Russische Lehrer appellieren an Putin: „Die Bildung im Land geht zugrunde“

Russische Lehrer appellieren an Putin: „Die Bildung im Land geht zugrunde“

Ein auf der Internetplattform Zavuch.info im Namen russischer Lehrerinnen und Lehrer veröffentlichte offene Brief an den russischen Präsidenten hat in der Öffentlichkeit ein großes Echo ausgelöst. 

„Wir können nicht länger schweigen. In den Schulen haben sich so viele Probleme angehäuft, dass das Schweigen zur Komplizenschaft geworden ist”, so die Autoren des Appells, der „im Namen von Tausenden von Lehrerinnen und Lehrern geschrieben wurde, die jeden Tag unterrichten, die Zukunft Russlands aufziehen und versuchen, trotz allem zu bestehen”. 

Lehrerinnen und Lehrer haben den Mut gefunden, laut über das zu sprechen, worüber heute alle – Lehrer und Eltern gleichermaßen – diskutieren.  

„Sehen Sie sich das an: Unsere Bildung ist fast zu Asche geworden. Nicht wegen der Bedrohungen von außen, sondern wegen der stillen Zerstörung und Gleichgültigkeit im Innern.“ Sie lenken die Aufmerksamkeit des Staatsoberhaupts auf die Probleme im Bildungssystem. 

„Wenn wir die Schule verlieren, verlieren wir das Land. Ohne einen einzigen Schuss. Und ohne einen äußeren Feind“, sagt die pädagogische Gemeinschaft.  

Im Text des Appells heißt es, dass die Schule zu einem „Ort der Papierhölle” geworden sei: Die Schulverwalter seien mit Berichten und Statistiken beschäftigt, Wissen sei Formalitäten gewichen. Junge Lehrer kommen nicht in die Schule, auch weil die Preise steigen und die Gehälter miserabel sind.  

Die angehäuften Probleme im Bildungswesen werden in dem Appell an den Präsidenten Punkt für Punkt umrissen.   

Die bescheidenen Lehrergehälter   

Die Lehrer sind nicht einverstanden mit der Logik „Wenn du mehr Geld willst, nimm mehr Stunden”, denn derzeit arbeiten Lehrer oft mit doppeltem Einsatz, manche sogar mit dreifachem. Und da selbst dieses geringe Gehalt (etwa 30.000 Rubel pro Monat, derzeit etwa 325 Euro) ihren Lebensunterhalt nicht deckt, müssen sie in Teilzeit als Nachhilfelehrer bis spät abends oder nachts arbeiten. 

„Sie haben versprochen, das Gehalt ab Januar um 20 Prozent zu erhöhen – sie haben es um 4 Prozent erhöht”, kommentierten Lehrer und Leser von Zavuch.info.  

„Die Preise sind gestiegen, aber die Löhne nicht! Obwohl sogar die Renten indexiert sind”, empören sich die Lehrer in den Kommentaren unter dem veröffentlichten Aufruf.  

Lehrer mit jahrelanger Erfahrung verlassen zunehmend die Schulen, um „das freie Brot“ zu wählen, wo sie mehr verdienen können. Und natürlich kommen auch keine neuen Lehrer wegen des „lächerlichen” Gehalts – junge Lehrer, die gerade erst einen Universitätsabschluss gemacht haben. Sie arbeiten lieber als Kurier oder Barista. Das bringt mehr Geld.  

Lehrer klagen über eine Überflutung mit Papierkram 

Die Autoren des Appells beschreiben, wie Lehrer durch „Bürokratie und digitale Plattformen” überlastet sind und „gezwungen sind, Tabellen auszufüllen, anstatt Schüler zu inspirieren”. 

Hinter der endlosen Abfolge von Olympiaden, Tests und Überprüfungsarbeiten gerät die Hauptaufgabe in den Hintergrund: die Vermittlung grundlegender Kenntnisse des Fachs und die Motivation der Kinder für die weitere Ausbildung. Für russische Schulen ist es wichtiger geworden, „nicht Wissen, sondern Berichtswesen” und Papierkram auszufüllen. Lehrer sind ständig gezwungen, nach Wegen zu suchen, um ihre Qualifikationen erneut zu bestätigen und so viele Diplome und Zertifikate wie möglich zu sammeln. 

