Wer schoss die 777 ab?

Wer die malaysische Boeing 777 über dem Donbass abschoss – darüber gibt es zwei Wahrheiten. Die, die im Westen verbreitet wird und die in Russland. Im Gegensatz zu deutschen Mainstream-Medien oder dem russischen Staats-TV maßen wir uns nicht an zu entscheiden, wer da schon einen Tag nach dem Ereignis im Besitz der ultimativen Wahrheit ist, listen aber Behauptungen und Fakten beider Seiten auf. Als einzige gemeinsame Basis dient die Tatsache, dass vom Boden aus nur das Flugabwehrsystem „BUK“ in der Lage ist, in solcher Höhe Flugzeuge abzuschießen. Das natürlich beide Seiten vor Ort besitzen. Und natürlich die russische Armee. Wer seines woher hat, da fangen die Unterschiede schon an.

Die Westversion

Beide Seiten setzen fort, durch geschickte Auswahl der präsentierten Nachrichten einen bestimmten Eindruck zu erwecken, der den eigenen Verbündeten von Schuld rein wäscht. Fangen wir mit dem Westen an, der das Vorhandensein des mutmaßlichen Raketenabwehrsystems bei den Separatisten, eine zurückgezogene Abschussmeldung auf einer Facebookseite, die Herrschaft der Rebellen über den Absturzort und ein angebliches Telefonat zweier Separatistenkommandeure als ihre „Beweise“ für einen Abschuss durch die Rebellen ins Feld führt. Diese Version führen wir hier nicht weiter aus – wer sich für Details interessiert, muss nur die Tagesschau, N-TV oder ähnliche einschalten, wo diese Version im Dauerprogramm läuft. Noch extremer läuft es übrigens bei CNN oder Fox News, wo Behauptungen entgültig zu Tatsachen mutieren. Gemäß solcher Sender hätten die Technik-unkundigen Separatisten ohne russische „Helfer“ die BUK-Raketen gar nicht abschießen können, womit man die Argumentationskette sogar damit abschließen kann, das nicht die Separatisten, sondern Russland Zivilflugzeuge abschießt. Rechtskonservative deutsche Presseorgane wie der Focus greifen sogar diese These auf, während sich da die öffentlich-rechtlichen (noch) zurück halten. Noch weiter gehen westukrainische Politiker der Euromaidan-Partei „Vaterland“, die meinen, Russland hätte absichtlich die Maschine abgeschossen als Gegenreaktion auf die gestern beschlossenen Sanktionen. Interessant ist, dass ein Hinweis, dass auch die ukrainische Armee über zahlreiche im Donbass stationierte „BUK“-Systeme verfügt, in den meisten Berichten fehlt. Auch eine Konstruktion einer russischen Lieferung der Raketen findet sich in den Berichten begeisterter Euromaidan-Unterstützer wie der ARD, natürlich nur als „Möglichkeit“, wie alles, was man gegen die andere Seite in die Luft werfen möchte und keine Beweise dafür hat. Aber es wäre ja für die eigenen Ziele einer wirkungsvollen Euromaidan-Unterstützung „echt cool“, angesichts der Rückschläge  der letzten Tage wie durch die Merkel-Attacken aus der Ukraine.

