Vladimir Galaktionovič Korolenko – der erste russische Menschenrechtler Teil II

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Hier der erste Teil von »Vladimir Galaktionovič Korolenko – der erste russische Menschenrechtler«

Fast zwei Monate später kam Vladimir Korolenko in dem etwa 6.000 km Luftlinie von Moskau entfernten Dorf Amga (300 km südöstlich von Jakutsk) an. Auf dieser „Reise“ lernte er schlimmste Gefängnisse kennen, einsame trostlose Dörfer, deren Zeit irgendwann in der Vergangenheit stehen geblieben zu sein schien, skurrile Menschen ebenso wie offene und herzliche, aber auch die großartige, gewaltige, ewig anmutende Natur; all das notierte er unermüdlich in seinen Tagebüchern, die später zu einer Fundgrube für seine Erzählungen wurden. Mit durchdringendem Blick erkannte er in den einfachsten, scheinbar alltäglichen Ereignissen das Bedeutsame und seine scharfe Beobachtungsgabe und vor allem seine Liebe zu den Menschen ließen ihn bei aller Komik mancher Begebenheit stets das Drama der menschlichen Einsamkeit und die Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben erkennen und auch ausdrücken.

In Amga wurde er herzlich empfangen. Hier lebten schon seit vielen Jahren Verbannte in Jurten (Nomadenzelten), deren Fenster statt Glasscheiben Eisscheiben hatten. Hütten oder gar Häuser gab es nicht. Und in für ihn typischer Weise trauerte er nicht ob seiner Verbannung, sondern war fasziniert von der Schönheit der Natur und der gewaltigen Sternennacht und freute sich auf die neuen und interessanten Dinge, die ihm bevorstehen würden. In einem Brief an seinen jüngsten Bruder schrieb er ein Jahr später:

So, nun werde ich Dir in einigen Zügen unser Leben schildern. Ja, das Jakutsker Gebiet! Übrigens ist es gar nicht so furchtbar und gar nicht so kalt, wie man es sich allgemein vorstellt. Freilich, jetzt herrscht hier eine Kälte, die, wie es scheint, 40° schon etwas überschritten hat. Aber ist man erst einigermaßen daran gewöhnt und hat man, was das Wichtigste Ist, wattierte Hosen und warmes Schuhzeug, so kann man schon ganz gut leben – um so mehr, als solche Kälte nicht lange zu dauern pflegt.

In diesem Augenblick ist es gerade Abend. Wir (ich und die Kameraden, mein Zimmergenosse ist Papin) sitzen in der Jurte, die schräge Wände hat. Inmitten der Jurte befindet sich die Herdstelle, auf der ein nie erlöschendes Feuer knistert. In die Fensteröffnungen sind Scheiben aus Eis eingesetzt, was übrigens sehr nett aussieht und am Tage genügend Licht gibt (mehr sogar als Fensterglas, das sich stark mit Eisblumen bedecken würde). Wir schreiben Briefe (übermorgen ist Posttag) und kochen auf dem Herd Kartoffeln, ein Produkt unseres eigenen Gemüsegartens.

