Im Sommer 2024 schrieb Telegram-Gründer Pawel Durow, dass die monatliche Leserschaft von Telegram auf 950 Millionen Menschen gestiegen sei. Im Frühjahr waren es 900 Millionen gewesen. Derzeit wird gegen Durow ermittelt und er veröffentlicht keine Neuigkeiten über das Unternehmen, aber es sieht so aus, als hätte Telegram die Milliardengrenze überschritten.
Wie und wann wurde der Messenger zum wichtigsten russischsprachigen sozialen Netzwerk, zur wichtigsten Medienplattform und zur wichtigsten Nachrichtenquelle? Katja Kolpinets, eine russische Kulturwissenschaftlerin, die Neue Medien erforscht, analysiert für das russische Journalismus-Portal Republic den Siegeszug von Telegram.
Die Autorin des Buches „Die Formel der Träume. Wie soziale Netzwerke unsere Träume erschaffen“ beginnt mit der Zeit vor dem 24. Februar 2022, als Facebook von „Kämpfen um das Recht, als moralische Stimmgabel zu gelten, Posts mit Tags über einen neuen Arbeits- oder Studienort, Fotos von Reisen und Flashmobs aus der Quarantäne“ geprägt war.
Nachdem Meta, Mutterkonzern der Social-Media-Plattformen Facebook und Instagram, im März 2022 zu einer „extremistischen Organisation“ erklärt und verboten worden war, sank die monatliche Nutzerzahl von Instagram in Russland um ein Drittel, die von Facebook um mehr als zwei Drittel, und Telegram eroberte schnell die Führung.
An Facebook im Frühjahr desselben Jahres erinnert sich Kolpinets: „Chaos, Wut, Ohnmacht. Es gab nichts zu sagen, aber es war unmöglich, mit dem Reden aufzuhören. Fremde verlangten in den Kommentaren Antworten. Spontaner Hass auf die, die gegangen waren, und auf die, die geblieben waren“ – und andere „Empörungsausbrüche“.
In Zeiten der Facebook-Sperre wären „Neuigkeiten aus seinem kleinen Privatleben wie ein feierlicher Toast auf einer Beerdigung gewesen“. Man erwartete von einem, dass man Erklärungen abgab und keine vertraulichen Gespräche führte. Facebook als soziales Netzwerk, in dem sich „öffentlich Schimpfwörter ausspucken“ ließen.
Im März und April 2022 sei die persönliche Korrespondenz, die Zahl der Chats und Sprachnachrichten von Freunden und Bekannten bei Telegram sprunghaft gestiegen. Jeder wollte reden, Fragen stellen, Klatsch und Ängste austauschen Die Leute sprachen ununterbrochen über das, was sie störte – in vor Weiterleitung und Kopieren geschützten Chats.
Hier, mit einigen Abkürzungen, weitere Zitate aus der Analyse von Kolpinets: Am Ende des ersten Kriegsjahres war klar, dass Telegram für zig Millionen Menschen mehr war als nur ein Messenger mit Stickern und Gruppen. Es war nun eine vollwertige Plattform mit einem eigenen „Ökosystem, in dem persönliche und geschäftliche Chats neben einem verzweigten und komplexen System von Kanälen“ existierten. So hat sich ein herkömmlicher zu einem universellen Messenger entwickelt, der nicht nur den Austausch von Nachrichten, sondern auch die Erstellung öffentlicher Kanäle, Chats und Stories ermöglicht.
Innerhalb dieses Systems gibt es eigene Kommunikationsformen, ethische Codes, Monetarisierungs- und Werbesysteme, Nachrichtenverbreitungsnetzwerke sowie verifizierte und fragwürdige Quellen. Neben Privatpersonen und großen russische Zeitungen wie Wedomosti und Kommersant existieren große staatliche Sender neben kleinen Nischensendern von Freunden und Bekannten.
Bis Ende 2022 hatte Telegram einzigartige Formate für Militärberichterstattung, Nachrichten und Journalismus entwickelt: Streams mit Sprachnachrichten, Videoclubs und kurzen emotionalen Texten. Unter dem Eindruck einer unzensierten Berichterstattung gab es ein Sprechen „im Hier und Jetzt“, ohne Zensur und ohne Rücksicht auf die Erwartungen des Publikums. So etwas gab und gibt es in anderen Medien nicht. Der Begriff „Telegramjournalismus“ tauchte auf, und erregte Aufmerksamkeit und Resonanz.
