„Nationalistische Reflexe“ – Michael Thumann vergleicht in seinem neuen Buch Putin, Erdogan und TrumpMichael Thumann

„Nationalistische Reflexe“ – Michael Thumann vergleicht in seinem neuen Buch Putin, Erdogan und Trump

Der Journalist, Buchautor und Außenpolitische Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit sprach mit russland.NEWS über sein jüngstes Buch Der neue Nationalismus. Wiederkehr einer totgeglaubten Ideologie. Thumann leitete von 2014 bis 2015 das Moskauer Büro der Zeit.

Herr Thumann, Sie haben ein Buch über die Gefahren des neuen Nationalismus geschrieben. Und ich dachte, islamistischer Fundamentalismus wäre die bedrohlichste Bewegung des 21. Jahrhunderts.

Der islamistische Fundamentalismus erschien zu Beginn unseres Jahrhunderts als die bedrohlichste Gefahr, das hing in den USA mit dem Angriff vom 11. September 2001 zusammen, in Russland mit dem Tschetschenienkrieg. Der militante Dschihadismus wütet weiter, das sah man zuletzt wieder in Frankreich und Österreich. Es ist eine große Gefahr, aber sie ist von lokal begrenzter Art. In meinem Buch „Der Neue Nationalismus“ schreibe ich über eine Gefahr, die von Staaten und politischen Führungen ausgeht. Sie ist von globaler Art. Dem Nationalismus sind im 19. und 20. Jahrhundert über 100 Millionen Menschen zum Opfer gefallen, es ist die tödlichste Ideologie der Weltgeschichte. Der neue Nationalismus des 21. Jahrhunderts ist weniger blutrünstig, aber führt auch heute zu Kriegen wie in der Ukraine, in Syrien oder jüngst in Bergkarabach. Der Nationalismus zerrüttet das Verhältnis der Staaten, er hat Großbritannien aus der EU getrieben, er hat Russland und die Ukraine zu erbitterten Gegnern gemacht und viele Menschenleben gefordert.

Sie halten den russischen Präsidenten Putin für einen Nationalisten wie Erdogan oder Trump?

Nach den Maßstäben des 20. Jahrhunderts sind diese Politiker gar keine Nationalisten. Putin und Erdogan haben sogar früher vor Nationalismus gewarnt. Putin bekannte sich dann aber in einem Aufsatz in der Nesavisimaya Gazeta von 2012 zum Nationalismus, Erdogan verbündete sich 2016 mit Nationalisten. Trump war ein ideologiefreier Geschäftsmann, der sich 2016 ein nationalistisches Programm für die Wahl zulegte. Sie sind „neue Nationalisten“, also Politiker, die den Nationalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt benutzen – eine opportunistische Wahl, um Macht zu erhalten oder zu erringen.

Und wo ziehen Sie die Grenze zwischen einem Staatsoberhaupt, der nationale Interessen seines Landes auch mit Druck verteidigt und sich als einen Patrioten versteht und einem Nationalisten?

Nationalismus spaltet meistens, während Patriotismus auch Bürger sehr verschiedener Herkunft einigen kann. Im Vielvölkerstaat Russland ist ethnischer Nationalismus eine Gefahr für das Ganze. Putin war sich dieser Gefahr stets bewusst, er betonte deshalb oft die russländische (rossijskaja) Tradition, unter die sich auch nichtrussische Völker fassen lassen. Während der heißen Phase des Konflikts mit der Ukraine 2014 ließ er dem russisch-ethnischen Nationalismus mehr Raum, später hat er diese Nationalisten wieder eingefangen, heute sind sie marginalisiert. Putin hat den russischen Nationalismus gewissermaßen verstaatlicht.

An einer Stelle schreiben Sie: „Alle Nationalisten eint: Immer sehen sie in den anderen die Schuldigen und sich als Opfer“. Ich möchte gern den Spieß umdrehen: der sogenannte Westen fühlt sich auch ständig von den „bösen Russen“ bedroht. Die Nato erweitert ihre Grenzen, immer unter der Prämisse, sich von dem Aggressor Russland schützen zu wollen. Alles die Frage der Perspektive also?