Im Winter fertige ich Schuhe an. Im Sommer waren wir in der Landwirtschaft beschäftigt, in diesem Jahre mit zufriedenstellendem Erfolg. Unser Getreide wird für die Ernährung bis zur neuen Ernte ausreichen. So habe ich denn gelernt, wie man pflügt, eggt, mit der Sense mäht und mit der Sichel schneidet. Letzteres ziemlich schlecht. All das war gar nicht so sehr schwer. Wir haben selbst 14 Pud beackert (hier misst man den Grund und Boden nach Pud, indem man je Desjatine 8 Pud [je 103 Ar 130 kg] rechnet). Wir haben daraus und teilweise aus dem Boden, den wir im Tagelohn für den halben Ertrag bearbeiteten, mehr als 100 Pud [1,6 t] verschiedene Getreidesorten geerntet. Heu haben wir auch genügend eingefahren… Ich besitze ein Pferd… Ich habe gelernt, wie man es pflegt und einspannt, wie man Heufuder auflädt; reiten kann ich jetzt, wie man es nicht besser braucht…
Scherz beiseite – wirklich – ich fühle mich ausgezeichnet. Das wirst Du Dir auch leicht vorstellen können. Die Arbeit ist – besonders im Sommer – gesund. Manchmal leben wir ganze Wochen lang draußen bei der Mahd, etwa 5 Werst
[ca. 5 km] stromaufwärts, in ‚Hütten‘, die aus Gras und Weidengeflecht errichtet sind. Zuweilen fällt es einem ja schwer – nun, das ist ja nicht so schlimm. Am anstrengendsten sind die Erntearbeiten. Das Pflügen ist nicht schwer (besonders, wenn die Pferde schon eingewöhnt sind). Das Mähen ermüdet sehr stark. Eigentlich haben wir uns gar nicht überanstrengt. Einer von uns ritt immer gegen Abend nach Hause, übernachtete dort und versah sich mit Proviant (gekocht haben wir selbst; ich kann sogar jetzt ganz ordentlich Brot backen). Aber wenn wir bei Bauern mähen mussten, so kehrten wir ganz zerschlagen heim. Dafür ist diese Müdigkeit, die sich über den ganzen Körper verteilt, nicht so unerträglich wie z. B. die Rückenschmerzen bei Erntearbeiten. Außer dieser Beschäftigung befassten wir uns noch (ab und zu) mit der Jagd auf Hasen in der Taiga, wobei wir besondere selbst gefertigte Fallen verwendeten. Das waren Holzscheite, die mithilfe eines Systems kleiner Hebel zu einer Falle zusammengesetzt waren. Diese Jagd wird mehr im Herbst betrieben. Im Frühjahr legen wir im Flusse Reusen zum Fang von Fischen aus…
Besondere ‚Abenteuer‘ erleben wir nicht. Gewiss, ich bin zweimal vom Pferd gefallen, einmal überquerte ich auf dem Pferderücken den Fluss schwimmend, um ein vom Acker fortgelaufenes Pferd einzufangen. Zurück aber musste ich schon selbst den Fluss in Kleidern durchschwimmen, wobei ich das Pferd am Zaum hinter mir herzog. Einmal, bei Gewitter, als ich das Heu zum Trocknen aufstapelte, erschrak das Pferd, wobei ich so unglücklich unter den Wagen geriet, dass ich fast zwei Wochen lang den Rücken nicht richtig geradebiegen konnte. Doch alle diese Ereignisse sind erstens sehr unbedeutend, und zweitens waren sie auf Unerfahrenheit zurückzuführen. Jetzt falle ich nicht vom Pferd, reitend schwimme ich nicht durch den Fluss und, wenn gehalten wird, binde ich ein eingespanntes Pferd an. Überhaupt habe ich eine gewisse Erfahrung, gesammelt.
Ich nehme an, dass Du nun eine ungefähre Vorstellung von meinem Leben hast. Füge noch zwei Jahre hinzu, nach deren Ablauf ich von hier wegkommen werde – und Du wirst dann begreifen, dass ich den Mut nicht sinken lasse.

Wenn man auch davon ausgehen kann, dass Korolenko, um seine Familie nicht zu beunruhigen, nicht die schlimmsten Ereignisse geschildert hat (ein gefährliches Ereignis, das ihn damals beinahe das Leben gekostet hat, beschrieb er erst in „Die Geschichte meines Zeitgenossen“), so spricht aus diesem Brief doch eine gewisse Zufriedenheit mit der Situation, ja mehr noch, sogar Freude an den neuen Erfahrungen, die er hier sammeln konnte.

In einem weiteren Brief kann man schon das große schriftstellerische Talent und Korolenkos große Liebe zur Natur erkennen – und man kann nach dem Lesen dieser Zeilen eigentlich nur in Andacht verweilen und mit dem einsamen, aber hoffnungsvollen Menschen in der endlosen, unberührten Weite eins sein.

