125 Gramm Brot – am 27. Januar 1944 endete die Blockade von LeningradBrot wird in 125 Gramm Stücke geschnitten

125 Gramm Brot – am 27. Januar 1944 endete die Blockade von Leningrad

872 Tage lang hatte die deutsche Wehrmacht Leningrad (heute St. Petersburg) während des Zweiten Weltkrieges belagert. Das Ziel: die Bevölkerung systematisch aushungern zu lassen. Die Leningrader Blockade war eins der schrecklichsten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht und ein Völkermord. Am 27. Januar jährt sich die Befreiung der Stadt zum 75. Mal.

„Bei Granatbeschuss ist diese Seite sicherer“, an einigen Petersburger Häusern kann man dieses Schild immer noch lesen – als Mahnung und als Erinnerung an eins der schlimmsten Kapitel der Geschichte der Stadt, die einiges erlebte (u.a. zwei Revolutionen). Etwa 100.000 Bomben wurde auf die Stadt abgeworfen. Doch die meisten Menschen sind an Hunger, Kälte und Krankheiten gestorben. Wieviel Menschenleben kostete „der Leningrader Kessel“? Bei den Nürnberger Prozessen sprach man von 630.000 Opfern. Heute geht man von einer Million aus (einige Historiker sprechen von 1,5 Millionen Opfern). Als sowjetische Truppen Leningrad befreiten, lebten dort nur noch 800.000 Menschen. Vor der Blockade hatte die Stadt 2,5 Millionen Einwohner.

Am schlimmsten war das erste Jahr. Die Deutschen haben die Nahrungsmittellager der Stadt zerbombt, so dass die Leningrader praktisch ohne Vorräte blieben. Schon am 20. November 1941 betrug die tägliche Lebensmittelration 250 Gramm Brot. Allerdings nur für Arbeiter. Frauen, Kinder und Menschen ohne Arbeit bekam die Hälfte. Zuerst versuchten die Arbeiter ihre Ration mit ihren Angehörigen zu teilen, doch schnell hat man dieser Praxis ein Ende gesetzt: Menschen mussten ihr Brot direkt in den Fabriken essen. Um Brot zu bekommen, brauchte man eine „Brotkarte“. Ihr Verlust bedeutete schneller Tod. „Hundert fünf und zwanzig Blockader Gramm – gemischt mit Feuer und Blut“, schrieb die russische Dichterin Junna Moriz, die als Kind die Blockade überlebte.

Der schreckliche Winter von 1941 mit den Frösten bis zu minus 40 Grad setzte den Menschen zusätzlich zu – Brennmaterial fehlte, Leningrader verbrannten Möbel und Bücher. Auch die Wasserversorgung brach zusammen. Menschen mussten das Wasser aus der Newa schöpfen. Die Blockade hat Leningrad in eine Geisterstadt verwandelt.

Nur aus der Luft und im Winter über den gefrorenen Ladoga-See konnte die Stadt versorgt werden. In der Nacht von 22. November 1941 fuhr die erste Kolonne aus 60 Lkws über den See. Sie brachten 33 Tonnen Lebensmittel in die belagerte Stadt. So öffnete sich die sogenannte „Straße des Lebens“. Auf diesem Wege versuchte man auch, Menschen, vor allem Kinder, aus Leningrad zu evakuieren. Doch „die Straße des Lebens“ wurde in Wirklichkeit oft zur „Straße des Todes“. Das dünne Eis brach unter den schweren Lastwagen, sie fielen ins eiskalte Ladoga Wasser. Menschen starben, Lebensmittel gingen verloren. Im Januar 1943 gelang es der Roten Armee einen wenige Kilometer schmalen Zugang zur Stadt über den Ladoga-See zu öffnen, doch die deutsche Artillerie beschoss diesen Korridor. Man schätzt die Verluste der Roten Armee in den Kämpfen um Leningrad auf etwa 700.000 Mann.

„Schenja starb am 28. Dezember um 12:00 vormittags 1941. Mutter am 13. Mai um 7:30 vormittags 1942“, diese Zeilen stammen aus dem Tagebuch von Tanja Sawitschewa, einem Leningrader Mädchen, das seine ganze Familie, einen Angehörigen nach dem anderen während der Blockade verlor. Tag für Tag notierte Tanja scheinbar emotionslos die Tragödien. „Die Sawitschews sind gestorben. Alle sind gestorben. Nur Tanja ist geblieben“, so enden ihre Notizen. Eine Kopie des Tagebuches befindet sich heute im Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof, einer Massenbegräbnisstätte von Opfern der Blockade. Laut einigen Schätzungen liegen dort in Massengräbern 520.000 Menschen. Heute leben nur noch knapp hunderttausend Veteranen der Blockade – „Blockadniki“, wie man sie im Russischen nennt.

Grauenhafte Fakten über die Leningrader Blockade füllen dicke Bände. Über Fälle von Kannibalismus, oder darüber, wie Menschen auf den Straßen vor Hunger tot umfielen und ihre Leichen einfach liegen blieben. Oder darüber, dass man 400.000 Kinder aus der Stadt evakuierte, aber nur 175.000 zurückkamen. Hunderte Bücher sind über die Leningrader Blockade geschrieben worden, dutzende Dokumentar- und Spielfilme gedreht. Aber um das ganze Ausmaß der Tragödie nachempfinden zu können, sollte man in das Museum der Leningrader Blockade in St. Petersburg gehen und sich dort ein einziges Exponat anschauen: 125 Gramm Brot. Die Lebensmittelration. Fast 900 Tage lang.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

COMMENTS