75 Jahre nach dem Ende der Leningrader Blockade: Am Ufer des Ladogasees entschied sich das Schicksal der ZarenstadtDie Schlüsselburg © Julian Müller

75 Jahre nach dem Ende der Leningrader Blockade: Am Ufer des Ladogasees entschied sich das Schicksal der Zarenstadt

Als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 in Berlin die Republik ausrief, so waren die Feinde der neuen Ordnung von der ersten Stunde an zahlreich. Von links wurde die Weimarer Republik von jenen bedrängt, welche es den Bolschewiki gleichtun und eine Diktatur der roten Räte errichten wollten. Die politische Rechte dagegen setzte alles daran, die Schmach von Versailles zu tilgen und dabei die als illegitimes Verfassungsgesetz (Carl Schmitt) geschmähte Weimarer Verfassung durch die unbeschränkte Autorität eines Führers von Volk und Vaterland zu ersetzen. Einig waren sich beide Seiten in der Ablehnung von Parlamentarismus und liberaler Demokratie – man kann in der Politik nun einmal aus unterschiedlichen Gründen das Gleiche tun. Stets war der Antikommunismus eines der Standbeine der nationalsozialistischen Ideologie und wurde nach Hitlers Machtergreifung zu einem zentralen Motiv der Regierungspolitik – für das heutige Sankt Petersburg als Wiege der Oktoberrevolution ein wahres Menetekel.

Metrostation Улица Дыбенко in einem Außenbezirk der Zarenstadt. Wir bezahlen ein paar Rubel und besteigen einen etwas in die Jahre gekommenen Reisebus, Schlüsselburg ist unser Ziel. Von der Pracht von 2300 Schlössern und Palästen im Zentrum der Metropole ist hier nicht viel zu vernehmen, das triste Grau riesiger Wohnblöcke fliegt an den beschlagenen Fenstern vorbei. Auf der monotonen Fahrt entlang der Neva drehen sich unsere Gespräche um die Rolle großer Persönlichkeiten für den Lauf der Geschichte. Gibt es den Einzelnen, der die Welt verändert?

Als Adolf Hitler im Juni 1940 dem Oberkommando der Wehrmacht seinen Entschluss zum Angriff auf die Sowjetunion mitteilte, so ging es dabei um nichts weniger als die Vernichtung des Bolschewismus. Über Jahrhunderte war die Idee einer klassenlosen Gesellschaft herangewachsen, bis 1917 die Kommunisten die Macht in Russland übernahmen. Die wahnwitzige Idee eines Bruchs der Geschichte und die damit verbundene Heimkehr der Menschheit endete nach wenigen Jahren in der Hölle auf Erden. Der Glaube an Erlösung war eines der zentralen Momente der kommunistischen Bewegung. Wo Marx noch von einem allmählichen Verschwinden der Bourgeoisie im Zuge historischer Notwendigkeiten ausging, wollte Lenin nicht länger warten und den Dingen im Zuge einer Revolution der Gewalt ein wenig Anschub verleihen. Keine 20 Jahre später waren bedeutende Revolutionäre wie Lew Kamenew oder Nikolai Bucharin nebst Millionen anderer Opfer vom Wind der Geschichte hinweggefegt. Auch drei von fünf Marschällen der Sowjetunion fanden im Gehäuse des Wahnsinns ihr Ende. Der Tod löst alle Probleme, hat Stalin einmal gesagt. Im Schauprozess gegen die Industriepartei 13 Jahre nach der Revolution setzte Staatsanwalt Krylenko diese Losung kongenial um: In der Epoche der Diktatur, überall umgeben von Feinden, zeigen wir manchmal unnütze Milde, unnütze Weichherzigkeit.

Mittlerweile rollen wir über eine holprige Schotterpiste, zur Linken spiegelt sich die matte Herbstsonne auf den Wellen der Neva. In Schlüsselburg mündet der mächtige Strom in den Ladogasee, nach 35 Kilometern ist die von gut 13.000 Menschen beheimatete Stadt erreicht. Wir nehmen zwei Soljanka zu uns, dazu Cola Light – und bezahlen umgerechnet nicht einmal fünf Euro. Schließlich geht es zu einem Bootsanleger, von wo uns ein kleines Schiff zur Festung übersetzt, die Fahrt dauert zehn Minuten. Der Anblick ist malerisch: Im Hintergrund die Weiten des größten Sees Europas, direkt vor Augen die hellgrauen Mauern und Wachtürme der Festung Schlüsselburg.

Als in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1941 um 3 Uhr morgens die Wehrmacht den brutalsten Waffengang in der Geschichte der Menschheit eröffnete, so lag dies für Stalin außerhalb jeder Vorstellungskraft. Bis ins letzte Detail hatte Moskau den Nichtangriffspakt eingehalten, außerdem wären die Deutschen doch gewiss nicht so wahnsinnig, sich auf einen Zwei-Fronten-Krieg einzulassen. Mehr als drei Millionen von der normativen Kraft des Faktischen geprägte Soldaten drangen auf einer Breite von 1600 Kilometern in das Staatsgebiet der Sowjetunion ein. In den ersten Wochen des Krieges hatten die Russen der Wehrmacht kaum etwas entgegenzusetzten. Die Raumgewinne waren immens, die Schwächung der Roten Armee durch die stalinistischen Mordorgien tat ihr übriges. Im September 1941 war Leningrad eingeschlossen: Im Süden die Deutschen, im Norden die Finnen, im Westen die Ostsee und im Osten der Ladogasee. Jedoch gelang es der Wehrmacht nicht, die Neva zu überschreiten. Schlüsselburg fiel zwar in die Hände der Deutschen, doch die östlich gelegenen Gebiete einschließlich des Ostufers vom Ladogasee konnten von der Roten Armee gehalten werden.