Heute ist der 21., d. h. der Tag, an dem in unser fernes Amga die Post kommt. Das ereignet sich nur einmal im Monat, und daher ist es verständlich, dass ich fortwährend aus meiner Jurte trete und in der Totenstille des frostigen Abends angespannt lausche.
Sieben Uhr. Am Himmel steht der Vollmond; in kaltem Glanze funkeln die Sterne. Über mir ist es ganz klar. Kein Wölkchen am hellen, kalten Himmel. Aber der Mond und die Sterne werden bald im dichten Nebel, der unten schon zusammen mit der immer stärker werdenden Kälte zur Amga heranwallt, verschwinden. Er hat schon die rings auf den Bergen stehenden Laubbäume eingehüllt und sich über die Wiesen ergossen. Wie ein sagenhaftes Ungeheuer erfasst und verschlingt er die ärmlichen Jurten Amgas – eine nach der anderen.
Amga schläft noch nicht. Es stellt sich, mit allen Mitteln gewappnet, der Kälte entgegen. Aus allen Schornsteinen steigen weiße Rauchsäulen auf – ein ganzer Heerhaufen! Gespenstergleich … Es quillt und wiegt sich leicht in der Luft. Durch die Fenster aus Eis schimmert das Licht der Herdfeuer. Die Feuerscheine flammen dann und wann stärker auf, wonach eine Funkengarbe in rasendem Wirbel den Schornsteinen in die frostige Luft entquillt; sie springen und tanzen, sie knistern und verlöschen wiederum hilflos – gepackt von der grausigen Kälte. Eine Feuer- und Rauchsäule nach der anderen versinkt im grauen, erbarmungslos kalten Nebel.
Alles entschwindet dem Auge. Dafür fängt das Ohr feinhörig das geringste Geräusch auf, das von irgendwoher – von den aus dem eisbedeckten Strom steigenden Felsen – dumpf herüberhallt… Jetzt krachte eben eine berstende Scholle, es ächzte die Lärche, vom eisigen Wind gerüttelt, und irgendwo, in der weiten Einöde der Taiga, bellte ein Fuchs. Aber am anderen Ende des Dorfes kreischte eine Tür, und danach ließen sich irgendwelche seltsamen Geräusche vernehmen. Der Schnee scheint laut vor Schmerz aufzuschreien, dann winselt und ächzt er gedehnt, als wenn er sich über sein bitteres Los beklagen wollte; dann schreit er wieder verzweifelt auf, um danach zu stöhnen – röchelnden, schweren Seufzern gleich. Früher, als ich zum ersten Mal diese Geräusche im Dorfe vernahm, konnte ich mir über ihre Bedeutung lange nicht klar werden, und ich muss bekennen, dass ein seltsames, beklemmendes Gefühl sich unwillkürlich in mein Herz einschlich. Jetzt weiß ich es: Das ist der lahme Jakute, der auf seinem Holzbein daherhumpelt…
Doch horch! Weit, ganz weit weg scheint ein Glöckchen zu klingeln; einmal, dann noch einmal… Es erstarb. Dann lebte es wieder auf, als ein leiser, doch reiner Trommelwirbel… Ja, das ist es. Zwischen den Bergen, durch die tiefen Schluchten jagt aus der Stadt die Post-Troika daher…
Ich trete wieder in die Jurte. Ich weiß, dass die Post noch sehr weit weg ist, aber schwer geht der Atem und der Dampf, der aus dem Munde quillt, erstarrt in der Kälte sofort zu silbrigem Reif.
Eine halbe Stunde später beherrscht der helle Klang der Glöckchen die aus dem Schlaf geschreckte Nacht. Was sind das für herrliche Töne! Wahrhaftig, mir kommt es so vor, als ob der die Musik des Kupferglöckchens nicht zu schätzen vermag, der nicht, wie ich, es von der Jurte her am dunkeln, kalten Abend vernommen hat… So klingt es z. B. auf einmal irgendwie dumpfer, sein Tönen ergießt sich in die Weite und nach oben, bis an den Mond hinan… Es übertönt mit seinen kupfernen Schellen all jenes Winseln, Stöhnen und Krächzen. Schon hört man auch das Getrappel der Troika: Das Mittelpferd läuft im schnellen Trab – die Beipferde rechts und links galoppieren, und die Schlittenkufen kreischen beim Gleiten über den Schnee.
Die Post fährt in die Dorfstraße ein. Das Dorf bereitet ihr einen freudigen Empfang …

Korolenkos Naturschilderungen – man muss besser sagen: seine Naturgemälde – sind nie Hintergrund für eine Handlung, nie Kulisse, sondern der meisterliche Ausdruck der Seelenzustände seiner handelnden Personen, die er nur aufgrund seiner Liebe zu und seines Einfühlungsvermögen in Natur und Mensch erfassen konnte.