Telegram-Kanäle bieten die Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, die einem persönlich wichtig sind – und zwar auf die Art und Weise, wie man es möchte. Hier ist eine neue Form der Öffentlichkeit entstanden, die einen zu nichts verpflichtet und die es einem ermöglicht, ein normaler Mensch zu sein und nicht der „Herrscher der Gedanken“ oder das „Gewissen der Nation“.
Telegram-Nutzer, vor allem auf kleinen Kanälen, sind nicht an der Rolle des Experten oder öffentlichen Intellektuellen interessiert. Man kann auf Abonnenten reagieren und mit ihnen in Dialog treten, Umfragen und Abstimmungen erstellen, Memes oder Screenshots von Filmen posten, wenn man gerade keine Lust zum Schreiben hat.
Jeder kann Kommentare und sogar Reaktionen deaktivieren und so deutlich machen, dass er nicht mit seinem Publikum kommunizieren möchte. Darüber hinaus gibt es kein algorithmisches Inhaltsranking und bis vor kurzem auch keine integrierte Werbung.
Sie können anderer Meinung sein, ohne gleich zu Feinden zu werden. Die Autoren von Nischen-Telegramkanälen erheben keinen Anspruch auf Hegemonie. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, es „ihren Leuten recht zu machen“ und gleichzeitig die Autorität eines unbequemen Gesprächspartners zu brechen.
Keine moderne Anwendung hat es bisher geschafft, eine derartige Kombination aus Nutzerkomfort, emotionaler Intelligenz und einer neuen Form des persönlichen Ausdrucks zu verbinden. Und dadurch Telegram zum Leitmedium der 2020er Jahre gemacht.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des einzigartigen lokalen Mikroklimas von Telegram ist die Tatsache, dass die Hand des Staates und des Marktes hier als letztes ankam: Eingebettete Werbung erschien Ende 2021 und Premium-Abonnements im Sommer 2022. Erst im September 2023 wurden Kanalbesitzer verpflichtet, ihre Werbung zu kennzeichnen. Erst im Januar 2025 mussten sich Kanäle mit mehr als 10.000 Abonnenten bei Roskomnadsor registrieren, um offiziell Werbung verkaufen zu dürfen. Und viele Nutzer ignorierten diese Anforderung, da sie bis heute keine Werbung auf ihren Kanälen verkaufen.
Hingegen war Facebook wie Instagram oder Twitter schon immer ein Raum starrer Konventionen. Während Instagram von einem verlangte, Routine und Alltag zu idealisieren, oder Twitter von einem verlangte, emotional auf Dinge zu reagieren, die einem eigentlich egal sind, verlangte Facebook von einem, sich an einen bestimmten Kreis zu halten. In den meisten Fällen ist eine Online-Persona auf Facebook mit einem beruflichen Kommunikationskreis verbunden. Daraus ergeben sich bestimmte Verpflichtungen in Bezug auf die eigenen Äußerungen und die Reaktion auf die Äußerungen anderer. Standardmäßig wird erwartet, dass man eine Meinung zu einem wichtigen Thema hat. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kreis setzt Grenzen, worüber man schreibt, wen man ‚liked‘ und kommentiert und wen man still aus der Ferne verfolgt. Eine Mixtur aus externer und interner Zensur.
In einer Zeit der Informationsüberflutung und insbesondere der Überflutung mit emotionalen Inhalten und Werbung bietet Telegram den Nutzern das Privileg, sich in seinem eigenen Tempo zu bewegen – sowohl auf der Ebene der persönlichen Kommunikation als auch auf der Ebene der Telegram-Kanäle.
Diese Möglichkeit besteht bei Facebook, Instagram oder Twitter nicht mehr. Hier wird die digitale Sozialität durch Personalisierungsalgorithmen strukturiert und die Nutzer müssen Empfehlungen folgen. Egal wie sehr man seinen Facebook-Feed personalisiert, man wird immer Werbung und Spam sehen. Bei Telegram sieht man nur seine Chats und Abonnements, und als Premium-Mitglied sieht man nicht einmal Werbung und hat die Möglichkeit, anderen Nutzern das Senden von Sprach- und Chatnachrichten zu verbieten.
Selbst wenn die Blockade von Meta in Russland aufgehoben würde, ist es schwer vorstellbar, dass Facebook seine Nutzer in großer Zahl zurückgewinnt. Dabei geht es weniger um die Werbung und das veraltete Interface, sondern vielmehr darum, wer und wie zum Diskutieren eingeladen wird.

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