Vor 100 Jahren: Lenin mischt die Revolution auf

[von Lothar Deeg] – Im April 1917 betrat eine entscheidende Figur die politische Arena im revolutionären Petrograd: Wladimir Uljanow alias Lenin kehrte aus dem Exil zurück nach Russland – und riss ein halbes Jahr später mit seinen Bolschewiken die Macht an sich.

Heute haben die Russen [wieder] ein durchaus positives Bild von dem Berufsrevolutionär, der auf den Ruinen des Zarenreiches im Chaos des Revolutionsjahres 1917 die Grundlagen für einen kommunistischen Sowjetstaat schuf, der zur Weltmacht avancierte und über 70 Jahre Bestand haben sollte: Nach einer jetzt veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada-Center sehen 57 Prozent der Russen Lenins Rolle in der Geschichte positiv [2006 waren es nur 40 Prozent]. Als negativ bewerten Lenins Aktivitäten 22 Prozent.

Kein Wunder, dass die allerorten in Russland seit den Sowjetzeiten zum Stadtbild gehörenden Lenin-Denkmäler nicht nur aufgrund des Gewöhnungsfaktors für eine große Mehrheit inzwischen sakrosankt sind: Nur 14 Prozent plädierten in der Umfrage für deren Demontage – 79 Prozent waren dagegen.

Lenins erste Rede 1917

Der Urtyp dieser Leninstatuen – sechs Tonnen schwer und aus Bronze – steht seit 1926 vor dem Finnländischen Bahnhof in St. Petersburg. Denn hier war Lenin am Abend des 16. April 1917 [alle Daten nach dem heutigen Kalender, in Russland war es damals der 3. April] nach zehn Jahren im Exil angekommen. Von seinen Anhängern begeistert gefeiert, hielt er vor dem Bahnhof sogleich eine flammende Rede. Als Podest diente ein Panzerwagen revolutionärer Soldaten.

Seit 1907, nach der gescheiterten Revolution von 1905, hatte Lenin seine Bewegung– so viele waren es nicht, manche Historiker bezeichnen die damaligen Bolschewiken als „extremistische Sekte“ – aus dem Ausland gesteuert. Er lebte in Paris, in Galizien und dann, faktisch seit Beginn des Ersten Weltkriegs in der Schweiz.

Des Kaisers Coup: Lenins Reise im „verplombten Waggon“

Nach dem Sturz des Zarenregimes in der Februar-Revolution hatte die deutsche Reichsregierung darauf gehofft, ihr russischer Kriegsgegner würde zu einer Beendigung der Kämpfe bereit sein – was es dem Kaiser ermöglich hätte, seine Truppen alle an die Westfront zu werfen. Doch die in Petrograd amtierende provisorische Regierung aus bunt zusammengewürfelten bürgerlichen und sozialistischen Kräften scherte nicht aus den Reihen der Alliierten aus und setzte den Krieg fort. In dieser Situation kam man in Berlin auf die Idee, besonders radikale russische Revolutionäre aus der Emigration zurück nach Russland zu schleusen, damit diese dort maximales Chaos anrichten würden – und im Erfolgsfall einen Separatfrieden mit Russland ermöglichen würden.

So entstand – höchst operativ – das Projekt der Reise im sogenannten „verplombtem Waggon“: Am 9. April fuhren 32 russische Emigranten, darunter Lenin, von Zürich zur deutschen Grenze und stiegen dort in einen Eisenbahnwaggon um, der zwar nicht gänzlich verplombt war, in dessen Innern aber ein Kreidestrich die Abteile der Gruppe als „exterritoriales Gebiet“ markierten. Von Sassnitz setzten die Revolutionäre ins neutrale Schweden über und fuhren anschließend auf dem langen Landweg hoch durch den Norden ins russisch beherrschte Finnland – und weiter nach Petrograd. Nach und nach durften damals 400 russische Emigranten mit verschiedenen Zügen Deutschland im Transit durchqueren.

Lenins Aktionsplan: Die Aprilthesen

Lenin war zweifellos ein Macher – und voller revolutionärem Elan: Vom Bahnhof ging es gleich ins nahe Hauptquartier der Bolschewiken, die von revolutionären Gruppen besetzte Luxus-Jugendstilvilla der geflohenen Primaballerina Mathilda Kschessinskaja. Dort verkündete Lenin umgehend die Kernpunkte seiner radikalen Forderungen und seine Strategie – die sog. „Aprilthesen“ in zehn Punkten: Die wichtigsten waren:

Beendigung des Krieges. Alle Macht dem Proletariat und den verarmten Bauern, also den Sowjets. Kampf gegen die Provisorische Regierung. Schaffung eines Sowjetsystems anstatt einer parlamentarischen Republik. Eine Agrarreform mit Enteignung der Grundbesitzer und Nationalisierung alles Ackerlandes. Verstaatlichung aller Banken. Kontrolle der Sowjets über die Warenproduktion und Verteilung der Lebensmittel. Schaffung einer revolutionären Internationale.

Am 20.April 1917 veröffentlichte die „Prawda“ Lenins Thesen. Nach und nach schwor der aus dem Exil zurückgekehrte Ideologe alle Parteigliederungen der Bolschewisten auf dieses überaus radikale Programm ein. In der politischen Öffentlichkeit, auch unter Sozialisten, wurde Lenin jedoch wegen seiner unrealistischen Radikalität kritisiert. Gemeinhin war man in den linken Kreisen nach Marx‘ Lehre der Meinung, das Proletariat müsse erst einmal unter den Bedingungen einer demokratischen kapitalistischen Gesellschaft erstarken, bevor es den Anspruch erheben könnte,. die Geschicke des Landes zu lenken. Lenin verfolgte hingegen die Idee, schnellst möglich die Macht zu ergreifen, wenn sich dazu im aktuell herrschenden politischen Vakuum eine Gelegenheit ergeben sollte. Für die Umsetzung seines Planes brauchte er nur ein halbes Jahr.

Nutznießer der Deutschen – oder gar Agent?

Lenin Eintritt in Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch“, drahtete der Leiter des deutschen Nachrichtendienstes in Stockholm stolz an den Generalstab in Berlin. Winston Churchill soll sich später erregt haben, die Deutschen hätten Lenin „wie einen Pest-Bazillus“ nach Russland geschmuggelt.

In dieser Zeit flossen immer wieder größere Geldsummen auf verschlungenen Wegen über teils obskure Mittelsmänner an russische revolutionäre Kreise. Ein deutscher Agent, der im Auftrag der deutschen Heeresführung handelte und vielleicht gar aus Berlin ferngesteuert wurde, war Lenin deshalb nicht – auch wenn diese historische Verschwörungstheorie wohl eine der beliebtesten ist, die bis heute je in Umlauf kam.

Im November 1917 ergriffen die Bolschewiken jedenfalls in der Oktoberrevolution die Macht. Und das deutsche Kaiserreich schloss mit dem jungen Sowjetstaat seinen Separatfrieden im März 1918 in Brest-Litowsk: Lenin war zu allen Zugeständnissen bereit, nur um seinen Sowjetstaat am Leben zu halten. Lange konnte sich die Berliner Reichsführung daran allerdings nicht erfreuen: Im November 1918 war erneut Revolution – nun aber schon in Deutschland.

[Lothar Deeg/russland.news]

COMMENTS