Hier in Amga, in der sibirischen Einöde, in der Verbannung, erkannte er seine Berufung zum Schriftsteller und begann zu schreiben. Er, der bisher an seiner Eignung als Schriftsteller gezweifelt hatte, hörte um mehrere Ecken, dass der bekannte und von ihm verehrte Schriftsteller der Narodniki, Gleb Uspenskij, sein Manuskript „Das seltsame Mädchen“ in die Hände bekommen und hoch gelobt hatte; das machte ihm Mut und auch seine Kameraden in er Verbannung redeten ihm zu.
Hier schrieb er die Erzählungen „Sokolinez“, „Der Mörder“, „Eine Vagabundenehe“ (nach der Überarbeitung: „Marussjas Waldhütte“), „Kaiserliche Fuhrleute“ und „In schlechter Gesellschaft“; vor allem arbeitete er auch an seiner Erzählung „Makars Traum“.

Ende 1884 ging seine Verbannungszeit zu Ende, die Reise zurück aus der Verbannung war ebenso lang und unbequem wie die Reise dorthin. Doch in Moskau angekommen, begann sich das Blatt für Korolenko endlich zu wenden: „Makars Traum“ wurde von der seinerzeit größten, fortschrittlichsten Zeitschrift »Russkaja Mysl« (Russischer Gedanke) angenommen und hoch gelobt.

Mit seiner Familie ließ er sich Januar 1885 in Nishni Nowgorod nieder. Die folgenden Jahre waren die fruchtbarsten seines schriftstellerischen Schaffens: Schon in den ersten beiden Jahren erschienen u.a.: „Makars Traum“ – die Redaktionen aller Zeitschriften und Zeitungen rissen sich nach der Veröffentlichung um seine Mitarbeit, die Erzählung wurde in mehrere Sprachen übersetzt und begründete seinen Ruhm auch im Ausland –, „Die Osternacht“, „Der alte Glöckner“, „Eine weltferne Gegend“, „Der Mörder“, „In schlechter Gesellschaft“, „An der Werkbank“ (später: „At-Dawan“), „Sokolinez“, „Der Wald rauscht“, „Die Legende von Florus, dem Römer“, „Das Meer“ (später: „Ein Augenblick“), „Ein Paradoxon“ – in dem er ausgerechnet einen Krüppel mit dem Satz „der Mensch ist geschaffen für das Glück wie der Vogel für den Flug“ seine eigene Überzeugung ausdrücken lässt –, „Die Sonnenfinsternis“ – für deren Beschreibung er 1887 eigens nach Jurjewez reiste, um eine Sonnenfinsternis zu beobachten – und „Der blinde Musiker“. Diese letzte Erzählung wurde, wie schon „Makars Traum“, sofort in mehrere Sprachen übersetzt und bestätigte ihn auch im Ausland als großen Schriftsteller.

In dieser Zeit lernte er Lew Tolstoj und endlich auch Gleb Uspenskij kennen und schloss eine lebenslange Freundschaft mit Čechov; Černyševskij traf er noch kurz vor dessen Tod. Und im Jahr 1889 kam auch ein noch junger, unbekannter, großer, hagerer Mann mit strengem Gesicht zu ihm, um schüchtern um seinen Rat zu fragen. Jahre später beschreibt dieser Mann sein erstes Zusammentreffen mit Korolenko:

Drei Tage wütete der Schneesturm. In den Straßen türmten sich die Schneewehen zu gewaltigen Hindernissen, die Dächer der Häuser trugen Schneemützen, die Starkästen hatten silberne Häubchen, die Fensterscheiben waren wie mit einer Filigranarbeit überzogen, und am weißen Himmel strahlte, die Augen blendend, die kalte Sonne.
Wladimir Galaktionowitsch lebte am Rande der Stadt in der zweiten Etage eines Holzhauses. Auf dem Bürgersteig, vor der Treppe, arbeitete ein stämmiger Mann geschickt mit einer breiten Schaufel; er hatte eine Pelzmütze seltsamer Form auf, Ohrenschützer, einen kurzen, bis an die Knie reichenden, schlecht geschneiderten Schafpelz und schwere Filzstiefel.

