Verschwörungstheorien aus der Sicht eines russischen Historikers

Verschwörungstheorien aus der Sicht eines russischen Historikers

Im professionellen Journalismusportal für russische Intellektuelle schlechthin, Republic , sprach der Politikwissenschaftler Artem Semtsow mit dem Historiker und Medienexperten Ilja Jablokow über sein jüngst erschienenes Buch Russische Verschwörungskultur: Verschwörungstheorien im postsowjetischen Raum. In dem Interview geht es um die russische und weltweite Tradition der politischen Verschwörungstheorien „von unten“ und „von oben“.

Hier einige ausgesuchte Kernthesen des Dozenten an der Universität Leeds:

Eine Verschwörungstheorie „ist eine Art, die Realität wahrzunehmen. Ich betone, dass dies eine der Wahrnehmungsmethoden ist, bei denen alle Ereignisse durch die Schuld einer Gruppe auftreten“. Ein weiteres Element gehört stets zur Logik dieser Erkenntnisgebäude: „Es muss einen geheimen Plan geben, der sich negativ auf die Gesellschaft auswirkt – das heißt, eine Verschwörung gegen eine Gruppe, deren Zustand es zu verschlechtern gilt. Eine Verschwörungstheorie setzt immer die Existenz einer geheimen Organisation voraus.“ Und „jede Verschwörungstheorie sollte ein Ziel haben – Märkte zusammenbrechen zu lassen, Europa zu schwächen, die Gesundheit der Nation zu untergraben usw.“

„Verdacht, Misstrauen gegenüber Informationen an sich ist keine Verschwörungstheorie.“ Das gehöre zum wissenschaftlichen Denken. Im Unterschied zu Wissenschaftlern, die bei Spekulationen während der Ursachenforschung „irgendwann aufhören und sagen können Ja, das könnte sein, aber dies ist nur eine der Hypothesen, hören Verschwörungstheoretiker meistens nicht mit der Bildung von Hypothesen auf. Und dadurch fehlen ihnen „sehr wichtige Elemente jeder Denkkette – transparente Methoden, die erst Schlussfolgerungen aus Hypothesen erlauben“.

Der These des Philosophen Frederick Jamison, der Verschwörungstheorien als einen alltäglichen Versuch zur Rationalisierung der Welt bezeichnet, stimmt Jablokow teilweise zu: „Durch Verschwörungstheorien können tatsächlich bestehende Probleme in einem bestimmten Bereich des öffentlichen Lebens erkannt werden, beispielsweise die Korruption der Macht und der herrschenden Eliten“.

Dementsprechend fordert er, „Menschen, die etwas Alternatives anbieten, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auch in grenzwertigen Einstellungen stecke eine Art Wahrhaftigkeit, die damit über einen wissenschaftlichen Wert verfüge“. Aber normative Wissenschaften wollen davon nichts wissen. Das treibt „die abgelehnten Menschen in geschlossene Gemeinschaften, aus denen oft Extremisten hervorgehen“, die ihre Radikalität damit erklären, dass niemand auf sie gehört hat. „Diese Situation schafft einen fruchtbaren Boden für radikale Verschwörungstheorien, für terroristische Organisationen, einschließlich radikaler Sekten.“

Auch er selbst habe Schwierigkeiten, andere Standpunkte zu ertragen. „Unsere Unfähigkeit, einander zuzuhören, die Unfähigkeit, in der heutigen globalen Welt richtig zu diskutieren, schafft die Voraussetzungen dafür, dass der Einfluss aller Arten von Verschwörungstheorien zunimmt. Trump, Johnson, Orban – alle gewinnen dank dessen. Aufgrund des Mangels an öffentlichem Dialog werden alle Arten von gefälschten Nachrichten so beliebt.“

Auf die Frage nach einer eigenen russischen Tradition in der universellen Geschichte von Verschwörungstheorien, verweist der Historiker auf viele Gemeinsamkeiten zwischen russischen und der amerikanischen Verschwörungstheorien. „Zuallererst ist dies der Messianismus“. In Sachen nationaler Identität gäbe es niemanden, der Russland nähersteht als die Vereinigten Staaten. Zudem sei „bis zum zwanzigsten Jahrhundert Amerika nie ein Feind Russlands“ gewesen. Bis dahin sei für Russland die größte Gefahr immer aus England gekommen.