Entsetzlich ist auch, dass solche „Spielregeln”, die den Lehrern von den Beamten auferlegt werden, von den Schülern übernommen werden. Kinder und Jugendliche stimmen genau wie die Erwachsenen auf eine formale Einstellung zum Lernen ein. Sie versuchen nicht, den Stoff vollständig zu lernen, sondern die richtigen Antworten in Tests zu erraten. Sie lernen zu betrügen. 

„Wir haben die Kinder an das Lügen gewöhnt, weil das System selbst auf Falschheit aufgebaut ist”, so die Autoren des Aufrufs. 

 „Vor ein paar Jahren haben die Beamten versucht, den Papierkram in der Schule zu reduzieren, und sogar die dafür notwendigen Dokumente ausgestellt. Aber gleichzeitig gab es eine Flut von endlosen Kampagnen, Wettbewerben und Initiativen, die in der Schule durchgeführt werden sollten. Dies fällt auf die Schulverwaltung zurück, die damit nicht zurechtkommt und die Verantwortung auf die Lehrer abwälzt“, unterstützt der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft, Dmitri Kasakow, der selbst Lehrer für Geschichte und Sozialkunde ist, die Verfasser des Aufrufs. 

Respektlosigkeit und Mobbing von Lehrern durch Kinder und Eltern sind an der Tagesordnung

„Die Disziplin wird zerstört. Der Lehrer kann nicht einmal eine Bemerkung machen, sonst wird er beschuldigt, die Rechte des Kindes zu verletzen“, beklagen sich die Verfasser des Aufrufs über ihre tägliche Not. Dies wird durch zahlreiche Kommentare bestätigt, die unter dem veröffentlichten Text hinterlassen wurden. 

„Wir sind entmachtet. Das Kind lernt nicht – du hast kein Interesse. Das Kind schwänzt – du hast es erlaubt. Es respektiert nicht – Sie haben es nicht erzogen“, bestätigt einer der Lehrer das Problem. 

Um die Krise im Bildungswesen zu lösen, hat die pädagogische Gemeinschaft ihre Forderungen aufgestellt. 

Die erste lautet: „Dem Bildungsminister und seinem gesamten Team ist das Vertrauen zu entziehen.“ 

Die Verfasser des Aufrufs gehen davon aus, dass sie von der absoluten Mehrheit der Lehrerschaft unterstützt werden. Denn „der derzeitige Minister und sein Gefolge haben das Vertrauen der Lehrer verloren”, da sie die Urheber von Reformen sind, die die Bildung zerstören.  

Die nächste Forderung ist die Einrichtung einer unabhängigen Arbeitsgruppe für das Bildungswesen unter der Präsidialverwaltung. In dieser sollen anstelle von „loyalen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens” und „formalen Führungspersönlichkeiten” Experten sitzen, die „tatsächlich in den Schulen arbeiten”.  

Weitere Forderungen sind die Verringerung des bürokratischen Aufwands für Lehrkräfte und die Erhöhung der Gehälter (mit einer obligatorischen Angleichung der Einkommen von Lehrkräften aus „armen” und „reichen” Regionen). 

Die Verfasser des offenen Briefes an den Präsidenten Russlands bezeichnen diesen Aufruf als „die Stimme der Schule selbst”. 

„Wir haben einfach aufgezeichnet, was Zehntausende von Lehrern seit vielen Jahren in privaten Gesprächen, in Chatrooms, hinter den Kulissen, aber selten in der Öffentlichkeit gesagt haben”, kommentiert Jewgeni Baranowski Leiter von Zavuch.info. 

„Dies ist eine kollektive, echte Reaktion derjenigen, die jeden Tag zu den Kindern gehen und nicht länger schweigen können”, so Baranowski, als einer der Autoren des Appells. 

Der Weckruf erschien eine Woche nach der Veröffentlichung offizieller Zahlen des russischen Arbeitsministeriums über Woche nach offiziellen Zahlen aus dem russischen Arbeitsministerium über den zusätzlichen Personalbedarf im Bildungssektor. Bis 2030 müssten mehr als 480.000 Arbeitskräfte in diesem Bereich ausgebildet werden, so Arbeitsminister Anton Kotjakow. Im Durchschnitt sind das jährlich etwa 96.000 Lehrkräfte, davon 40.000 Schullehrer. 

In der Branche sind 5,4 Millionen Menschen beschäftigt, davon fast 2,5 Millionen in staatlichen Einrichtungen, darunter fast 1,3 Millionen Lehrer, über 600.000 Kindergärtnerinnen, 260.000 Lehrer für Zusatzausbildungen, 156.000 Hochschullehrer und 177.000 Universitätslehrer. 

  

 

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