Durch die Schneewehen stapfte ich zur Treppe. ,Zu wem wollen Sie?‘ ,Zu Korolenko.‘ ,Das bin ich.‘ Aus dem Gesicht, das von einem krausen, überreich mit Reif geschmückten Bart umrahmt war, blickten auf mich braune, gütige Augen. Gestützt auf die Schaufel, hörte er schweigend meine Erklärungen über den Zweck meines Besuches an. Beim Betreten der Treppe fragte er: ‚Ist es Ihnen nicht kalt? Sie sind sehr leicht angezogen.‘
Er führte mich in ein kleines Eckzimmer hinauf, dessen Fenster in den Garten gingen; dort standen dicht gedrängt zwei Schreibpulte, Bücherschränke und drei Stühle. Beim Überblättern meines dicken Manuskriptes, wobei er sich den nassen Bart mit dem Taschentuch abtrocknete, sagte er: ,Wir wollen das einmal durchlesen! Sie haben eine seltsame Handschrift: Rein äußerlich betrachtet ist sie einfach und deutlich, aber sie liest sich schwer?’
Das Manuskript lag auf seinen Knien. Er blickte von der Seite auf die Blätter, dann wieder auf mich. Mir war es peinlich.
‚Hier steht — »Zizkack«, das ist… anscheinend ein Schreibfehler. Ein solches Wort gibt es nicht, es gibt wohl »Zickzack«…‘
Eine kleine Pause vor dem Wort ‚Schreibfehler‘ zeigte mir, dass W. G. Korolenko ein Mensch ist, der das Selbstgefühl seiner Mitmenschen zu schonen versteht. Er sprach und blätterte im Manuskript:
‚Fremdwörter sollte man nur in den Fällen anwenden, wo man wirklich nichts anderes an ihre Stelle setzen kann; überhaupt ist es besser, sie zu meiden. Die russische Sprache ist genügend reich, sie verfügt über alle Mittel zum Ausdruck feinster Empfindungen und Gedanken.‘
,Was für ein strenges Gesicht Sie haben!‘ sagte er unvermittelt und fragte lächelnd: ‚Ist das Leben so schwer?‘ Seine weiche Aussprache unterschied sich stark von dem groben, an der Wolga üblichen Dialekt, in dem das ,O’ auch in unbetonten Silben voll ausgesprochen wird. Doch ich fand in ihm eine seltsame Ähnlichkeit mit einem Wolgalotsen – sie lag nicht nur in seiner kräftigen, breitschultrigen Gestalt und dem scharfen Blick seiner klugen Augen, sondern auch in der gutmütigen Ruhe, die den Menschen so eigen ist, welche das Leben wie eine Bewegung im gewundenen Flussbett zwischen verborgenen Sandbänken und Felsen beobachten.
,Sie erlauben sich oft grobe Worte – wahrscheinlich wohl deshalb, weil sie Ihnen in ihrer Wirkung stark vorkommen?‘
Ich sagte, dass ich es wisse, die Grobheit sei mir eigen, doch ich hätte weder die Zeit gehabt, mich selbst mit weichen Worten und Gefühlen zu bereichern, noch das Milieu, wo ich es hätte tun können….

Es war Maxim Gorki, der auch später noch Korolenko um Rat bat; in seinen „Erinnerungen“ schreibt er: Er sagte mir als erster gewichtige menschliche Worte über die Bedeutung der Form, und über die Schönheit des Satzes; ich war erstaunt über die einfache verständliche Wahrheit dieser Worte, und beim Zuhören wurde mir zum ersten Male klar, dass die Schriftstellerei keine einfache Sache sei.

Die Zeit seiner großen literarischen Erfolge machte Korolenko berühmt, wie es nur Tolstoj war, und wie dieser wurde er zu einer „Instanz“, die nur schwer angreifbar war. Und bald schon genügte ihm die Schriftstellerei allein nicht mehr. Er selbst, seine Familie und seine Freunde hatten Unrecht über Unrecht erfahren und unter Alexander III., der angetreten war, alle Ansätze von Demokratie, die sich bis dahin „eingeschlichen“ hatten, zu vernichten, feierte das Unrecht Urstände; der Einzelne galt nichts, Korruption und Schmiergeld waren die Norm, Staat und Behörden hatten immer recht. Bei Gericht gewann, wer mehr Geld und Beziehungen hatte; Arme verloren ihre Prozesse und wenn sie zehnmal im Recht waren.

