Russland weiterhin in demografischer Abwärtsspirale© russland.news

Russland weiterhin in demografischer Abwärtsspirale

Der demografische Niedergang Russlands begann lange vor dem aktuellen Krieg. Aber Feindseligkeiten in dem Ausmaß, wie sie der Kreml in der Ukraine entfesselt hat, verschärfen sie.

Nach Angaben der russischen Statistikbehörde Rosstat war die Lebenserwartung russischer Männer im Jahr 2021 auf dem niedrigsten Stand seit 2014. Offiziellen Statistiken zufolge sterben russische Männer heute sechs Jahre früher als Männer in Bangladesch und 18 Jahre früher als Männer in Japan. Die Lebenserwartung russischer Jungen im Alter von 15 Jahren sank um fast fünf Jahre auf das gleiche Niveau wie in Haiti, schreibt The Economist. Dabei  liegt die Lebenserwartung in überwiegend muslimischen Republiken des Kaukasus wie Dagestan, Inguschetien und Tschetschenien deutlich höher als im Rest des Landes. Ein Mann in Inguschetien kann im Durchschnitt damit rechnen, 77,2 Jahre alt zu werden, während es im ganzen Land nur 65,5 Jahre sind.

Zum Bevölkerungsrückgang in Russland trägt auch der Geburtenrückgang in den letzten Jahren bei. So wurden in Russland im April 2022 fast 100.000 Kinder weniger geboren als im Jahr zuvor.

Tatsache ist, dass Covid-19 im Jahr 2021 maßgeblich zum Bevölkerungsrückgang in Russland beigetragen hat. In diesem Jahr starben mehr als 300.000 Menschen an der Krankheit, die laut offizieller Statistik insgesamt fast 400.000 Russen das Leben kostete. Eine Zahl, die allerdings viele für viel zu niedrig halten.

Im selben Jahr 2021, also noch vor dem Ausbruch des als kleine Militäroperation begonnenen Krieges in der Ukraine, brach der Bevölkerungsrückgang (die Differenz zwischen der Zahl der Sterbefälle und der Zahl der Geburten) in Russland alle Rekorde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und betrug 1.043.000 Menschen betragen. In absoluten Zahlen ist die Bevölkerung Russlands um 613.000 Personen zurückgegangen, da der natürliche Rückgang durch einen Anstieg der Zuwanderung um 430.000 Personen ausgeglichen wurde.

Doch im Jahr der großen Konfrontation, 2022, ist laut Rosstat etwas völlig Unerwartetes passiert. Der übliche Bevölkerungsverlust in Russland ist auf 600.000 Menschen gesunken.

Die offizielle Statistik scheint wenig glaubwürdig. Aber es gibt eine mehr oder weniger logische Erklärung für diese vermeintlich „gute“ Zahl im Vergleich zum Vorjahr.

Solche Schwankungen der Sterblichkeit innerhalb eines Jahres, vor allem nach unten, hat es in Russland noch nie gegeben. Selbst in den relativ prosperierenden Jahren der Stagnation und in den frühen Gorbatschow-Jahren, als es ein stabiles Bevölkerungswachstum gab.

Dafür gibt es keine objektiven Gründe. Natürlich kann man die Tatsache außer Acht lassen, dass die Sterblichkeit in Russland so stark zurückgegangen ist, weil die Covid-19-Epidemie abgeklungen ist. Wie bereits erwähnt, lag die Übersterblichkeit aufgrund dieser Seuche im Jahr 2021 bei über 300.000 Todesfällen im Land. Wenn wir diese Zahl von den 540.000 Todesfällen im Jahr 2022 abziehen, stellt man fest, dass die Sterblichkeitsrate in Russland im vergangenen Jahr aus völlig unbekannten Gründen um 240.000 Menschen gesunken ist, was in der modernen Geschichte Russlands ebenfalls noch nie vorgekommen ist. Und dieses erfreuliche Ereignis fand vor dem Hintergrund eines groß angelegten Krieges statt, den das Land führt.

