Das jährliche Gespräch des russischen Präsidenten mit den Bürgern, der sogenannte „direkte Draht zu Wladimir Putin“, dauerte diesmal 3 Stunden und 42 Minuten. In dieser Zeit beantwortete das Staatsoberhaupt 70 Fragen, die über verschiedene Kommunikationskanäle eingingen. Insgesamt wurden mehr als zwei Millionen Fragen an den Präsidenten geschickt.
Umwelt, Außenpolitik, Energiepreise, die Arbeit der Duma und natürlich die Pandemie sowie die Impfkampagne standen dieses Jahr im Mittelpunkt.
Auf eine der Äußerungen Putins reagierte der Präsident der Ukraine. Putin sagte, dass er Ukrainer und Russen als ein Volk betrachtet. Wolodymyr Selenskyj drückte seine Uneinigkeit mit diesen Worten aus. „Wir sind definitiv nicht ein Volk. Ja, wir haben viele Gemeinsamkeiten. Wir haben einen gemeinsamen Teil der Geschichte, gemeinsame Erinnerungen, die Nachbarschaft, Verwandte, einen gemeinsamen Sieg über den Faschismus und gemeinsame Tragödien … Wir, ich wiederhole es noch einmal, sind nicht ein Volk“, sagte er in einem Interview. Wenn Russland und die Ukraine als eine Nation lebten, so Selenskyj, „würde in Moskau höchstwahrscheinlich Griwna das Geldmittel und über der Staatsduma würde eine gelb-blaue Flagge wehen“.
Russische Kommentatoren wiesen vor allem auf die technischen Probleme der Sendung hin. „Am Ende der ersten Stunde begannen alle, die die Live-Schaltung verfolgten, sich darüber zu beschweren, dass sie durch ständige Stummschaltungen, schlechte Kommunikation mit den Regionen gestört wurde. Besonders gelitten (im Sinne von gefreut) haben die Telegramkanäle, die ein solches Problem nicht haben konnten. Tatsächlich waren die Kommunikationspannen, da bin ich mir sicher, gut für den direkten Draht: Erstens haben sie gezeigt, dass er nicht „krumm“ ist. Alles war so, wie im echten Leben, man glaubte also an alles, was da geschah oder gesagt wurde. Und sollte das nicht das Hauptergebnis dieser Veranstaltung sein? Aber das, ich wiederhole es, hat mehr Spaß gemacht. Es war der erste so lebendige Draht“, meinte der Redakteur der Zeitung Kommersant Andrei Kolessnikow.
Der politische Analyst Abbas Gallyamow wies auch vor allem auf die technischen Probleme während der Sendung hin. „Die Hauptnachricht dieses Drahtes ist natürlich nicht der Inhalt der gestellten Fragen und der erhaltenen Antworten, sondern das völlige organisatorische und technische Versagen ihrer Organisatoren (ich spreche nicht nur von der Störung, sondern auch von Putins gescheiterten Versuchen, mit den Videoaufnahmen wie mit lebenden Menschen zu sprechen; und von den ständigen Versuchen der Moderatorinnen, ihn zu bitten, die Region zu wählen, die ihm eine Frage stellen soll, während der Präsident dazu eindeutig nicht bereit war, und so weiter). In einer anderen Situation hätten all diese Probleme irgendwie anders wahrgenommen werden können, aber im Kontext eines allgemeinen Rückgangs des Vertrauens in die Behörden werden sie als ein weiterer Beweis für die allgemeine Degradierung und als die Tatsache interpretiert, dass die Qualität der öffentlichen Verwaltung abnehmen. „Sie können nicht einmal einen direkten Draht zum Präsidenten organisieren, was soll man dann über den Rest sagen?“, wird der Mann auf der Straße sagen“.
Der linke Politiker Sergej UIdalzow nannte den „direkten Draht“ zu Wladimir Putin „psychotherapeutisch“ und von „wahltaktischer Natur“. „Die Aussagen klangen stromlinienförmig und beruhigend. Allerdings hat Putin die Kontroverse um das brennendste Thema des Tages – die Coronavirus-Impfung – noch nicht beseitigt. Sie scheint freiwillig zu sein, aber sie kann auch verpflichtend sein. Die Frage nach einer kostenlosen Versicherung der Bürger gegen mögliche Gesundheitsrisiken wurde nicht beantwortet, und es wurden keine Vorschläge für zusätzliche Anreize für die Bevölkerung gemacht, sich impfen zu lassen (anstelle von Zwang). Das bedeutet, dass die Spannungen in der Gesellschaft über die Frage des Impfens weiter bestehen werden“.
Der politische Analyst Sergej Markow zählte insgesamt 21 Ergebnisse der Show auf. Er glaubt, dass „Putin in großartiger intellektueller und körperlicher Verfassung ist. Er war ruhig und entspannt. Mehr als 3,5 Stunden sehr aktive Arbeit ohne Unterbrechungen im Live-Fernsehen – das halten nur wenige Menschen durch. Putin ist die wichtigste und letzte Hoffnung der Bevölkerung des Landes. Deswegen auch 2,3 Millionen Fragen“. Den Kommunikationsstil des Präsidenten nannte er „beruhigend“. „Der Grund ist, dass es zu viele Ängste in der Bevölkerung gibt und die Menschen beruhigt werden müssen. … Der Hauptzweck des direkten Drahtes ist es, vor den Wahlen mehr Positives zu geben, um die Partei Einiges Russland zu unterstützen, deshalb gibt es viele Hinweise auf die Partei“. „Es werden auch keine gravierenden Änderungen der Politik angezeigt“, folgerte der Politikwissenschaftler. „Das Gesamtergebnis ist, dass alles so bleibt, wie es ist, es wird sich nichts ändern. Jedenfalls wurde das nicht gezeigt.“
Der Kommentator der Zeitung Republica Andrej Sinizyn hatte ein „Gefühl der angehaltenen Zeit“ vom direkten Draht zu Wladimir Putins. „Nicht nur der gleiche Präsident, sondern auch die gleichen Themen und Probleme. All diese Abwasserkanäle, Vergasung, schlechte Straßen, undichte Dächer, Gehälter, Preise, Ökologie, Ukraine, die USA. Paradoxerweise ist dies das richtige Symbol für Putin: Die gestoppte Zeit ist sein Traum. Nur Naturkatastrophen wie das Coronavirus aktualisieren die Agenda – aber auch sie aktualisieren sie nicht wirklich, sondern beleuchten alte Probleme auf andere Weise. Auf der anderen Seite gibt es eine gewisse Entropie in der Show: Der Präsident interessiert sich immer weniger für diese alten Probleme, diese Kommunikation mit langweiligen Leuten, seine Augen leuchten nur noch bei Antworten auf internationale Fragen auf, und da achtet er nicht auf die Zuverlässigkeit der Fakten“.
[hrsg/russland.NEWS]

COMMENTS