Das ging gegen Korolenkos bereits angesprochenen Gerechtigkeitssinn. Er war berühmt im In- und Ausland, ihn konnte man nicht so einfach abservieren. Jetzt erschienen von ihm Zeitungsberichte, in denen er gesetzeswidrige Urteile anprangerte und auch sehr konkret darlegte, wer der Schuldige und wie das Recht gebeugt worden war. Seine Berichte waren hieb- und stichfest, niemand konnte ihm etwas anhaben und selbst seine schlimmsten Feinde – insbesondere Polizei und Justiz – mussten gestehen, dass er klug, gerissen und vorsichtig handelte. Häufig genug griff er durch seine Berichterstattung direkt in Prozesse ein und half denen, die in Gefahr waren, zu Unrecht verurteilt zu werden. Hier ging es nicht um „große Politik“; das Schicksal des Einzelnen stand im Mittelpunkt. Selbst Alexander III. musste auf die Beschwerde eines Ministers ironisch eingestehen: „Die Persönlichkeit Korolenkos ist sehr unzuverlässig, jedoch nicht ohne Talent.“ Dass sich das Wissen um Korolenkos Engagement auch in Windeseile verbreitete, war nur zu verständlich, und so kam es, dass er unentwegt um Rat und Hilfe gebeten wurde. Der Einsatz mit Leib und Seele fraß seine Zeit und zehrte zunehmend auch an seiner Gesundheit.

1891 und 1892 herrschte in weiten Teilen Russlands schwere Hungersnot. Korolenko fuhr – obwohl man ihn behördlicherseits mit Verlockungen abzuhalten versuchte (Drohungen wären wirkungslos gewesen, das wussten auch die Behörden) – in die betroffenen Gebiete und schrieb dann in Artikeln (die Presse war nicht mehr so leicht zu knebeln wie 40 Jahre zuvor), dass nicht, wie von Regierungsseite verlautbart, die Dummheit, Faulheit und Versoffenheit der Bauern die Ursache des Notstands war, sondern die behördliche Misswirtschaft und die Ausbeutung durch Gutsbesitzer und damit letztlich „das System“. In Folge seiner Presseberichte gingen Spendengelder ein und er richtete Mittagstische für Hungernde ein.

In dieser Zeit erschienen nur noch zwei Erzählungen: „Der Fluss regt sich“ und „Der Tscherkesse“.

1893 reiste Korolenko nach Schweden, England und Amerika. Produkt dieser Reise ist die Erzählung „Ohne Sprache“ (auch: „Der seltsame Mensch“). Auch in dieser Erzählung geht es nicht um politische, soziale oder nationale Unterschiede; es geht um einen einfachen russischen Bauern, der in Amerika ankommt. Korolenko selbst sagte, er habe festgehalten, wie sich Amerika einem einfachen russischen Menschen darstellt.

1895/96 waren wieder Korolenkos Gerechtigkeitssinn und sein Einsatz gegen den Rassenhass gefordert: In Wjatka (Udmurtien, südwestlich des Ural) war ein Bettler ermordet worden; seine Leiche fand man ohne Kopf und Herz. Die Polizei gab sich keine große Mühe, das Verbrechen aufzuklären, sondern machte einfach einen Ritualmord der heidnischen Udmurten daraus (denn Juden gab es in dem Gebiet nicht) und klagte wahllos zehn Bauern an. In einem offensichtlich manipulierten Prozess wurden die zehn Udmurten als Mörder verurteilt und es bestand große Gefahr, dass es in der Folge zu einem Pogrom gegen die Udmurten kommen würde. Korolenko zerpflückte den Prozess in der Presse, das Urteil musste aufgehoben und neu verhandelt werden. Er selbst trat als Verteidiger vor Gericht auf; die angeblichen Mörder wurden freigesprochen. Ihn selbst aber kostete das Engagement viel Kraft und sein Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter.

Alle Gelegenheiten aufzuzählen, bei denen sich Korolenko engagiert hat, würde hier zu weit führen – zumal er 1896 wieder nach St. Petersburg zog, wo ihn allein die Menge der Hilferufe zu erdrückten drohte. 1900 „flüchtete“ er in das abgeschiedenere Poltawa, um mehr Ruhe zum Schreiben zu haben. In dieser Zeit veröffentlichte er „Frost“, „Der letzte Sonnenstrahl“, „Das Nicht-Schreckliche“, „Kaiserliche Fuhrleute“ und „Bei den Kosaken“. Er sollte jedoch auch dort nicht zur Ruhe kommen: 1902 veranlasste Nikolaus II. (Zar seit 1894), dass Gorkis Ernennung zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften revidiert wurde. Korolenko reiste nach St. Petersburg, um zu intervenieren, und anschließend nach Jalta, um sich mit Čechov zu beraten. Dann gaben beide ihre Ehrenmitgliedschaft an die Akademie zurück. 1904 starb Čechov.