Die Ostversion

Nun kommt die separatistische und russische Darstellung, die sich russische TV-Zuschauer ganztägig anschauen können, die deutschen aber gar nicht kennen. Natürlich erfährt auch das russische Publikum wiederum die Indizien „gegen“ die Separatisten nicht, höchstens gleich mit „Widerlegung“. Die von den Rebellen erbeuteten BUK-Raketen seien laut russischen Medien gar nicht funktionsfähig gewesen, Augenzeugen hätten ein ukrainischen Kampfflugzeug gesehen, die ukrainische Armee sei auf hoch fliegende russische „Spionageflugzeuge“ aus gewesen, von denen sich schon lange vermute, dass sie in ihrem Luftraum unterwegs seien und deshalb höchst verdächtig. Auch sei das Flugzeug an fünf Flarak-Stellungen der Ukrainer vorbei geflogen, von denen insgesamt 27 mit BUK-System existierten. Der Absturzort sei nicht der Abschussort gewesen – sagen russische Militärexperten, die natürlich nicht gerade neutral sind. Die übrigen Waffensysteme der Rebellen wiederum hätten ein so hoch fliegendes Flugzeug auch nicht erreichen können. Erinnerungen kommen dann auch noch hoch an den versehentlichen Abschuss einer russischen Zivilmaschine durch die Ukrainer 2001, natürlich absichtlich in Erinnerung gerufen durch das kremltreue Staats-TV, aber nicht weniger wahr, nur weil es von Propagandisten aufgewärmt wird. Immer wieder taucht der Bewohner von Grabowo in den Nachrichten auf, einem Dorf in der Nähe, der gesehen haben will, dass ein Kampfjet die Boeing abschoss (fliegende Kampfjets besitzen nur die Regierungstruppen). Dieser „Beleg“ ist in etwa natürlich genauso wenig überprüfbar, wie der Telefon-Gegenbeweis, der nun durch die deutschen Mainstream-Medien geistert. Durchaus möglich ist, dass man auf beiden Seiten nun fleißig Beweise „kreiert“. Auch aus Russland sollen richtig abenteuerliche Meldungen nicht verschwiegen werden, wie eine über einen eigentlich geplanten Anschlag auf die russische Präsidentenmaschine, den die angeblichen ukrainischen Schützen nur mit der malaysischen Regierungsmaschine wegen einer sich überschneidenden Flugroute verwechselt haben. Die ganze Story haben wir extra in einem eigenen Artikel ausgelagert – übrigens berichten wir ebenso über Meldungen, die wir nicht glauben, sonst wäre auch dieser Artikel wesentlich kürzer.

Und die Wahrheit?

Wo liegt die Wahrheit? Wer in Euromaidan- und Rebellen-unabhängige ukrainische Onlinezeitungen schaut, wird dieses mal auch nicht schlauer. Politnavigator, Tajmer und andere berichten einfach wie wir beide Versionen, weisen auf deren Widersprüchlichkeiten hin und hüten sich davor, sich festzulegen. Politnavigator etwa meldet, dass man natürlich kaputte Raketensysteme reparieren kann, aber auch die ukrainische Armee in der Tat in den letzten Tagen recht hysterisch wegen russischer Spionageflugzeuge war – die in ähnlich großen Höhen unterwegs sind. Neutralität wäre in der Tat die beste Haltung, die man jetzt annehmen kann. Wenn denn nur alle so handeln und nicht aktuell mit riesiger Wucht versuchen würden, den tragischen Tod von 295 Menschen politisch auszuschlachten – wie die US- oder russische Regierung und die ihnen jeweils nahe stehende Presse. Interessant ist allerdings, warum der Luftraum über einem Bürgerkriegsgebiet allgemein geöffnet ist, wenn man weiß, dass beide Seiten über Luftabwehr verfügen, die einen solchen Flieger auch „versehentlich“ herunter holen kann. Oder fiel diese Erkenntnis doch gestern erst mit der Boeing vom Himmel? Behauptet wird ja momentan etwas anderes, nämlich z.B. dass man ja schon seit einiger Zeit weiß, dass die Rebellen BUK-Systeme haben, die funktionieren (Konsequenzen VOR einem Abschuss?). Den Luftraum der Krim oder des Gaza-Streifens umfliegen westliche Gesellschaft schon sehr lange, obwohl sie eher ungefährlicher sind, als dieses Kriegsgebiet. Oder hielt man es offen, weil man ja den Eindruck eines Bürgerkriegs vermeiden will? Das wäre eine sehr fahrlässige Handlungsweise, die nun zumindest mitschuld am Tod von fast 300 Menschen ist – wer auch immer die Hauptschuld trägt.

Es ist zu hoffen, dass nach diesem Abschuss-Schock wenigstens endlich eine echte Waffenruhe eintritt. Nicht nur, damit diese Tragödie in Ruhe und von einer neutralen Seite untersucht werden kann. Sondern vielmehr, weil sonst an jedem weiteren „normalen“ Tag im Donbass aktuell Menschenmengen in dieser Größenordnung sterben – auch ohne versehentlichen Flugzeugabschuss. Einfach am Boden und einfach durch den Krieg, den manche auch „Krise“ oder „Anti-Terror-Operation“ nennen.

Foto: Wikimedia Commons

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