Der Opferkult wird von Nationalisten zur Mobilisierung des Volkes eingesetzt, die Erzählung, dass nur der andere schuld und man selbst ohne Fehl und Tadel sei. Dazu gehört das Narrativ, ausgegrenzt, missachtet und nicht respektiert zu werden. In Deutschland arbeitet die nationalistische AfD damit, in Polen die Regierungspartei PiS, in den USA Donald Trump, aus der russischen Regierung konnte man es auch hören. Was den umgedrehten Spieß betrifft: Ich weiß gar nicht, ob sich alle im Westen von „bösen Russen“ bedroht fühlen. In der Nato sind es vor allem Polen und die Balten, die sich von der Politik der russischen Regierung speziell bedrängt fühlen. Sie haben ihre historische Erfahrung mit Deutschland und mit Russland gemacht, wurden geteilt und besetzt. Deshalb suchten sie den Schutz der Nato und der USA. Die Deutschen sind dafür verantwortlich, dass 27 Millionen Sowjetbürger im 2. Weltkrieg starben. Einige Balten arbeiteten damals mit den Nazis zusammen. Die Sowjetunion hatte ihre Geschichte der Dominanz und Unterdrückung in Osteuropa. Am besten ist, wenn jeder auf die dunklen Flecken der eigenen Geschichte schaut. Das wäre der Perspektivwechsel, den ich mir wünsche.

Sie verwerfen auch die These, dass Putin zum Nationalisten u.a. wegen dem mangelnden Respekt seitens des Westens geworden ist. So ganz abwegig ist es aber nicht, allein wenn wir uns an seine Rede vor dem deutschen Bundestag im Jahre 2001 erinnern. Die Rede wurde mit Beifall unterbrochen. „Anhaltender Beifall – Die Abgeordneten erheben sich“, steht es im Protokoll der Rede. Doch was ist danach passiert? Der Westen ist nicht auf einen von seinen Vorschlägen eingegangen.

Ich glaube, es hat aus Russland und aus Deutschland viele Vorschläge für engere Beziehungen gegeben, die leider nicht verwirklicht wurden. Es ist eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten. Und dafür gibt es verschiedene Gründe, ich sehe die Schuld nicht nur bei einer Seite. Aber dass Russland seine Außenpolitik stark geändert habe, weil der Westen Putin keinen Respekt gezollt habe, glaube ich nicht. Russland ist einfach zu groß, als dass es Grundlinien seiner Politik davon abhängig machen würde, ob es nett behandelt wird oder nicht. Das ist eher ein Syndrom kleiner Staaten. In Russland ist vielmehr die Innenpolitik als Voraussetzung für die Außenpolitik sehr wichtig, so wie in den USA. Putin hat sich 2012 für den Nationalismus entschieden, als seine zuvor angewandte politische Methode nicht mehr funktionierte, dem Volk Stabilität und Wohlstand im Gegenzug für Loyalität zu geben. Vor den Wahlen 2012 sank Putins Ansehen stark. Der Nationalismus war eine Erzählung, mit der er seine Popularität auf neue Höhen brachte.

Glauben Sie also nicht, dass die Absicht, mit Russland aus der Position der Stärke zu reden immer dazu führen wird, dass ein russischer Präsident die nationalistische Agenda bedienen wird?

Ich glaube, dass Putin mit nationalistischen Reflexen so lange arbeiten wird, wie diese in Russland Resonanz finden. Er hat im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft mit anderen Erzählungen gearbeitet. Er ist ideologisch nicht festgelegt. Sobald eine andere Politikbegründung besser hilft, wird er diese benutzen. Es gibt Anzeichen, dass die nationalistische Agenda nicht mehr so wirkt wie 2014. In meinem Buch spreche ich von einem Verfallsdatum des neuen Nationalismus, das sich in mehreren Ländern beobachten lässt.

Was ist mit der russischen Mentalität? Neigen die Russen generell dazu, Nationalstolz liberalen Werten zu bevorzugen?

Nein, überhaupt nicht, es gibt eine große Tradition des russischen Liberalismus, die Dekabristen des frühen 19. Jahrhunderts, die Kadetten mit Pawel Miljukow an der Spitze nach der Revolution von 1905, die Liberalen der 1990er Jahre oder Wirtschaftsliberale wie Alexei Kudrin. Diese Leute waren und sind große Patrioten. Wie ich überhaupt den Stolz der Russen auf ihr Land, und zwar auf das, was in Russland für die Bürger geschaffen wurde, immer sehr geteilt habe. Ich tue mich dagegen schwer mit dem Stolz auf Russlands „Weltgeltung“, das ist eher Sache von Nationalisten, die sich ständig vergleichen müssen. Wahrer Patriotismus schaut nicht auf irgendwelche Siege in fernen Ländern, sondern darauf, wie sich das eigene Land entwickelt. Und wenn ich nach Russland reise und sehe, wie großartig sich zum Beispiel Moskau entwickelt hat in den letzten Jahren, dann freue ich mich mit den Moskauern über diese Stadt, in der ich lange und gern gelebt habe.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

von Michael Thumann ist vor kurzem erschienen:

Der neue Nationalismus. Die Wiederkehr einer totgeglaubten Ideologie, Die Andere Bibliothek, Berlin 2020.

 

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