Sein oder Nichtsein… das „zweite Geschlecht“?© Anastasia Byrka

Sein oder Nichtsein… das „zweite Geschlecht“?

[von Anastasia Byrka] Kurz vor dem Internationalen Frauentag und kurz danach melden Frauen aller Welt besonders häufig ihre Rechte an, oder sprechen sich besonders scharf zu diesem Thema aus. Sie wollen immer weniger das „zweite Geschlecht” sein und die Rollen des zweiten Plans, immer einen Schritt hinter den Männern, übernehmen. Und russische Frauen bestätigen das lebhaft.

Am 8. und 9. März fanden in Archangelsk und Krasnojarsk Demonstrationen zum Schutz der Frauenrechte statt. Die wichtigste Forderung von Aktivistinnen und Aktivisten ist, ein Gesetz gegen häusliche Gewalt zu verabschieden. Auch haben sie sich gegen häusliche Diskriminierung ausgesprochen, wenn eine Frau als „Spülmaschine“ und „Maschine für die Kinderproduktion“ wahrgenommen wird.

Was die Internetdiskussion zum Thema Feminismus angeht, werden im letzten Jahr im russischen Internet „Feminitive“ – die Nomen weibliches Geschlechts, die von stammverwandten Nomen männliches Geschlechts gebildet werden – weit diskutiert. Manche klingen lächerlich, herablassend und sogar witzig. Doch die Debatte um ihre Verwendung oder Nicht-Verwendung lässt nicht nach.

Apropos: Schon 1949 hat die französische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir in ihrem Buch „Das zweite Geschlecht“ die Fragen der Gleichberechtigung und des Verhältnisses der Geschlechter sowie des Umgangs mit Frauen über Jahrhunderte menschlicher Geschichte auf der Grundlage der Erforschung von Folklore, Mythologie, Philosophie und Psychologie untersucht. Kennzeichnend ist, dass in der Arbeit, die einige Zeit im „Index für verbotene Bücher” (herausgegeben von der römisch-katholischen Kirche) war, erzählt uns die Autorin, wie sich die Vorstellung von der Sekundarität von Frauen in Gesellschaft und Kultur formierte und wie Frauen diese zweitrangige Rolle gegenüber dem Mann tatsächlich selbst übernommen haben.

Dennoch entstand die Feminismus-Bewegung Ende des 18. Jahrhunderts, als während der Französischen Revolution erstmals die Frage nach den gleichen Bürgerrechten von Männern und Frauen gestellt wurde. Doch erst Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt die eigentlich organisierte Bewegung von Frauen Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika für ihre Gleichberechtigung. Das war auch der Beginn der ersten Welle des Feminismus. Die Bewegung bekam den Namen „Suffragismus“ – vom englischen Wort „suffrage“, das „Stimmrecht“ bedeutet. Die Suffragetten brauchten 70 Jahre harten Kampfes, ehe in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in den meisten Ländern der Welt Frauen Wahlrechte erhielten.

Laut des Buches von Galina Michalewa „Weibliche Bewegung in Russland: Gestern, heute und morgen“ bekamen russische Frauen, die auch an der Bewegung beteiligt waren, sie etwas früher – nach der Februar-Revolution 1917. Die Französinnen und die Italienerinnen mussten aber noch 25 Jahre warten. Eine wichtige Phase der Geschlechtergeschichte in Russland – die 20er Jahre, die von progressiven Experimenten und weiblichen Emanzipationen auf verschiedenen Ebenen berühmt wurden. Es wurde ein neuer Ehe- und Familienkodex verabschiedet, der Scheidungen zuließ, Männern und Frauen in der Ehe sowie ihren außerehelichen Kindern gleiche Rechte gab. Darüber hinaus wurden Schwangerschaftsunterbrechungen erlaubt und Verfolgungen der gleichgeschlechtlichen Beziehungen eingestellt.

Wie es im Buch von Valerie Sperling „Organisation von Frauen in modernem Russland“ steht, kam dann ein konservativer Rückschlag unter Stalin: Es wird das Scheidungsverfahren erschwert, 1933 ist die Abtreibung verboten (die Sterblichkeit durch heimliche Schwangerschaftsabbrüche steigt und bis 1940 stirbt jede zweite Frau an ihnen). So wird 1955 das Verbot aufgehoben. In den 70er und 80er Jahren entstehen im dissidenten Milieu zwei wichtige Frauenzeitschriften (aber religiös orientiert): „Frauen und Russland“ und „Maria“, in denen über Frauenarbeit und Mutterschaft aktiv diskutiert wird. Auch dank eines Gründers der modernen russischen soziologischen Schule, Igor Kon, beginnen Versuche der sexuellen Aufklärung, aber die hormonelle Kontrazeption steht den meisten Frauen bisher nicht zur Verfügung. Schließlich ändert sich das in den 90ern, und in der Mitte der Zweidrittel beginnt eine wichtige Phase des Online-Aktivismus: Es entstehen Gemeinschaften in „LiveJournal“, die sich dem Feminismus widmen – Vorbilder zahlreicher Blogs, die später im Zeitalter der sozialen Medien erscheinen.

Die 2000er Jahre wurden in Russland durch eine konservative Reaktion und religiösen Fundamentalismus auf die bereits eroberten Frauenrechte bekannt. Die bekannteste feministische Kampagne war eine öffentliche Aktion aus dem Jahr 2011, als sie gegen Versuche kämpften, Frauenrechte auf eine sichere medizinische Abtreibung zu verbieten. Ihre öffentlichen Aktionen und Demonstrationen unter dem Motto „Freie Mutterschaft“, sowie die Teilnahme an einer öffentlichen Anhörung in der Staatsduma führten dazu, dass die Versuche der Konservativen erfolglos blieben.

Ein wichtiger Schwerpunkt des Kampfes der russischen Feministinnen wird nun der Kampf gegen sexistische Vorurteile in der Gesellschaft. Seit 2010 gibt es in Russland den „Sexisten-Preis des Jahres“, für den viele bekannte öffentliche Persönlichkeiten nominiert werden können – übrigens neben Männern auch Frauen.

Man muss sagen: Trotz der Offensive der Konservativen wird die Mehrheit der russischen Jugend – sowohl männlich als auch weiblich – niemals zustimmen, in die Vergangenheit zurückzukehren. Sie teilen bereits Ideen gleichberechtigter Beziehungen und Wahlfreiheit. Es gibt Interesse an feministischen Gruppen und eine Zunahme der Zahl der Leute, die Feminismus unterstützen. Doch, nach wie vor, wird sich die russische Frau, die ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt, freuen, wenn der Mann den Platz abgibt, und gerne den von ihm vorgeschlagenen Sitz nutzen. Und auch im Restaurant wird das russische Mädel kaum „nein“ sagen, wenn ein galanter Kavalier sich dafür entscheidet, für sie – eine schöne Dame – zu bezahlen. Was ist das – wahrscheinlich, ein „gesunder Feminismus“?

[Anastasia Byrka/russland.news]

Quellen:

Galina Michalewa „Weibliche Bewegung in Russland: Gestern, heute und morgen“ (https://www.yabloko.ru/books/Womens-book.pdf)

Valerie Sperling „Organisation von Frauen in modernem Russland“ (https://books.google.de/books/about/Organizing_Women_in_Contemporary_Russia.html?id=OQL1V7S3hKoC)

„LiveJournal“ (https://www.livejournal.com/)

„Sexisten-Preis des Jahres“ (https://sexist-award.ru/)

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