Als Russland 1994 kurz vor Beitritt zur Nato stand

Als Russland 1994 kurz vor Beitritt zur Nato stand

Anfang der 1990er Jahre erwog die Regierung von US-Präsident Bill Clinton ernsthaft die Möglichkeit eines Nato-Beitritts Russlands. Das Haupthindernis war die deutsche Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Das deutsche Wochenmagazin Der Spiegel hat bisher vertrauliche Dokumente aus Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte sowie aus dem persönlichen Archiv eines der Beteiligten ausgewertet und berichtet, von welchen Überlegungen sich Clinton, Kohl, der russische Präsident Boris Jelzin und ihre Untergebenen damals leiten ließen und wie sie handelten.

Bereits 1991, vor dem offiziellen Zusammenbruch der UdSSR, verkündete Jelzin die Nato -Mitgliedschaft als Russlands „langfristiges politisches Ziel”. Ehemalige Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts (des von der UdSSR angeführten „Ostblocks”) erklärten dasselbe und der russische Außenminister Andrei Kosyrew forderte die US-Regierung auf, Russland genauso zu behandeln wie andere „neue Demokratien”.

Moskau glaubte, dass es seit den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 ein „Grundverständnis” gab: Russland (damals noch die UdSSR) würde die Hegemonie über Osteuropa aufgeben und der Westen würde es im Gegenzug als gleichberechtigten politischen und militärischen Partner anerkennen.

Die russische Seite glaubte, ihren Teil dieser informellen Vereinbarung erfüllt zu haben. Länder, die zuvor sowjetische Satelliten oder Sowjetrepubliken gewesen waren, strebten die Nato -Mitgliedschaft vor allem deshalb an, um Sicherheitsgarantien für den Fall zu erhalten, dass Russland sie wieder beherrschen wollte. Jelzin und seine Verbündeten hielten diese Befürchtungen für unbegründet und boten Clinton im Januar 1994 während seines Besuchs in Moskau eine überraschende Lösung an: Zunächst sollte Russland in die Nato aufgenommen werden, dann die anderen osteuropäischen Länder. Clinton war mit dieser Reihenfolge jedoch nicht einverstanden.

Auf dem Nato -Gipfel in Brüssel im Januar 1994 billigte das Bündnis das Programm „Partnerschaft für den Frieden” grundsätzlich, das eine militärische Zusammenarbeit mit den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts vorsieht. Strobe Talbott, der amerikanische Sonderbeauftragte für die ehemalige Sowjetunion und ein persönlicher Freund Clintons, flog direkt aus Moskau nach Brüssel. Er teilte den Verbündeten mit, dass die Vereinigten Staaten die Osterweiterung der Nato als beschlossene Sache betrachteten und Russland in zehn Jahren ebenfalls in das Bündnis aufgenommen werden sollte.

Bereits im August 1994, als die „Partnerschaft für den Frieden” ihre Arbeit aufnahm und Russland ein wesentlicher Teilnehmer des Programms wurde, berichteten deutsche Diplomaten aus Washington nach Berlin, dass die Positionen von Clinton und Talbott weder im Außenministerium noch im Pentagon noch in der CIA und nicht einmal im Weißen Haus selbst (offenbar im Nationalen Sicherheitsrat der USA) unterstützt wurden.

Die Aussicht auf einen Nato -Beitritt Russlands stieß bei den europäischen Verbündeten, insbesondere in Deutschland, auf viele Einwände: Bundeskanzler Kohl, Vizekanzler und Außenminister Klaus Kinkel sowie Verteidigungsminister Volker Rühe waren dagegen. Sie waren der Meinung, dass ein Beitritt Russlands zu einer starken Zunahme der internen Widersprüche innerhalb des Bündnisses führen und es somit handlungsunfähig machen würde. Die deutschen Politiker waren nicht zuversichtlich, dass Russland auf dem Weg der marktwirtschaftlichen und demokratischen Reformen bleiben würde. Sie befürchteten, dass Russland wieder zu einer Bedrohung für Europa werden könnte, wie es dies während des Kalten Krieges gewesen war. In diesem Fall wäre es sehr viel schwieriger, dem Land zu begegnen, da es dann Mitglied der Nato wäre, die ja gerade zu seiner Eindämmung geschaffen wurde.

Der Haupteinwand war, dass im Falle eines Konflikts zwischen Russland und beispielsweise China europäische Soldaten auf der anderen Seite des Kontinents in den Krieg ziehen müssten.

Wie Der Spiegel anmerkt, erhob die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Jahrzehnt später einen ähnlichen Einwand gegen die Aufnahme der Ukraine in die Nato – nur war Russland inzwischen an Chinas Stelle gerückt. Da Entscheidungen über die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO nur einstimmig getroffen werden, wurden weder Russland noch die Ukraine schließlich in das Bündnis aufgenommen.

Gleichzeitig vermied es die deutsche Regierung im Jahr 1994 sorgfältig, sich öffentlich gegen die Aufnahme Russlands auszusprechen, um die bilateralen Beziehungen zu Moskau nicht zu belasten. Als Kosyrew, ein glühender Befürworter der Integration Russlands in die westlichen Strukturen, seinen deutschen Kollegen Klaus Kinkel direkt nach dem Problem fragte, antwortete dieser, dass das Bündnis „im Moment” noch nicht bereit für den Beitritt Russlands sei, erhob aber keine grundsätzlichen Einwände.

Bundeskanzler Kohl vermied das Thema in seinen Gesprächen mit Jelzin hingegen vollständig. Jelzin sprach dieses Thema nicht an, da er der Meinung war, dass er die Unterstützung der Vereinigten Staaten habe. Gleichzeitig bemühte sich Kohl um den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, und hielt es für notwendig, Jelzin bei den für 1996 angesetzten Präsidentschaftswahlen zu unterstützen.

Während Kohl Clintons Ideen zur Nato-Mitgliedschaft Russlands für unvollständig hielt, war er mit dem polnischen Präsidenten Lech Wałęsa unzufrieden: Dieser verglich Russland mit einem Bären, den man in einen Käfig sperren sollte, und bestand darauf, dass sein Land so bald wie möglich der Nato beitritt, ohne die Interessen der Bündnispartner, insbesondere die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, zu berücksichtigen.

Kohl schlug vor, zunächst Polen, die Tschechische Republik und Ungarn in die Europäische Union aufzunehmen und die Nato -Erweiterung bis zum Jahr 2000 zu verschieben. Doch Clinton entschied, dass dies zu lange dauern würde. Infolgedessen begannen 1997 formelle Verhandlungen über den Beitritt der drei Länder zur Nato und sie wurden 1999 Mitglieder des Bündnisses. Der EU traten sie erst im Jahr 2004 bei.

Andrej Kosyrew schreibt in seinen 2019 erschienenen Memoiren (russische Übersetzung 2024), dass die Frage der Mitgliedschaft Russlands in der Nato für ihn ein „Lackmustest” war: Wenn die Nato ein Bündnis zur Verteidigung der freien Welt ist, dann ist sie kein antirussischer Block. Die Art und Weise, wie die Nato-Erweiterung organisiert wurde, überzeugte ihn davon, dass Letzteres zutraf.

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