1905 begann Korolenko die Arbeit an seiner „Autobiografie“ (die er selbst nicht als eine solche gelesen wissen wollte, denn nicht er sondern seine Zeit sollte im Mittelpunkt stehen), aber die Forderungen an ihn rissen nicht ab. Er schrieb Artikel gegen die Erschießung von Arbeitern am 9. Januar in Petersburg vor dem Winterpalais (Revolution von 1905); gegen die Pogromagitation in Poltawa; gegen den Beamten Philonow, der die Bauern des Poltawaer Gouvernements misshandeln und erschießen ließ; gegen die Beschuldigung einiger Juden, sie hätten Ritualmorde begangen; gegen Misshandlungen der Revolutionäre in den Gefängnissen. 1910 schrieb er eine Artikelserie gegen die Todesstrafe und die Standgerichte, die in der Presse (auch der internationalen) unter dem Titel „Eine alltägliche Erscheinung“ in russischer, französischer, deutscher, italienischer und bulgarischer Sprache erschien. Tolstoj schrieb ihm darauf:

Wladimir Galaktionowitsch! Soeben ließ ich mir Ihren Artikel über die Todesstrafe vorlesen und konnte mich, so sehr ich mich bemühte, der Tränen, ja des Schluchzens nicht erwehren. Ich finde keine Worte, um Ihnen meine Dankbarkeit und Liebe für diesen – nach Ausdruck, Gedanken und, was die Hauptsache ist, Gefühl gleich vortrefflichen – Artikel auszusprechen. Man muss ihn in Millionen von Exemplaren drucken und verbreiten. Keine Duma-Reden, keine wissenschaftlichen Abhandlungen, keine Dramen und Romane werden den tausendsten Teil jener wohltuenden Wirkung hervorrufen, die dieser Artikel nach sich ziehen muss.

Im August des selben Jahres reiste Korolenko nach Jasnaja Poljana zu Tolstoj und im November zu seiner Beerdigung.

1912 wurde er wegen eines Artikels zu Haft verurteilt, das Urteil aber durch Amnestie aufgehoben. 1913 erregte erneut ein Prozess die Aufmerksamkeit Russlands und sogar der ganzen Welt: Der Jude Bejlis wurde beschuldigt, einen Ritualmord an einem christlichen Knaben begangen zu haben; in Wirklichkeit aber waren es Verbrecher gewesen, die sich an dem Knaben hatten rächen wollen. In seinen Artikeln zeigte Korolenko  die Machenschaften auf, mit der die Regierung eine Verurteilung erreichen wollte. Die Anklage brach zusammen, selbst die „gekauften“ Geschworenen mussten Bejlis freisprechen. 1914 konnte Korolenko endlich zur Kur ins Ausland fahren, wurde dort vom Kriegsausbruch überrascht und konnte erst nach eineinhalb Jahren nach Poltawa zurückkehren.
Während der revolutionären Jahre engagierte sich Korolenko gegen Pogromversuche, Hinrichtungen und Misshandlungen, rief eine Hilfsaktion für Kinder ins Leben und gründete Kinderkolonien, denn unzählige Kinder irrten heimatlos durch die Gegend.

Korolenko hat – wie sein Lebensweg zeigt – nie einer Partei angehört und auch nach der Revolution schloss er sich nicht den Bolschewiki an. Als man ihn 1920 aufforderte, an einem Kongress proletarischer Schriftsteller teilzunehmen, schrieb er den Veranstaltern:

Sie wünschen, mein Verhältnis zum bevorstehenden (Kongress proletarischer Schriftsteller) kennenzulernen. Ereignisse, welche die eine oder andere Klasse zur Vorherrschaft bringen, müssen natürlich in der Literatur ihren Ausdruck finden. Verändert sich das Leben, ändert sich auch sein Reflex. Aber im Laufe vieler Jahre, in denen mich meine redaktionelle Tätigkeit unter anderem auch mit Werken sogenannter ,Schriftsteller aus dem Volk’ bekannt gemacht hat, bin ich längst zu dem Schluss gekommen, dass die Herkunft eines Autors eine unbedeutende Rolle spielt. Die Hauptsache ist Aufrichtigkeit und Talent… Ein Schriftsteller muss vor allem Mensch sein; seine soziale Herkunft ist zweitrangig.