Es gibt keine andere Erklärung als gezielte Versuche, die Bevölkerungsstatistik zu korrigieren. Dabei ist noch nicht einmal erwähnt, dass alle öffentlich zugänglichen Zahlen von Rosstat über Sterblichkeit und Ableben keine Zahlen über Kriegsverluste „in Friedenszeiten“ enthalten, weil das russische Gesetz deren Veröffentlichung verbietet. Und in Russland ist offiziell immer noch „Friedenszeit“.

Die russische Volkszählung vom Oktober/November 2021 ergab eine Zahl von 147.590.600 Einwohnern. Darin ist auch die annektierte Krim enthalten. Hätte die Volkszählung nur in den international anerkannten Grenzen Russlands stattgefunden, wären es über zwei Millionen weniger gewesen.

Am 1. Januar 2023 registrierte Rosstat jedoch eine Gesamtbevölkerung von 146.424.729. In absoluten Zahlen ist die Bevölkerung Russlands im Jahr 2022 also um 1.165.871 Menschen zurückgegangen.

Es sei darauf hingewiesen, dass der starke Rückgang der verfügbaren Bevölkerung Russlands vor dem Hintergrund eines massiven Zustroms von Flüchtlingen aus der Ukraine in das Land erfolgte. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind im Jahr 2022 fast 2,9 Millionen Ukrainer auf verschiedenen Wegen (zum Teil unfreiwillig) in die Russische Föderation eingewandert. Nach der internationalen Methodik, die Rosstat zur Zählung der Bevölkerung des Landes anwendet, umfasst der Begriff „Bevölkerung“ alle Personen, die sich auf dem Territorium des Landes aufhalten, ausgenommen Transitreisende. Dazu zählen also auch Ausländer und Staatenlose.

Doch selbst mit dem Zustrom der Flüchtlinge aus der Ukraine und dem massiven Rückgang der Pandemie-Todesfälle ist die Bevölkerung Russlands laut Rosstat im Jahr 2022 in absoluten Zahlen um mehr als 1,16 Millionen Menschen geschrumpft – ein neuer Rekord seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Zahlen sprechen für sich.

Der Rückgang der russischen Bevölkerung ist natürlich nicht nur auf die sinkende Lebenserwartung und Verluste im Krieg zurückzuführen, sondern auch auf die massive Auswanderung von Russen in andere Länder. Zwischen 500.000 und 1 Million Menschen meist junge, gebildete Menschen sind vor dem Krieg ins Ausland geflohen.

Nimmt man die Pandemie, den Krieg und Abwanderung zusammen, so dürfte Russland in den letzten drei Jahren zwischen 2020 und 2023 zwischen etwa zwei Millionen Menschen mehr als normal verloren haben, also zusätzlich zum normalen Bevölkerungsrückgang des Landes.

Wie sich der Bevölkerungsrückgang langfristig auswirken wird, ist schwer vorherzusagen. Laut The Economist wird es für Putin zunächst schwieriger, seine Streitkräfte in den nächsten drei Jahren um 350.000 Soldaten aufzustocken, um größere „Kriegsoperationen“ durchzuführen. Langfristig wird Russland eine kleinere, weniger gebildete und ärmere Gesellschaft werden, in der die Menschen mit 60 sterben und die Jungen fliehen.

Die Wurzeln der Krise liegen 30 Jahre zurück. Im Jahr 1994 erreichte die Bevölkerung mit 149 Millionen Menschen ihren Höchststand. Seitdem sinkt die Bevölkerungszahl kontinuierlich. Setzt sich dieser Trend fort, könnte die Bevölkerung nach UN-Angaben in 50 Jahren auf 120 Millionen sinken.

Krieg und Emigration führen auch zu einem immer unausgewogenerem Geschlechterverhältnis. Heute leben in Russland 10 Millionen mehr Frauen als Männer.

Der Bevölkerungsrückgang Russlands im Januar 2023 belief sich auf 64.000 Menschen. Bei dieser Rate wird der Rückgang Ende des Jahres 750.000 Menschen betragen.

[hrsg/russland.NEWS]

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