In europäischen Bibliotheken sind seltene Ausgaben russischer Literatur in großem Umfang gestohlen worden. Der Gesamtwert der verschwundenen Bücher übersteigt 2,8 Millionen Euro, wie die britische Zeitung The Guardian herausfand.
In den Jahren 2022 und 2023 stahlen die Täter etwa 170 wertvolle Bände von Alexander Puschkin, Nikolai Gogol und anderen Klassikern aus den Beständen Polens, Lettlands, Estlands, Litauens, Finnlands, der Tschechischen Republik, Frankreichs, der Schweiz und Deutschlands.
Die Taktik der Diebe war stets dieselbe: Sie verschafften sich mithilfe gefälschter Dokumente Zugang zu den seltenen Ausgaben und ersetzten sie anschließend durch Faksimiles oder stahlen sie direkt, indem sie Sicherheitslücken ausnutzten. Laut Staatsanwältin Laura Bellen vom Südlichen Bezirksgericht Estlands sind Bibliotheken „nicht daran gewöhnt, sich als Ziel von schweren Straftaten zu betrachten”.
Die Ermittlungen führten zu einer Gruppe georgischer Staatsbürger. Zu den ersten Verhafteten gehörte Beka T. Tsirekidze, der in Estland zu 3,5 Jahren Haft verurteilt wurde. Eine Schlüsselfigur war Michail Z. Zamtaradze, der 2023 verhaftet und 2025 in Litauen zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt wurde. Das Gericht befand, dass er als Teil einer organisierten Gruppe gehandelt habe. In der Verhandlung gab Michail Z. Zamtaradze an, den Auftrag eines gewissen Maxim Z. Zamtaradse ausgeführt zu haben. Dieser sei ein russischer Büchersammler, der ihn mit hochwertigen Fälschungen versorgt und die Diebstähle mit Kryptowährung bezahlt habe.
Trotz der Zeugenaussagen bleibt laut The Guardian die Frage offen, wer genau hinter dieser beispiellosen Serie von Diebstählen steckt. Staatsanwältin Bellen hält es für „ziemlich wahrscheinlich ist, dass es irgendeine andere Kraft hinter diesen Diebstählen gibt. Aber wir haben keine Hinweise darauf, wer das sein könnte“.
Um das kontinentübergreifende Rätsel des Bücher-Raubes zu lösen, bedurfte es eines Moments der gesamteuropäischen Zusammenarbeit. Im März 2024 richtete die EU-Verbrechensbekämpfungsagentur Eurojust ein gemeinsames Ermittlungsteam ein, das sich aus Polizisten aus Frankreich, Litauen, Polen und der Schweiz zusammensetzt. Georgien, das formell kein Mitgliedstaat der Agentur für grenzüberschreitende Kriminalität, sondern nur ein „operatives Partnerland“ ist, wurde ebenfalls zur Teilnahme eingeladen.
Diese Länder waren sich einig in ihrer Entschlossenheit, die Verbrechen aufzuklären, aber ihre Arbeitstheorien waren nicht unbedingt die gleichen. Wurden alle Diebstähle von denselben Personen begangen, oder hatten es die Behörden mit rivalisierenden Banden zu tun, die miteinander um die gleichen wertvollen Titel konkurrierten?
Handelte es sich um eine Gruppe von Kleinkriminellen, die sich die laxen Sicherheitsvorkehrungen zunutze machten, oder hatten die Ermittler es mit etwas Größerem zu tun, mit einem staatlich geförderten russischen Versuch, das über den Kontinent verstreute kulturelle Erbe zurückzuerobern?
Der Zeitpunkt der Diebstähle war beunruhigend. Sie begannen zwei Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine. „Meiner Meinung nach“, so der polnische Generalstaatsanwalt Bartosz Jandy, „ist es unmöglich, dass eine Gruppe von Dieben diese Aktion ohne die Beteiligung eines Staates initiiert hat“.
Vor einem Jahr wurde in Moskau ein Dekret Peters des Großen aus dem russischen Archiv für Militärgeschichte gestohlen. Unbekannte hatten eines der ersten Dekrete des Kaisers „über die Entlassung von Generalmajor Jegor Iwanowitsch Famentsyn aus dem Amt des Kommandanten von St. Petersburg und die Ernennung von Fürst Grigorij Alexejewitsch Urussow an seiner Stelle” ausgetauscht. Wenige Tage nach Bekanntwerden des Verschwindens wurde das Dekret bei einer Auktion in Frankreich ausgestellt und für mehr als 3.000 Euro verkauft.
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