Jablokow sieht in russischen und europäischen Verschwörungstheorien große Ähnlichkeiten. Zum Beispiel die gleiche „freimaurerische Verschwörung, die im Westen populär war und antisemitische Verschwörungstheorien“. Russland war eindeutig im europäischen Raum verwurzelt, als es die globale Bühne betrat.

Ein bemerkenswert ähnlicher Unterschied zwischen Amerikanern und Russen bestehe darin, dass für erstere vor allem ihre eigene Regierung der Initiator einer Verschwörung ist. „Die Russen stellen auch die Regierung an den Pranger – aber nicht ihre eigene Regierung, sondern die amerikanische. Alle Elemente und Klischees, auf denen Verschwörungen beruhen, sind aber beiden Ländern gemeinsam“. Merkwürdig erscheint dem Autor, mit welcher Flexibilität es Russland im globalen Kontext gelingt, „jede Verschwörungstheorie auf seine eigenen Besonderheiten umzustellen und sie für die aktuelle politische Agenda zu verwenden“.

Der zweite Teil handelt von dem Verhältnis der Verschwörungstheorien „von oben“, also von der Ebene der politischen Elite, und der „von unten“, die vom Alltag der Russen geprägt sind und von.

Interessant ist, wie Jablokow das Verhältnis der Verschwörungstheorien „von oben“, also von der Ebene der politischen Elite, und der „von unten“, die vom Alltag der Russen geprägt sind. Letzteres wird von Gelehrten als „urbane Folklore“ bezeichnet, die entsteht, wenn Leute zu „verstehen versuchen, was wirklich passiert“. Da sie über „keine Fähigkeiten verfügen, komplexe Ereignisse zu beeinflussen, greift die Basis auf Verschwörungstheorien zurück“. Und das um so mehr, je weniger die Regierung die Krise bewältigen kann. „Man dürfe nicht vergesse, dass jede Verschwörungstheorie auf Tatsachen basiert, um die dann alles andere herumgesponnen werde.“

Auf die These von Michel Foucault angesprochen, „der Staat ist der erste und bedeutendste Schöpfer von Verschwörungstheorien“, da der Wunsch der Behörden nach Undurchsichtigkeit“, Geheimhaltung und der Schaffung von Staatsgeheimnissen selbstverständlich sei, erklärt der Historiker, dass das, was wir Verschwörungstheorien „von oben“ nennen, zur „symbolischen Politik gehöre, die für alle modernen Staaten typisch ist“.

Die politische Elite versucht immer wieder, „Verschwörungstheorien als Instrumente der politischen Mobilisierung“ zu benutzen. Ob die Führung an ihre Schuldzuweisungen auf externe Gruppen selbst glaubt, bejaht Jablokow. „Zumindest sind sie äußerst bereitwillig, an sie zu glauben“. Der Restzweifel veranlasst sie jedoch zu großer Vorsicht.

Es gäbe aber auch Fälle echten Glaubens. Zum Beispiel als vor einigen Jahren der russische Präsident Wladimir Putin sagte, dass „Ausländer biologisches Material von Russen für ihre eigenen egoistischen Zwecke sammeln“. Da sei eigener „Glaube in den öffentlichen Raum eingebrochen“, was daran liegt, dass Menschen, die in Machtstrukturen gearbeitet haben, so denken. „Das wurde ihnen beigebracht und sie werden dafür bezahlt.“

Ende der neunziger Jahre habe eine Verschwörung „von oben“ als politisches Instrument der Manipulation und Mobilisierung begonnen. Wladimir Surkow und eine Vielzahl von Assistenten hätten dies in den 2000er Jahren aufgegriffen und eine Infrastruktur aufgebaut, „mit deren Hilfe Verschwörungstheorien zu Elementen realer Politik wurden“.