Liest man in der Bibel, so begegnet man früher oder später dem Tausendjährigen Reich. Der eschatologische Glaube an Erlösung durch die Heimkehr von Jesu Christi auf die Erde und die damit verbundene Errichtung einer tausend Jahre währenden Herrschaft fand in Deutschland seinen Bezugspunkt in dem Mann, der in München am 1. August 1914 in die Knie sank und Gott unter Tränen dankte, dass er diesen Tag erleben durfte (Ernst Fraenkel). Was, wenn Adolf Hitler an der Front zu Tode gekommen wäre? Hätte es den Nationalsozialismus auch ohne ihn gegeben? Gewiss hat er die Voraussetzungen dafür nicht selbst erschaffen. Die Schmach von Versailles war Konsequenz der deutschen Niederlage im 1. Weltkrieg. Spätestens durch die Arbeit von Christopher Clark und seinen Schlafwandlern steht die These von der deutschen Alleinschuld an diesem Krieg mächtig unter Druck. Politisches Handeln ist stets mit dem Risiko nicht intendierter Auswirkungen behaftet, im Zusammenspiel mit anderen Pfaden kann dies zu schwer kontrollierbaren Entwicklungen führen – man denke nur an die Erschießung von Franz Ferdinand in Sarajevo. Stets muss ein Bewusstsein dafür entwickelt werden, wie hochgradig kontingent der Aufstieg Hitlers zu einer der mächtigsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte gewesen ist. Aus dieser Position heraus erging schließlich der Befehl, Leningrad als Wiege der bolschewistischen Revolution dem Erdboden gleich zu machen.

Die Gegend um Schlüsselburg war Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen Wehrmacht und Roter Armee, vom südlichen Ufer der Neva aus nahmen die Deutschen die von den Russen gehaltene Festung unter beständiges Artilleriefeuer. Die Außenmauern wurden nach dem Krieg restauriert, doch im Inneren zeugen noch heute mitunter vollkommen zerschossene Gemäuer von den Schlachten vergangener Tage. Ein ähnliches Schicksal in größerem Maßstab ereilte das eingekesselte Leningrad: Seit dem 8. September 1941 war der Blockadering um die Stadt geschlossen, die Deutschen bombardierten gezielt Infrastruktureinrichtungen wie Kornspeicher sowie die Wasser- und Elektrizitätsversorgung, während es die schwere Artillerie der Wehrmacht vorwiegend auf Krankenhäuser und Schulen abgesehen hatte. Mehr als 10.000 Menschen kamen bei diesen Angriffen ums Leben. Ziel war es, die Bevölkerung von Leningrad verhungern zu lassen und die Gebäude der Stadt anschließend reihenweise zu sprengen. Die Versorgungswege in die Stadt waren abgeschnitten, im Herbst 1941 begann das Massensterben – bis Juni 1942 fanden etwa eine halbe Million Menschen den Tod durch Unterernährung.

Die einzige Möglichkeit zur rudimentären Versorgung von Leningrad bestand in der Straße des Lebens über den Ladogasee. Von den Gebieten unter Kontrolle der Roten Armee starteten im ersten Winter der Blockade unzählige Transporte über den zugefrorenen See in die belagerte Stadt. Die Fahrzeuge standen unter Dauerfeuer der Wehrmacht, viele Tonnen an Versorgungsgütern wurden für immer von den Fluten verschlungen – auch Hunderttausende Bewohner Leningrads konnten auf diesem Wege evakuiert werden. Wäre es der Wehrmacht gelungen, in Schlüsselburg die Neva zu überschreiten und weiter in Richtung Leningrad vorzustoßen, wäre auch dieser letzte Strohhalm gekappt worden. Bis zur Befreiung der Zarenstadt durch die Rote Armee und dem damit verbundenen Ende der Blockade am 27. Januar 1944 starben etwa 1,1 Millionen Menschen.

Jahre bevor Leo Trotzki in Mexiko City auf Stalins Geheiß per Eispickel ins Jenseits expediert wurde, sprach er einen Satz, welcher als Blaupause für die beiden finstersten Diktaturen der Weltgeschichte herangezogen werden kann: Im Bewusstsein von Relativitäten bringt man nicht den Mut auf, Gewalt anzuwenden und Blut zu vergießen. Sowohl Carl Schmitt als auch Lenin haben sich als Apologeten der totalen Herrschaft alle Mühe geben, dieses Bewusstsein für Relativitäten, welches eine notwendige Bedingung liberaler Demokratie darstellt, auszuschalten. Ohne Zweifel von schneidendem Intellekt und ebenso zweifellos befreit von jedem Skrupel, findet man in ihrem irrationalistischen Denken die geistige Grundlage für Verbrechen, für die es keine Strafe gibt.

Schmitts bedeutendster liberaler Schüler in der Bundesrepublik hob einst die berühmte Sentenz aus der Taufe, welcher zufolge der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Alltagssprachliche Wirklichkeitskonstruktionen erachten die sozialen Verhältnisse allzu statisch und nicht selten als unveränderbar – es gibt diejenigen, die Macht haben, und jene, welche zu gehorchen haben. Jedoch gilt bei distanzierter Betrachtung: Verfügt jemand innerhalb einer sozialen Ordnung über Macht, so tut er dies, weil andere ihn gewähren lassen. Ohne Indianer keine Häuptlinge. Die Voraussetzungen eines freiheitlichen Gemeinwesens können nicht von oben herab verordnet werden. Jedes einzelne Mitglied eines Gemeinwesens ist Träger des politischen Willens. Ist der Wille zur liberalen Demokratie nicht länger vorhanden, so ist es um eine Ordnung wie die Weimarer Republik schlicht und einfach geschehen.

[Julian Müller/russland.news]

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