Wird Greta Russland einen oder entzweien?

Wird Greta Russland einen oder entzweien?

Spätestens seit dem letzten Freitag ist die schwedische Klima-Ikone Greta Thunberg auch in Russland angekommen. Wenn am 27. September nur wenige Aktivisten an den Kundgebungen teilnahmen und die russischen Nachrichtenmedien das Thema weitgehend ausklammern, erwacht unter Intellektuellen aller Couleur wachsendes Interesse an der jungen Kassandra. Arschak Makitschjan, ein 22-jähriger Geigenspieler und Initiator des russischen Ablegers von Fridays for Future geht davon aus, dass die Bewegung in seinem Land noch immer nur etwa 50 bis 100 aktive Mitglieder zählt. An den diversen Aktionen vom Freitag nahmen wohl insgesamt etwa 1000 Personen teil.

Manche Kommentatoren interessiert nur Gretas von der Statistik abweichendes Sozialverhalten und empfehlen aus Sorgen um ihr Seelenfrieden den Rückzug aus dem Mediengewitter und, da sie „sie eine psychiatrische Diagnose hat“, den Beistand von Therapeuten – „damit kein Unglück passiert“.

Andere ärgern sich, dass Greta Thunberg zuallererst eine Schülerin ist, und daher überhaupt keinen Platz in der Politik hat. Dies zu unterstützen sei „politische Pädophilie“. Die gesamte kurze, aber lebendige Biografie von Greta Tunberg „scheint eine Verletzung der Grundwerte und Prinzipien der russischen Politik“ zu sein, kommentiert der russische Politikwissenschaftler und Publizist Fjodor Krascheninnikow.

Nicht wenige, zumindest in den sozialen Medien, sehen in dem eigenständigen schwedischen Schulmädchen „eine unglückliche Marionette, hinter den Kulissen  einer finsteren Welt, ihrer Eltern, der Linken und in den Händen vieler mehr. Ein Mädchen, insbesondere ein junges, kann nur Gegenstand von Manipulationen sein, nicht aber Gegenstand von Politik.“

Die Rezensentin Julia Latinina beschreibt in der Nowaja Gazeta Greta als „unausgeglichenen Teenager, dem der Erfolg den Kopf verdreht habe. Selten habe die Welt eine so bedeutungslose und kindliche Rede gehört. Und, Teenager mit einer solchen Psyche nutzen alle totalitären Ideologien gern aus. Teenager mit diesem verzweifelten Wunsch, sich auf Kosten der Erwachsenen zu behaupten, kombiniert mit Suggestibilität und Infantilität.“ Nicht nur „Stalin war sich der Vorteile bewusst, Teenager zur Spionage bei den Eltern zu nutzen. Auch Mao Zedong war „ein wahrer Meister im Umgang mit Jugendlichen, um die totalitäre Einstimmigkeit einzuführen“.

Auch dürfe Greta nicht über Wissenschaft reden, so Latinina. Denn, „in keiner Wissenschaft gibt es 16-jährige unausgeglichene Mädchen, die vom UN-Podium Erwachsenen die Schuld für alle imaginären Probleme der Welt geben. Ebenso verwendet keine Wissenschaft Techniken aus dem Arsenal totalitärer Regime mit dem Ziel, Einstimmigkeit in die Gesellschaft einzuführen. Deshalb brauchen wir hier nichts über „Wissenschaft“ zu sagen: „Kinder zu benutzen, um die Gesellschaft zur Einstimmigkeit zu zwingen, ist ein klassisches Zeichen für totalitäre Ideologien.“ Fehlen in diesem Rundumschlag darf natürlich nicht der Vorwurf, dass nach von ihr initiierten Aktionen Berge von Müll zurückblieben.

Dass eine Frau so hart urteilt, hindert russische Frauen wie Elena Stafijewa nicht daran, den Verfassern von verärgerten Kommentaren über das unsympathische Kind „patriarchales Bewusstsein“ zu attestieren. Greta entspreche nicht der traditionellen Gleichstellung der Geschlechter: „Hübsche Mädchen gingen zu erwachsenen Onkeln und baten sie, zu helfen und zu schützen. Greta Thunberg ist nicht hübsch und fragt niemanden – sie fordert.“ Das verursache solch aggressive Gereiztheit.

Für Kirill Martinow sieht es nach den wütenden Reaktionen seiner Landsleute auf die UN-Rede von Greta Thunberg so aus, „als sei Russland stolz darauf, ein Land zu sein, das in der Vergangenheit steckt“. Martinow glaubt, für viele Russen sei Thunberg eine Aktivistin, die darum kämpfe, „unsere persönlichen Freiheiten zu rauben – wie das Recht, Müll aus unseren Autos zu werfen. Um von Gretas Rede wirklich geschockt zu werden, müssen wir die Rückständigkeit unserer sozialen Entwicklung definitiv akzeptieren.“ Die Ideen, die gerade aus Europa kommen sind, nicht zum ersten Mal in der Geschichte, radikal und ansteckend. Und wenn sich „Russlands Jugend der europäischen Bewegung für verantwortungsbewussten Konsum anschließt, werden die Vorurteile unseres Landes über das gute Leben endgültig besiegt, so schmerzhaft das auch sein mag“. Vielleicht wird das Entstehen einer mächtigen ökologischen Bewegung in unserem Land der „Prolog einer neuen russischen Demokratie“ sein.