Das bedeutet, dass Verschwörungstheorien dank der von der Regierung selbst geschaffenen Infrastruktur institutionalisiert wurden. Sie gehören inzwischen zum politische Mainstream Russlands. Nachdem Russen viele Jahre lang der „Existenz von Verschwörungen versichert wurden, reagieren sie angesichts wirklich gefährlicher globaler Ereignisse selbst mit Verschwörungstheorien“. Jablokow hält es für sehr gefährlich, dass die Eliten „die überwiegende Mehrheit der Russen davon überzeugt haben, an Verschwörungstheorien zu glauben“.  Eine Studie von Soziologen über die Einstellung der Russen zum Coronavirus ergab, dass „eine große Anzahl von Menschen das Auftreten des Virus mit der Bosheit einer anderen Gruppe verbindet“.

Das politische Spiel „mit diesen Theorien ist irgendwann außer Kontrolle geraten und Randkräfte betraten die politische Bühne mit überzeugtem Vertrauen in Verschwörungen auf“.  „Diese Menschen stiegen in das System ein und begannen, ihre Politik auf der Grundlage ihrer eigenen Verschwörungstheorien zu ändern“. So entstand „eine erstaunliche Kombination von Initiative von oben und unten, die vor 15 Jahren niemand erwartet hatte“

Ob es im Rahmen der aktuellen Coronavirus-Pandemie Versuche der russischen Behörden gäbe, über die Medien offizielle Verschwörungstheorien von oben zu verbreiten, um die Politik zu beeinflussen, verneint Jablokow: „Ich denke noch nicht.“ Die politische Elite biete solche Szenarien nicht an.

„Überraschenderweise produzieren die Behörden keine Verschwörungstheorien, die sofort im russischen Mainstream auftauchen würden“. Er habe mehrere Tage politische Talk-Shows auf den offiziellen TV-Kanälen verfolgt. Die russische politische Führung kümmere sich hauptsächlich um die Gesundheit der Menschen. „Isoliere dich, schütze dich, werde gesund“, heißt es unisono. Anspielungen wie „das sei alles von Großbritannien erfunden worden“ bezeichnete Channel One als Randidee.

Er selbst ist davon überzeugt, dass die „Pandemie nur eine Frage des Zufalls sei und nicht die Folge einer geplanten Verschwörung“. Es gäbe Hunderte von Gründen. Wir sollten vielmehr Schlussfolgerungen darüber ziehen, „wie zerbrechlich die Welt ist, in der wir leben, und nicht darüber, wer dies alles arrangiert hat“ oder wer der „Nullpatient“ war.

Eine Prognose will der Historiker nicht abgeben. „Alles wird stark davon abhängen, wie Russland aus dieser Krise hervorgeht. Wenn es möglich ist, große menschliche Verluste zu vermeiden, wird dies natürlich Putins Macht stärken und ihm Legitimität verleihen.“ Falls er die Krise nicht oder nur mit fatalen Folgen bewältigen kann, werden Oppositionspolitiker und normale Bürger Putin für alles verantwortlich machen, was passiert ist. Unter diesen Umständen werden die Menschen den Amerikanern oder Chinesen keine Vorwürfe machen. Daher ist es ihm wichtig, die Pandemie so erfolgreich wie möglich zu überwinden, da es sonst zu einer sehr ernsten Krise der politischen Legitimität kommen könnte.

Prof. Mark Galeotti, Senior Associate Fellow am Royal United Services Institute und Honorarprofessor an der UCL School of Slavonic & East European Studies, formuliert die Situation um Verschwörungstheorien von oben schärfer. Der Kreml will „den Brunnen nicht weiterhin mit Desinformationen vergiften“, könne „aber das Lügen nicht mehr stoppen“.