Und selbst in diesen gefährlichen Zeiten wagte niemand, ihn anzurühren. Im Juli 1921 richtete er auf Bitten Gorkijs noch einen Aufruf an die Welt, eine Bitte um Hilfe für die Hungernden.

Während der ganzen Zeit arbeitete er an „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ – 1909 war das erste und umfangreichste der vier Bücher herausgekommen (ins Deutsche übersetzt von Rosa Luxemburg während ihrer Festungshaft in Breslau, etwa ein Jahr vor ihrer Ermordung) – allein diese Arbeit schien ihn noch am Leben zu halten. Das letzte Kapitel konnte er nur noch in groben Zügen gestalten. Am 25. Dezember 1921 starb er in Poltawa; eine Lungenentzündung hatte sein Herz nicht mehr verkraftet. Er wurde 68 Jahre alt.

Die Erzählungen Korolenkos, Perlen der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, der Zeit des Realismus, unterscheiden sich grundsätzlich von jenen seiner großen Zeitgenossen, denen er zu seiner Zeit in Berühmtheit nicht nachstand. Während aus den Erzählungen Čechovs mit dem er trotz ihrer Gegensätzlichkeit eng befreundet war – immer eine pessimistische, melancholische Grundhaltung spricht, während Tolstoj moralischen und psychischen Problemen auf den Grund geht und teilweise das Sendungsbewusstsein eines Predigers offenbart, Saltykov-Ščedrin in bitterbösen Satiren seine Leser aufschreckt, Dostoevskij in Schuld und Sühne leidet, Leskov besonders die Geistlichkeit satirisch aufs Korn nimmt, sind Korolenkos Werke optimistisch, vom Glauben an das Gute im Menschen und an eine letztendlich sinnvolle Entwicklung durchdrungen, wie es in der oben zitierten Skizze „Lichter“ zum Ausdruck kommt. Dabei findet sich nirgends Schönfärberei, er ist bei allem ein echter Schriftsteller des russischen Realismus – und er ist der letzte dieser Epoche. Schon zu seinen Lebzeiten begannen die Dichter des Symbolismus und die revolutionären Schriftsteller, die Literatur vorrangig zu prägen.

Alle von Korolenkos Erzählungen sind selbst auch im Deutschen heute noch lesenswert, obwohl in der Übersetzung zwangsläufig die feinen Unterschiede, die die ukrainischen Ausdrücke machen, und die Melodik, ja fast Lyrik seiner Sprache nur mangelhaft wiedergegeben werden können. Seine Natur- und Stimmungsbilder sind selbst für einen nicht lyrisch interessierten Leser einfach fesselnd, ergreifend. Es ist aber nicht nur das stilistisch überragende Können Korolenkos, das seine Werke so lesenswert macht, es sind auch die Tiefe seiner Gedanken, das analytische Erkennen und Aufarbeiten der Probleme – wie zum Beispiel in der Erzählung „Der blinde Musiker“, die von ihrem Gehalt her eigentlich eine wissenschaftliche Arbeit ist und dennoch faszinierend – und nicht zuletzt das humorvolle, augenzwinkernde Annehmen der Menschen selbst in ihren schäbigsten Situationen.

Herausragend sind sicher seine Erzählungen „Makars Traum“, „Der blinde Musiker“, „Der Wald rauscht“, „In schlechter Gesellschaft“, „Der Tag des Gerichts“ und …
Eigentlich möchte man hier alle seine Erzählungen folgen lassen.

Mit „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ hat er ein Bild seiner Zeit geschaffen, das sich ebenso packend liest wie manch ein Roman; es ist ein Zeitdokument. Man muss es in einem Atemzug mit Tolstojs autobiografischer Romantrilogie und mit Aksakows und Herzens Memoirenwerken nennen.

 

Die Zitate sind folgenden Werken entnommen:
Wladimir Korolenko: Die Geschichte meines Zeitgenossen. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rosa Luxemburg. Zürich: Manesse, 1985
Wladimir Korolenko: Der Tag des Gerichts und andere Erzählungen. Übersetzt von Erich Müller-Kamp. Zürich: Manesse, 1967
Wladimir Korolenko: Der Wald rauscht und andere Erzählungen. Übersetzt von Bruno Goetz. Zürich: Manesse, 1954
Abram Derman(n): W. G. Korolenkos Leben. Berlin: SWA, 1947

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