Im weißrussischen Wetka ist Tschernobyl allgegenwärtig

„Tschernobyl?“, Dennis schüttelt den Kopf. „Keine Angst.“ Neunjährige fürchten sich nicht mehr vor Monstern, jedenfalls nicht vor solchen, mit denen sie aufwachsen, als gehörten sie dazu. Dennis geht in Wetka bei Gomel zur Schule. Die gleichnamige Region Gomel im Süden Weißrusslands ist das durch die Atomkatastrophe von 1986 am stärksten radioaktiv verseuchte Gebiet überhaupt.

25 Jahre nach dem Super-GAU versuchen die Menschen, dort ein normales Leben zu führen, ein Leben mit den Folgen von Tschernobyl.

Wetka ist eine 12.000-Einwohner-Stadt mit Gymnasium, gesäumt von bunten Holzhäusern, wie sie für das weißrussische Hinterland typisch sind. Es wäre ein geeigneter Ort für eine unbeschwerte Kindheit. Aber eine Kindheit ist hier bestenfalls unbelastet, und das ist etwas völlig anderes. Es bedeutet, dass Pilze aus dem Wald, Gemüse aus dem Garten, Fleisch von der Kolchose immer auf Radioaktivität getestet werden müssen, dass alle Schüler zweimal jährlich zur Schuluntersuchung müssen, Erkältungen wegen geschwächter Immunsysteme hartnäckiger sind, Kinder Wörter wie Halbwertszeit kennen – und dass es immer mehr Schilddrüsenkrebs gibt.

 
Der Unglücksreaktor wird noch lange die Region überschatten. Die nächsten 300 Jahre, rechnet Nikolai Wabischtschewitsch vom Komitee für Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion der Regionalverwaltung in Gomel vor. Das ist die Halbwertszeit der strahlenden Isotope Cäsium und Strontium, die zusammen mit kurzlebigeren radioaktiven Stoffen wie Jod aus der Tschernobyl-Wolke auf den Süden Weißrusslands niederregneten und in der Region Gomel 216.000 Hektar Land verseuchten. „Davon konnten bislang nur 4400 Hektar zurückerobert werden“, sagt Wabischtschewitsch. Wetka gehört zu den am schlimmsten betroffenen Gomeler Kreisen; von insgesamt 21 Kreisen der Region sind 13 kontaminiert.

„Man muss sich anpassen“, sagt Elena Barsukowa. Die stellvertretende Direktorin des Gymnasiums in Wetka war 15 Jahre alt, als im etwa 160 Kilometer entfernten ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 Reaktorblock 4 explodierte, tagelang brannte und die radioaktive Wolke bis auf dreitausend Meter stieg. „Wegziehen?“ – aus Gomel, wo 98 Ortschaften laut Verwaltung „komplett abgetragen“ wurden und insgesamt 100.000 Menschen umgesiedelt wurden – „meine Familie hat gesagt, wir bleiben“, sagt Barsukowa.

Barsukowa hat sich mit dem monströsen Gebilde arrangiert, das selbst im Stundenplan seine Spuren hinterlässt. Dort mutiert es zu einem unsichtbaren Zusatzfach, dass alle Lehrer in Wetka unterrichten: Tschernobyl in der Chemie, der Physik, der Geschichte. Zuletzt war es wieder Thema im Kunstunterricht. Zu jedem Jahrestag veranstaltet die Schule einen Zeichenwettbewerb: Manche der Bilder zeigen regenbogenbunte Sehnsuchtsparadiese, wie sie auch in deutschen Grundschulklassenzimmern hängen. Andere sind so düster, dass sie anderswo auf der Welt vermutlich Anlass zum Besuch beim Schulpsychologen wären: apokalyptische Landschaften und gekrümmte Embryos in welken Blütenkelchen.

„Früher war die Angst wesentlich stärker ausgeprägt“, sagte die 16-jährige Olga Kostotschkina. Dennoch „betrifft es mich“, fügt die Schülerin hinzu. „Meine Mutter war den Folgen ausgesetzt, mein Bruder ist behindert.“ Sie und ihre Freundinnen waren schon in Deutschland und Italien zur Erholung: in Hannover, Lengenfeld und Buchhausingen. Als „Tschernobyl-Kinder“ der zweiten Generation stehen auch ihnen jährlich 24-tägige Verschnaufpausen nach dem 1991 beschlossenen weißrussischen Tschernobyl-Gesetz zu. Auch Dennis war gerade in einem weißrussischen Sanatorium, den Zeichenwettbewerb musste er sausen lassen.

Doch der Unglücksreaktor wartet auf sie. Und weil sie ihn nicht loswerden, haben sie ihn zum Jahrestag der Katastrophe einfach eingeladen: „Unser Gast Tschernobyl“ heißt eine Broschüre, die Schüler und Lehrer gestaltet haben. Das Heft will die Einwohner Wetkas ermutigen, auch 25 Jahre danach über das Leben mit den Folgen weiter nachzudenken.

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