„Rapunzel ist heruntergeklettert“ – russische Frauen im Spiegel der Soziologie

„Rapunzel ist heruntergeklettert“ – russische Frauen im Spiegel der Soziologie

Am 8. März wird in Russland der Internationale Frauentag groß gefeiert. russland.NEWS hat es zum Anlass genommen, um über die Lage der Frau, über Feminismus und über MeToo in Russland mit der Soziologin von der Higher School of Economics, Professorin Dr. Elena Rozhdestvenskaya zu sprechen.

„Setze nicht auf die Sucht nach der männlichen Anerkennung, setze dich auf das Gesicht des Mannes“. Mit diesem Werbeslogan als Appell an die Frauen hat die Firma Reebok im Februar für einen Skandal in Russland gesorgt. In russischen sozialen Netzwerken entbrannte eine Kritikwelle. Viele drohten der Marke, ihre Ware zu boykottieren.

Elena Rozhdestvenskaya: Die feministische Problematik kommt zu uns auf verschiedenen Wegen. Hier hat die Werbung ihre „Ufer“ verlassen und versucht durch Provokation ihre Verkäufe zu optimieren und neue potentielle Kunden anzusprechen. Die Instrumentalisierung dieses Themas sagt sehr viel über unsere Gesellschaft: wir erinnern uns daran nur im Zusammenhang einer Marketingkampagne. Aber ich würde trotzdem Reebok Danke sagen, dass es zu einer so heftigen und breiten Diskussion gekommen ist – über die Lage der Frau, über sexuelle Gewalt usw. Bis dato haben wir uns darüber nur in engen akademischen Kreisen unterhalten, es gab keinen Diskurs über latent existierende Themen. Jetzt ist Rapunzel aus ihrem Turm heruntergeklettert und wir können uns über verschiedene Narrative unterhalten.

Eine bekannte russische Feministin behauptet, dass Russinnen nur ein Ziel vor Augen haben: einen Ehemann zu finden.

Elena Rozhdestvenskaya: Dieses Bild ist schon veraltet. Noch vor einigen Jahren glichen soziale und demographische Trends in Russland denen im Westen, (Geburts- und Scheidungsraten, Lebenserwartungen und anderen Zahlen), außer einem: junge Frauen wollten so schnell wie möglich heiraten und Kinder bekommen. Alles andere war diesem Ziel untergeordnet.  Jetzt beobachten wir sowohl einen Ruck in der Gesellschaft als auch eine soziale Differenzierung. Das Alter bei der ersten Eheschließung bei Frauen in Russland ist um zwei bis drei Jahre gestiegen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Bei den bildungsorientierten Gruppen ist jetzt das Alter zwischen 25 und 30 „befreit“ von der Aufgabe, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Stattdessen kommt der Trend, die ersten Karriereschritte zu machen. Das hat natürlich mit dem Zerfall des ganzen politischen und sozialen Systems Anfang der 90ern zu tun. Die Mütter und Großmütter dieser Frauen konnten die Doppelrolle Frau und Arbeiterin erfüllen, weil alle Infrastrukturen dafür da waren. Jetzt kommt das Prinzip: erst eine Rolle, dann die andere. Außerdem ist die Toleranz für die Ehe ohne Trauschein in der Gesellschaft gestiegen. Kurz gesagt: es gibt keinen gesellschaftlichen Druck mehr, obwohl die ältere Frauengeneration das immer noch verlangt, weil sie dadurch sozusagen die Legitimierung ihres eigenen Lebensweges sehen.

Sie sprechen vielleicht von Moskau, aber in den Regionen…

Elena Rozhdestvenskaya: … gibt es ein unglaublich reiches soziales Leben. Novosibirsk, Samara, Tomsk, Saratow – auf wissenschaftlichen Konferenzen wundere ich mich oft über die Fortschrittlichkeit der Menschen dort.

Mag sein, dass man nicht mehr unbedingt mit 25 verheiratet sein muss, aber die Ehe als Ziel bleibt. Und viele Frauen sind bereit, alles dafür zu tun, sprich sich bis zur Unkenntlichkeit zu schminken, mit Botox vollzuspritzen und ein braves Mädchen zu spielen.

Elena Rozhdestvenskaya: Wir leben in einer Zeit, in der verschiedene Lebensmodelle möglich sind. Es gibt auch das Modell der Kommerzialisierung der Weiblichkeit. Aber das ist überhaupt nicht neu. Diesen Typus gibt es natürlich, aber im Unterschied zu den 90ern ist es kein Traumtypus für heutige Teenager. Sie haben ganz andere Vorbilder. Aber als Soziologin muss ich auch feststellen, dass es einen konservativen Trend in der Gesellschaft zu beobachten ist. Das ist typisch für Russland: wir laufen modernen westlichen Tendenzen hinterher, und mit einer bestimmten Regelmäßigkeit kehren wir zu konservativen Werten zurück. Und während dieses Rückgangs werden Archetypen unserer Kultur sozusagen freigelegt. Und da sehen wir eben die Orientierung auf Familie und Kinder.

Sie sagen, dass moderne junge Leute in Russland ganz andere Zukunftspläne und andere Orientierungen haben. Dabei fällt es auf, dass sogar ganz junge Russinnen unglaublich viel Wert auf ihr Äußeres legen.

Elena Rozhdestvenskaya: Auch emanzipierte Frauen unterliegen der Tradition mit ihren patriarchalen Bestimmungen. Einerseits demonstrieren junge Leute Orientierung auf Zukunft, Unabhängigkeit, neue Forme des Zusammenlebens. Auf der anderen Seite bleiben alte Modelle der Weiblichkeit. An der Higher School of Economics, wo ich tätig bin, haben Studentinnen gegen den Schönheitswettbewerb an unserer Universität erfolgreich protestiert. Der findet nicht mehr statt.

Aber während die MeToo Bewegung in den USA und in Europa große Bogen schlägt, wird in Russland darüber nur geschmunzelt.

Elena Rozhdestvenskaya: Das stimmt so nicht. Meiner Meinung nach hat MeToo eine regelrechte Diskussionsrevolution hervorgerufen. Damit haben wir mehrere Wunden aufgedeckt. Jetzt ist es möglich, darüber zu reden, und diese Welle ist nicht mehr zu stoppen. Das Thema der Sexualität war schon immer tabuisiert. Zu Sowjetzeiten herrschte ein absolutes Schweigen darüber. In den 90ern kam die Freiheit, gleichzeitig wurde Sexualität kommerzialisiert, was wiederum eine moralische Verurteilung mit sich brachte. Jetzt können wir einfach darüber diskutieren, die weiblichen Wünsche verbalisieren. Die Online-Plattformen machen es möglich, den Partner fürs Leben oder nur für eine Nacht zu suchen. Die Transparenz in der Diskussion über solche Themen wie Gewalt in den Gefängnissen oder die Polizeigewalt, das Vorantreiben der Gesetzte gegen Gewalt in der Familie, Untersuchungen der Verfolgungen von Homosexuellen in Tschetschenien – das alles haben wir der MeToo Bewegung zu verdanken. Und in dem die Gesellschaft solche Themen diskutiert, ist sie auf dem Weg der Genesung.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS

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