„Die Arche“: Ein Projekt hilft Russen, die ihre Heimat verlassen musstenFoto: © Jewgeni Feldmann

„Die Arche“: Ein Projekt hilft Russen, die ihre Heimat verlassen mussten

Nach Angaben der UNO haben seit dem 24. Februar mehr als fünf Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Allein nach Deutschland sind bereits mehr als 600.000 Menschen geflüchtet, vor allem Frauen und Kinder.

Aber nicht nur aus der Ukraine, sondern auch aus Russland fliehen die Menschen. Diejenigen, die von den Behörden bedroht und verfolgt werden, in deren Wohnung Durchsuchungen stattgefunden haben. Viele, die mit dem, was in ihrem Land geschieht, nicht einverstanden sind, verlassen ebenfalls ihre Heimat: Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Wissenschaftler, Ingenieure, Juristen, Blogger, Stand-Upper. Einigen Schätzungen zufolge sind bereits Hunderttausende aus Russland ausgereist.

Doch während ukrainische Flüchtlinge überall mit offenen Armen empfangen werden, haben es die Russen schwer. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie aus dem Land kommen, das jetzt von vielen als „Schurkenstaat“ gesehen wird, haben sie auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen, um überhaupt in andere Länder zu gelangen und dort bleiben zu können. Aber, wie es in einem russischen satirischen Roman heißt, „die Aufgabe, den Ertrinkenden zu helfen, liegt in den Händen der Ertrinkenden selbst“. Also gründen russische Emigranten Selbsthilfeinitiativen. Eine von ihnen ist das Projekt „Kowtcheg“ (zu Deutsch: „Die Arche“).

Die Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Anastasia Burakova arbeitete mehrere Jahre für die Menschenrechtsorganisation „Open Russia“, bis sie als „unerwünscht“ verboten wurde. Anastasia war bereits im vergangenen Herbst gezwungen, Russland zu verlassen, nachdem ihr Kollege Andrei Pivovarov verhaftet wurde.

„Als  … begann, erhielt ich Hunderte von Nachrichten von meinen ehemaligen Mandanten oder von Leuten, die meine Telefonnummer hatten. Ich erkannte, dass es einer systemischen Lösung für diejenigen bedurfte, die für sich keine Möglichkeit mehr sahen, in Russland zu leben, oder sogar schon in irgendeiner Form Druck oder Verfolgung ausgesetzt waren. Denn schon für die Unterzeichnung von offenen Antikriegsbriefen wurden die Menschen massenhaft entlassen. Damit war die Idee der Online-Rechtsberatung geboren. Alles begann mit der Hilfe bei der Wohnungssuche für Geflüchtete aus Russland. Wir mieteten zwei Wohnungen – in Eriwan und Istanbul – und starteten das Projekt, das wir „Die Arche“ nannten“, erzählt Anastasia. Die Nachfrage erwies sich als enorm. Allein am ersten Tag gingen bei den Menschenrechtsaktivisten mehr als 150 Anfragen ein.

An welchen Fall erinnert sich Anastasia besonders? „Kürzlich haben wir jungen Menschen von der Jugendbewegung ‚Wesna‘ (zu Deutsch: Frühling) geholfen, die ihren Ursprung in St. Petersburg hat. Sie führen Theatervorstellungen zu gesellschaftlich bedeutsamen Themen auf. Gegen sie wurde ein Strafverfahren wegen „Gründung einer Organisation, die das Leben und die Gesundheit der Bürger bedroht“ eingeleitet. Viele regionale Aktivisten von „Wesna“ wurden festgenommen. Den meisten von ihnen gelang es allerdings, Russland zu verlassen. Einige von ihnen haben wir bei uns aufgenommen. In Russland läuft ein regelrechter Angriff auf lokale Meinungsführer. Wir haben unabhängige Stadtabgeordnete, die sich gegen den ….ausgesprochen haben. Zum Beispiel Boris Romanow, ein Umweltaktivist, wurde wegen „Verunglimpfung der russischen Streitkräfte“ strafrechtlich verfolgt. Bei anderen ist so abgelaufen, dass erst nachdem sie das Land verlassen haben, ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wurde. Es gibt Menschen, die Petitionen von Berufsverbänden unterzeichnet haben. Wir haben einige Wissenschaftler von der Akademie der Wissenschaften, die deswegen entlassen wurden. Wir helfen auch ihnen“.

