Laut einer Studie der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung (RANEPA) könnten 129 Kleinstädte mit insgesamt 3,4 Millionen Einwohnern in Russland allmählich verloren gehen. Daten zeigen, dass die Einwohnerzahl dieser Städte in den letzten zehn Jahren um 314.000 gesunken ist. Am stärksten betroffen sind die Kohle-, Hütten- und Holzindustrie im Norden sowie Städte in der Peripherie.
Die Akademie hat die demografische Entwicklung und das wirtschaftliche Potenzial in Kleinstädten untersucht. Die Studie wurde im Auftrag der Regierung durchgeführt und die Ergebnisse von der russischen Zeitung Iswestija vorgestellt.
RANEPA ist der Ansicht, dass Städte in Agrar- und Industrieregionen „aufgrund der Ernährungssicherheit und der günstigeren Lebensbedingungen für die Bevölkerung in einer etwas besseren Position sind”. Doch „die Krise der industriellen Produktion und der anhaltende Sog der Bevölkerung in die größeren Zentren erhöhen das Risiko des Siedlungsverlustes”, so die Experten.
Beim Thema Kleinstädte gehe es nicht um Statistiken, sondern um das Schicksal von Menschen und die Zukunft ganzer Landstriche, mahnt ein Mitglied des Staatsduma-Ausschusses für Bau- und Wohnungswesen und Versorgungsbetriebe. „Leider hält die Abwanderung an”, betonte er. Wo es weder Arbeitsplätze noch eine grundlegende Infrastruktur gibt, ist es schwierig, Anreize für die Rückkehr junger Menschen zu schaffen, insbesondere für diejenigen, die zum Studium weggegangen sind.
Die Hauptgründe sind der Abbau von Arbeitsplätzen nach der Schließung stadtbildender Unternehmen, die veraltete Infrastruktur, also der Zerfall des Wohnungs- und Versorgungssektors, der Mangel an modernen Verkehrs-, Kommunikations- und medizinischen Versorgungsmitteln sowie die Massenabwanderung junger Menschen und die Überalterung der Bevölkerung, so Wladimir Koschelew vom Staatsduma-Ausschuss für Bauwesen und Wohnungs- und Versorgungswirtschaft.
Irina Mironowa, zuständig für föderale Programmentwicklung an der Skolkowo School of Management, präzisiert, dass es in Russland nur etwa 1.100 Städte gibt. Davon sind mehr als 70 Prozent klein und mittelgroß. „In vielerlei Hinsicht sind sie die Grundlage der lokalen Identität, die Bewahrer der Traditionen”, meint sie. Die jüngeren Generationen hingegen wollen wettbewerbsfähige Löhne, Zugang zur Hochkultur und die Vorteile der Zivilisation. Der Rückgang des Außenhandels und der Binnennachfrage nach Kohle und anderen Mineralien hat auch die Aussichten in den Bergbaudörfern und -städten beeinträchtigt. „Es ist wichtig zu erkennen, dass es teuer und ineffizient ist, alle Kleinstädte zu retten”, so Mironowa.
Jekaterina Kosarewa von der Analyseagentur VMT Consult sieht die Situation in den Kleinstädten gelassener: „Wir sehen jetzt das Ergebnis der Veränderungen, die seit den 90er Jahren über das Land hereingebrochen sind. Städte mit nur einem Industriezweig sind am stärksten gefährdet, weil sich ihr Wohlstand auf das Wohlergehen eines einzigen Unternehmens reduziert. Wenn zum Beispiel Kohlefelder erschöpft sind, verschwindet auch der Bedarf an der Stadt. Dies ist ein trauriger, aber im Prinzip natürlicher Prozess.“
Für 106 dieser Kleinstädte (mit weniger als 50.000 Einwohnern) werden inzwischen Masterpläne zur Durchführung von Investitionsprojekten mit Infrastrukturentwicklung erstellt. In diesem Jahr wurden hierfür 4 Milliarden Rubel bereitgestellt.
Es gibt auch positive Beispiele – die Entstädterung ist nicht immer unumkehrbar. Entstehen neue wirtschaftliche Anreize – zum Beispiel durch die Umverteilung von Logistikströmen, die Schaffung von industriellen oder agroindustriellen Clustern, Investitionsprojekte im Tourismus oder die Wiederbelebung der lokalen Produktion – kann eine Kleinstadt ihre verlorenen Funktionen wiedererlangen. Die Geschichte kennt viele Beispiele, in denen siechende Regionen, die einen Wachstumsimpuls erhalten hatten, wiederbelebt wurden.
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