskapelle – ein Ensemble aus einem west- und einem ostchristlichen Kreuz – beide Grabstätten. Das soll ein Zeichen der Versöhnung sein, sagte der Denkendorfer Arzt Christian Holtz, der die Idee zum Bau der Friedenskapelle hatte.

Sie wurde schließlich vom deutschen Unternehmen Knauf, das seit 25 Jahren in Russland investiert und produziert, finanziert. Für den Bayern war es bereits der 21. Besuch in Wolgograd – er knüpfte Kontakte zwischen Schulen in Denkendorf und Wolgograd, ist Initiator eines Freundschaftsspiels zwischen den Jugend-Nationalmannschaften Russlands und Deutschlands am geschichtsträchtigen 8. Mai in Wolgograd.

Gute Beziehungen zu Russland sichern den Frieden

Auch der deutsche Botschafter Rüdiger von Fritsch war zum 75 Jahrestag des Sieges der Roten Armee über die Wehrmacht nach Wolgograd gekommen und sprach sich dafür aus, dass die aktuellen Probleme in den politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht die historische Schuld überdecken dürfen, die Deutschland mit dem vernichtenden Angriffskrieg auf sich geladen habe und aus der die Verantwortung erwachse, alle Möglichkeiten für die Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland zu nutzen.

Heike Hänsel, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE, die als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien mit einer Delegation nach Wolgograd gekommen war, sagte unter dem Eindruck des Besuches der zentralen Wolgograder Kriegsgedenkstätte auf dem Mamajew-Hügel, dass eine funktionierende Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland ein wichtiger Faktor für die Sicherung des Friedens in Europa sei. Sie forderte eine Aufhebung der antirussischen Sanktionen, unter denen die kleinen und mittleren Industrie- und Landwirtschaftsunternehmen besonders litten, aber auch um eine engere Zusammenarbeit von Parlamentariern beider Länder zu ermöglichen. Sie verwies auf den Antrag ihrer Fraktion zur Beendigung der Sanktionen gegen Russland, der genau am 75. Jahrestag des Endes der Stalingrader Schlacht im Bundestag debattiert wurde.

Die Vertreter der Wolgograder Partnerstädte Chemnitz und Köln würdigten die fruchtbare Zusammenarbeit in der Kommunalpolitik, dem Jugendaustausch sowie zwischen Bildungs- und wissenschaftlichen Einrichtungen.

Der Lord-Mayor von Coventry, Tony Skipper, verwies darauf, dass seine Stadt und das damalige Stalingrad im Jahre 1944 als erste Städte in der Welt überhaupt eine Partnerschaft geschlossen hätten. Aus der damaligen humanitären Hilfe der beiden durch die deutsche Wehrmacht zerstörten Städte sei inzwischen ein reger Austausch von Ideen Wirtschaftsgütern und Besuchern geworden.

Der Oberbürgermeister von Wolgograd, Andrej Kossolapow, freute sich über das große internationale Interesse an diesem für die Stadt so wichtigen Jahrestag: „Ich bin besonders beeindruckt von der großen Zahl deutscher Gäste“, sagte er gegenüber »russland.news«. Das ist für mich ein Zeichen, dass es in Deutschland offenbar viele Menschen gibt, die sich für unsere Land und unsere Stadt interessieren. Wir laden alle ein, sich die historischen Stätten, aber auch das moderne Wolgograd anzusehen und unsere Gastfreundschaft zu genießen. Gegenseitiges Verstehen und Vertrauen sind die beste Voraussetzung dafür, dass sich solche schmerzhaften Zeiten, wie vor 75 Jahren nicht wiederholen.“

[hh/russland.news]

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