Bald wurde klar, dass auch psychologische Hilfe von Nöten ist. „Die Menschen, die zu uns kommen, befinden sich oft in einer sehr schwierigen emotionalen Situation. 90 Prozent sind nicht einmal bereit, mit Journalisten zu sprechen, vor allem diejenigen, die eine Durchsuchung erleben mussten. Einige von ihnen sind so schnell geflüchtet, dass sie keine Zeit hatten, alle notwendigen Dokumente mitzunehmen, oder die Vollmacht zu hinterlassen, ihr Auto zu verkaufen oder die Wohnungsschlüssel an Freunde zu übergeben. Psychologisch ist das sehr schwierig. Aus diesem Grund haben wir bereits zwei Wochen nach dem Start des Projekts psychologische Unterstützung angeboten. Inzwischen arbeiten rund 50 freiwillige Psychologen mit uns zusammen. Im Chatroom der Arche sind Psychologen 24 Stunden am Tag im Einsatz, um Fragen zu beantworten“.

Außerhalb des Heimatlandes haben es diejenigen besonders schwer, die nicht Online arbeiten können. „Die Arche“ betreibt einen Telegramkanal mit Informationen über Arbeitsplätze, Praktika, Stipendien und andere Möglichkeiten für russische Auswanderer. „Insgesamt helfen uns 450 Freiwillige. Die meisten von ihnen sind Russen, die seit langem im Ausland leben. Einige sind bereit, uns über einige alltägliche Aspekte des Lebens in einem bestimmten Land zu informieren, andere wissen, wie man sich legalisiert oder ein spezielles Visum erhält. Andere unterrichten unentgeltlich Fremdsprachen. Besonders gefragt ist Englisch, aber es gibt auch schon Gruppen für Deutsch, Tschechisch oder Armenisch“.

Armenien, Georgien und die Türkei sind zu den wichtigsten Auswanderungsländern für Russen geworden. „Wenn die Leute dringend wegmüssen, fliegen sie dorthin und überlegen dann, was sie als Nächstes tun“, erklärt Anastasia. Großstadtbewohner haben in der Regel ein Touristenvisum. Die Menschen aus entfernteren Regionen wie des Urals reisen nach Kasachstan, weil es für sie näher ist und sie kein Visum benötigen. Im Allgemeinen ist der Strom der Auswanderung in die EU gerade wegen der Visumspflicht geringer. Und ein Visum ist oft sehr schwer zu bekommen, von einer Aufenthaltserlaubnis ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass die Menschen große finanzielle Schwierigkeiten haben, weil russische Bankkarten gesperrt sind und in Europa nicht funktionieren. Estland und Kroatien erteilen Visa für so genannte „digitale Nomaden“, also wählen vor allem IT-Spezialisten diese Länder. Litauen und Polen gewähren politisch Verfolgten humanitäre nationale Visa.

„Jetzt hat auch die Bundesregierung eine neue Regelung für die unkomplizierte Aufnahme von Russen verabschiedet, die in ihrer Heimat besonders gefährdet sind. Wichtig ist, dass es nun möglich sein wird, ein Visum zu beantragen, ohne sich in Russland aufzuhalten, sondern zum Beispiel von der Türkei aus. Das ist ein sehr guter Schritt, denn die Menschen konnten in Russland kein Visum beantragen, weil sie einfach schnell das Land verlassen mussten. Darüber hinaus beherbergen die EU-Länder ganze unabhängige Medien. In Russland wurden inzwischen mehr als 100 Medien geschlossen“, so Anastasia.

„Die Arche“ ist ein Crowdfunding-Projekt, es gibt keine Sponsoren. Deswegen können Anastasia und ihre Kollegen ihre Arbeit nur für fünf Wochen im Voraus planen. Und hoffen, dass sie auch weiterhin Spenden erhalten werden. „Aber wir bleiben nicht stehen“, sagt sie. „Jetzt starten wir ein neues Projekt: wir wollen eine Art Atlas über alle Antikriegsinitiativen von russischen Emigranten erstellen“.

Doch auch der russische Repressionsapparat bleibt nicht stehen. Auf Ersuchen der russischen Generalstaatsanwaltschaft wurde die Website des „Antikriegskomitees Russlands“ gesperrt. Genau dieses Portal enthielt Informationen über das Projekt „Die Arche“.

Daria Boll-Palievskaya/russland.news

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