Zuallererst ist Greta Tunberg eine „Versuchung für Millionen von sehr jungen und weit von der Politik entfernten Menschen, sich dafür zu interessieren, was die aktuellen Eliten in ihrem Namen und in ihrem Namen tun. Selbst für entwickelte Demokratien ist Umweltaktivismus multipliziert mit jugendlichem Maximalismus eine ernsthafte Herausforderung, so Krascheninnikow.“ Demnach verwundert es nicht, dass Greta Thunberg auch einige westliche Beobachter zu haarsträubenden Kommentaren veranlasste. Die meisten deutschen Konservativen und auch die Ultrarechten spotteten oder versuchten wie der CDU-Politiker Friedrich Merz, Thunberg zu pathologisieren. Besonders drastisch ist die Einlassung des ehemaligen SZ-Karikaturisten Dieter Hanitzsch, der jeglichen Einfluss des CO2 auf das Weltklima leugnet und Thunberg als „geistig gestörtes Kind“ diffamiert, schreibt Peter Nowak. Für die BILD-Zeitung rechnete heute der schwedische Forscher Björn Lomborg mit Klima-Greta ab. Der französische Präsident Emmanuelle Macron hatte das bereits getan und auch Ole von Beust durfte per BILD bei der lieben Greta nach „Demut und Respekt“ anfragen.

„Die Geringschätzung der weitreichenden Folgen für Russland ist durch die weltweite Klimabewegung und jüngere Ereignisse einer realistischeren, ernsteren Betrachtung gewichen. Zu eindeutig sind die statistischen Daten auch für die Erwärmung in Russland, die immer häufigeren Kapriolen des Wetters“, schreibt Markus Ackeret von der NZZ. In einem 2014 veröffentlichten Bericht warnte der russische Wetterdienst Roshydromet, dass sich das Land mehr als doppelt so schnell erwärmt wie der Rest der Welt. Im Jahr 2000 verzeichnete der russische Wetterdienst 141 „schwerwiegende Unwetterphänomene.“ Damit sind alle außergewöhnlichen Wetterverhältnisse gemeint, die die Sicherheit des Menschen gefährden und signifikante Zerstörungen anrichten könnten. Im letzten Jahr verzeichnete Russland insgesamt 580 solcher Extremwetterereignisse. Auf einem Klimaforum im September wies Russlands Präsidentenklimaberater Ruslan Edelgeriew darauf hin, dass die globale Erwärmung in diesem Jahr dem Agrarsektor des Landes 9,5 Milliarden Rubel (134 Millionen Euro) Schaden zugefügt hat – hauptsächlich durch Waldbrände und Dürren. Eine im Dezember 2018 durchgeführte Umfrage ergab, dass 84 Prozent ​​der russischen Bürger vom Klimawandel gehört haben, während fast zwei Drittel der Ansicht sind, dass er ernst ist und sich ereignet. Mehr als die Hälfte der russischen Bevölkerung ist der Meinung, dass die Menschen daran arbeiten sollten, den Klimawandel zu stoppen. Dennoch wird der Klimawandel im gesellschaftlichen Diskurs Russlands eher randständig geführt. Bei einer Umfrage über die wichtigsten Herausforderungen Russlands erreichte die sich verschlechternde Umweltsituation nur den neunten Platz. Sogar die Opposition des Landes ignoriert das Thema weitgehend. Das Wahlprogramm des Oppositionsführers Aleksei Nawalni erwähnt den Klimawandel nicht mit einem Wort. Verwunderlich, da Ökologie für die russischen Behörden ein unangenehmes Thema und seine Politisierung tabu ist, was wiederum leicht zu verstehen ist, da die meisten Schadstoffe für die Umwelt „aus Strukturen stammen, die eng mit den wichtigsten Geschäftsfeldern der Regierung verknüpft“ sind.

Nowak warnt zurecht vor einer Gretamanie. Und vor denjenigen, „die jede kritische Anmerkung an Thunbergs Auftritt als Sakrileg empfinden und die Jugendliche wie eine Heilige behandeln, die man nur andächtig zu bestaunen hat“.

Ob so eine „Outsider-Figur“ Russland einen oder entzweien wird? Das hängt von den russischen Medien ab und der Moderation aus dem Kreml. In Sachen Müll ist Russland seit den Ereignissen im Frühjahr 2018 vor den Toren Moskaus auf der Deponie Volokolamsk sensibilisiert. Drakonische Strafen gegen potentiell schulschwänzende Kinder in Russland ließen das Vertrauen in die Machtzentrale weiter erodieren. Würde es eine durch Greta bewirkte Vergrößerung der Risse in der russischen Gesellschaft geben, dann die der zwischen Jung und Alt. Dann würden Mädchen mit Zöpfen vermehrt unangenehme Fragen stellen und von den Behörden, die an ihre eigene Unfehlbarkeit glaubten, etwas verlangen.

[hrsg/russland.NEWS]

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