Migranten in Russland: „Wir sind hier“ oder eine Übersicht in drei Teilen [Teil 1]

Migranten in Russland: „Wir sind hier“ oder eine Übersicht in drei Teilen [Teil 1]

Russland gehört zu den Ländern, in denen die Zahl der Arbeitsmigranten hoch ist. Es liegt auf der Hand, dass Moskau seine Migrationspolitik ändern und ein System entwickeln muss, um die Neuankömmlinge an das Leben in Russland anzupassen. Auch der russische Präsident hat die Dringlichkeit des Problems erkannt, als er auf dem diesjährigen Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg (SPIEF) sprach. Das russische Wirtschaftsblatt Experte ist der Frage nachgegangen, warum die russische Wirtschaft auf die Arbeitskraft der Neuankömmlinge angewiesen ist und warum sie als Arbeitskräfte heute effizienter sind als Einheimische.

Auf einer Pressekonferenz im Dezember letzten Jahres schätzte Präsident Putin die Gesamtzahl der Arbeitsmigranten in Russland auf 10 Millionen. Schon damals sagte er, dass die Zahl der Neuankömmlinge und der Grad ihrer Integration in die russische Gesellschaft zu einem problematischen Thema werde. „Dies ist kein einfaches Problem. Es ist charakteristisch für viele Länder der Welt, auch für uns. Nach verschiedenen Schätzungen haben wir mehr als 10 Millionen Arbeitsmigranten“, sagte er.

Beim SPIEF betonte der Präsident erneut die Dringlichkeit des Problems. „Wir können nicht sagen, dass es das Problem nicht gibt. Es existiert“, antwortete er auf die These von wachsenden Spannungen im Bereich der Migration.

Eines der offensichtlichsten Probleme ist die Statistik. Keine russische Behörde stellt offiziell umfassende Daten über die Gesamtzahl der Arbeitsmigranten zur Verfügung. Bei der Berechnung von Indikatoren wenden sie unterschiedliche Methoden an und stützen sich auf unterschiedliche Stichproben.

Das Statistikamt Rosstat führt beispielsweise eine Stichprobenerhebung über Arbeitsmigranten durch, deren Ergebnisse zuletzt 2019 veröffentlicht wurden. Damals schätzte die Behörde die Gesamtzahl der Migranten auf 4,2 Millionen, von denen 2,7 Millionen Arbeitsmigranten waren. Seitdem ist die Zahl der Migranten um 720.000 gestiegen, wie Experteanhand der Daten der Statistikbehörde errechnet hat.

Allerdings berücksichtigt Rosstat nur langfristig eingewanderte Migranten, die am Wohnort oder vorübergehend am Aufenthaltsort für mehr als neun Monate registriert sind. Die meisten Migranten sind Kurzzeitmigranten, d. h. sie kommen für weniger als ein Jahr, wie Julia Florinskaja, Forscherin an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung, in ihrer Arbeit feststellte.

Auch das Innenministerium verfügt nicht über vollständige Informationen über die Zahl der Arbeitsmigranten im Land. Das Ministerium beschränkt sich auf genaue Schätzungen der an Migranten ausgestellten Dokumente. Nach Angaben des Innenministeriums belief sich die Zahl der ausgestellten befristeten Aufenthaltsgenehmigungen (für drei Jahre) im Jahr 2023 auf 89.700, was einem Rückgang von 49 Prozent im Laufe des Jahres entspricht, und die Zahl der Aufenthaltsgenehmigungen auf 273.100 (Rückgang um 12 Prozent). Die Zahl der an Ausländer ausgestellten Arbeitserlaubnisse stieg im vergangenen Jahr auf 2,3 Millionen (plus 3,6 Prozent). Dieses Dokument, das zum Aufenthalt in Russland berechtigt, ist bis zu 12 Monate gültig. Bürger der EAWU-Staaten benötigen allerdings kein Patent. Sie müssen lediglich eine Vereinbarung mit ihrem Arbeitgeber treffen und sich registrieren lassen.

Nach Schätzungen der Russischen Akademie für Volkswirtschaft hielten sich Anfang Mai 2022 4,9 Millionen Ausländer in Russland auf, von denen etwa 3,35 Millionen als Zweck ihrer Einreise „Arbeit“ angaben. Die Experten des Instituts beriefen sich dabei auf nicht-öffentliche Daten des Innenministeriums. Im Jahr 2024 werde die Zahl der Ausländer bei sechs Millionen liegen, sagte der stellvertretende Leiter der Hauptdirektion für Migration im Innenministerium, Kirill Adzinow, im April.

Gleichzeitig geben laut einer Studie des Zentrums für strategische Forschung 0,5 Millionen Migranten als Grund für ihre Einreise etwas anderes als Arbeit an, arbeiten aber trotzdem. Ein weiterer Teil hält sich illegal in Russland auf und wird regelmäßig vom Innenministerium ausgewiesen, das ihre Zahl auf 0,8 Millionen schätzt.

Folgt man der UN-Methode und rechnet Langzeit- und temporäre Migranten zusammen, beläuft sich ihre Gesamtzahl im Land heute auf mindestens 10,9 Millionen, so der Experte. Diese Schätzung deckt sich auch mit den Angaben von Wjatscheslaw Postawnin, dem ehemaligen stellvertretenden Leiter des Föderalen Migrationsdienstes, der in einem Gespräch mit Expert die Zahl auf 11 Millionen Menschen bezifferte.

Insgesamt machen Migranten 9,2 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und 10,4 Prozent der russischen Erwerbsbevölkerung aus. Am stärksten auf dem Arbeitsmarkt vertreten sind Bürger aus Usbekistan (1,6 Millionen) Tadschikistan (1,3 Millionen) und der Ukraine (1,2 Millionen).

Laut einer Studie des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften betrug der Arbeitskräftemangel in Russland im Jahr 2023 4,8 Millionen Menschen. Mitte 2023 lag die Zahl der offenen Stellen laut Rosstat bei 6,8 Prozent der Vollzeitbeschäftigten in den Unternehmen (ein Jahr zuvor waren es 5,8 Prozent). Der Personalmangel spiegelt sich auch im Rückgang der Arbeitslosenquote auf ein Rekordtief von 2,7 Prozent wider, wie die Rosstat-Daten für März dieses Jahres zeigen.

Eine Lösung des Problems sehen Behörden und Unternehmen in der Anwerbung von Arbeitskräften aus Ländern außerhalb der GUS. Laut einer Studie des Instituts für die Entwicklung der Wirtschaft und des Unternehmertums planen die Unternehmen, 27 Prozent ihres Personalbedarfs mit Hilfe von Migranten aus den GUS-Staaten und 6,5 Prozent mit Fachkräften aus Drittländern zu decken.

Das VEB-Institut geht davon aus, dass der Migrationszuwachs bis 2050 aufgrund der Ausweitung des Einzugsgebiets der Geberländer und der verstärkten Zusammenarbeit mit afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern noch höher ausfallen wird als in den letzten zehn Jahren.

Allerdings wird es immer schwieriger, den Arbeitskräftemangel kostengünstig und ohne gravierende Folgen durch ausländische Arbeitskräfte zu decken. Besonders akut wird die Frage, wie die Neuankömmlinge in die russische Gesellschaft integriert und ihre Arbeitskraft effektiver genutzt werden kann.

[hrsg/russland.NEWS]

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