Im Mittelpunkt der russischen Versuche, „den Westen zu spalten, abzulenken und zu demoralisieren, stände weniger eine einzige disziplinierte Desinformationsarmee als vielmehr eine Vielzahl von Enthusiasten und Söldnern“. Der Kreml habe ein „Desinformations-Ökosystem“ geschaffen, in dem „alle Arten von stimmgewaltigen Talkshow-Moderatoren, giftspritzenden Kommentatoren, klebrigen Pseudo-Experten, Hausierern, Hochstaplern und Verschwörungstheoretikern“ vertreten sind.

Sie generieren im Wesentlichen Inhalte, die ihre „eigenen Neigungen und Wahnvorstellungen widerspiegeln, ihre Annahmen darüber, was der Kreml gerne sehen würde“. Nachdem der Kreml „ihre Fantasie befeuert hat, kann er auswählen, welche Linien seinen momentanen Bedürfnissen entsprechen, und sie vergrößern und verstärken“.

Das Problem ist, dass es nach der Schaffung dieses Ökosystems für die Regierung mehr und mehr schwierig wird zu behaupten, dass sie nichts damit zu tun habe. „Der Regierung gelänge es nicht mehr, deren Aktivitäten zu lenken, geschweige denn einzustellen oder aufzuschieben“.

Galeotti mutmaßt, dass diejenigen, „die von Desinformation leben, leider auch durch Desinformation sterben können“.

Anhang

Methoden und Techniken. zur Desinformation oder psychologischen Manipulation.

Im Cyberraum geht es bei der Verbreitung oder Verhinderung von Desinformationen hauptsächlich darum, Personen zu diskreditieren oder herabzusetzen bzw. zu verleumden, Misstrauen zu fördern, jemanden von etwas abzuhalten oder abzuschrecken, Handlungen zu verzögern oder zu stören, um zu leugnen zu täuschen und Zugriff auf Ressourcen zu verweigern oder zu verhindern. Im englischen Sprachraum nennt man die Ziele von Beeinflussungskampagnen die fünf klassischen „D“: dismiss (abtun), distort (verzerren), distract (ablenken) und dismay (schockieren) und divide (spalten).

Dazu kommen – neben weiteren – diese Methoden und Techniken zur Anwendung:

  • Hochladen von YouTube-Videos mit ‚überzeugender‘ Kommunikation  
  • Einrichtung von Facebook-Gruppen, Foren, Blogs und Twitter-Konten, die die Diskussion über ein Thema anregen und überwachen
  • Einrichtung von Online-Aliasnamen/Personen, die die Kommunikation oder Nachrichten in YouTube-Videos, Facebook-Gruppen, Foren, Blogs usw. unterstützen
  • Einrichtung von Online-Aliasen / Persönlichkeiten, die andere Aliase unterstützen
  • Senden von gefälschten E-Mails und Textnachrichten einer gefälschten Person oder Nachahmung einer realen  
  • Bereitstellung gefälschter Online-Ressourcen wie Zeitschriften und Bücher, die ungenaue Informationen liefern  
  • Bereitstellung des Online-Zugriffs auf unzensiertes Material  
  • Senden von Sofortnachrichten an bestimmte Personen mit Anweisungen zum Zugriff auf unzensierte Websites
  • Einrichtung von gefälschten Handelsseiten (oder Verkäufern), die das Geld eines Kunden nehmen und/oder Kunden minderwertige oder gefälschte Produkte senden können
  • Unterbrechen (d. h. Filtern, Löschen, Erstellen oder Ändern) der Kommunikation zwischen echten Kunden und Händlern  
  • Übernahme der Kontrolle über Online-Websites  
  • Entzug des Telefon- und Computerdienstes  
  • Betreiben von Websites für die Fernmelde- und elektronische Aufklärung  
  • Kontaktaufnahme mit Host-Websites, um sie aufzufordern, Material zu entfernen  

Im Social-Media-Zeitalter lassen sich über Bots, Trolle und Fake-Accounts frei erfundene neue „Fakten“ leicht verbreiten. Das soziale Bindungsverhalten von Menschen und ihre Neigung, denjenigen Informationen zu vertrauen, die ihre eigenen Erwartungen erfüllen, führen dann dazu, dass zumindest einige Leute diese „Fakten“ glauben.

[hrsg/russland.news]

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