Und die Welt hielt den Atem an und es ging ein gewaltiges Aufstöhnen durch die Welt: „Der Große Weise von Poljana ist tot!“ [Video Classik]

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Über den genialen Schriftsteller Lev Tolstoj große Worte zu verlieren – es könnten nur Superlative sein –, hieße „Eulen nach Athen zu tragen“. »Der Meister aller Meister, ein allwissender Shakespeare … «, wie ihn Gustave Flaubert in einem Brief an I. S. Turgenev aus dem Jahre 1880 nach der Lektüre von »Krieg  und Frieden« nannte, ist wirklich nur mit Shakespeare und Goethe in einem Atemzug zu nennen – die er, ganz nebenbei bemerkt, besonders gegen Ende seines Lebens heftig ablehnte, ja, Ersteren gar abqualifizierte.

Der Schöpfer von in jeder Beziehung monumentalen Werken wie »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« war nicht „nur“ Schriftsteller, er war Moral- und Religionsphilosoph und er war vor allem mit der ganzen Zwiespältigkeit seines Wesens – wie er immer wieder von sich sagte – ein sündiger Mensch.

Mit Tolstoj endete die Zeit der russischen Hocharistokratie und das neue Zeitalter der Revolution begann. Obwohl er zum blaublütigsten, russischsten Adel gehörte – die Linie seiner Mutter lässt sich bis zum Gründer des Russischen Reiches Rurik (9. Jh.) zurückverfolgen und in den Zaren seiner Zeit flossen neben deutschem nur noch wenige Tropfen russisches Blut – verabscheute er das Adelsleben und pries das einfache Leben der Bauern, dem er sogar Vorbildfunktion für ein gerechtes und menschliches Leben zusprach. Selbst schaffte er es aber nicht, das adelige Gutsherrenleben aufzugeben – ja im Alter wurde er sogar mehr und mehr der adelige Patriarch schlechthin und er litt immer wieder unter dem Leben entgegen seiner Erkenntnis.

Schon in jungen Jahren machte sich sein messerscharfer Verstand bemerkbar, er analysierte alles und jeden, besonders sich selbst; was nicht mit den Verstand erklärbar war, hatte keine Gültigkeit für ihn.

Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch die Vernunft, sagt er, und somit ist die von Gott gegebene Vernunft die höchste geistige Kraft im Menschen und ein kleiner Teil von Gott und, wer gegen die Vernunft handelt, versündigt sich daher gegen Gott. Und Gott kann auch nichts anderes als die Wahrheit sein; wer sich gegen die Wahrheit versündigt, also lügt, wendet sich von Gott ab, und zwar immer mehr, denn die Lüge gebiert Lüge.

Gott, der in der Vernunft und im Bewusstsein des Menschen vorhanden ist, ist damit ein Gott der Lebenden und nicht der Toten, woraus sich ergibt, dass man nicht für ein imaginäres, nicht vorstellbares Jenseits Sorge tragen soll, sondern für ein gerechtes gottgewolltes Leben auf Erden.

Folgerichtig musste er alle Wunder, alles Unerklärbare, das in den Büchern der Kirche, den Heiligen Schriften, steht, ablehnen. Es war für ihn erdachter Unfug, der einzig allein dazu dienen sollte, durch die Mystifizierung die Macht der Institution Kirche über die Menschen – die ja nichts anderes machen konnten, als zu glauben – zu festigen. Durch diese Mystifizierung wurden Schriftenausleger notwendig, die mit Riten, undurchschaubaren Geboten und Verboten sowie einer angemaßten Macht auch über das Jenseits die Menschen vom Zusammensein mit Gott, wie es im Urchristentum noch vorhanden war, abbrachten. Das Gebaren der kirchlichen Aristokratie, des Klerus, und vor allem deren Zusammenspiel mit der weltlichen Macht fand er verabscheuungswürdig.

Da Gott unendlich ist, kann es auch keinen personalen Gott geben (Gott ist in allem, und wenn der Mensch in der Lage wäre, ihn sich vorzustellen, könnte er nicht per definitionem der unendliche Gott sein), und somit kann Christus – auch wenn er der vollkommenste Mensch war, den es je gab – auch nicht im von der Kirche ausgelegten Sinn der Sohn Gottes gewesen sein – er war ein gottähnlicher Mensch (was streng genommen jeder Mensch werden könnte, wenn er vollkommen in Gott leben würde). Eine unbefleckte Empfängnis Mariens lehnte er als unerklärbar ebenso ab wie die Dreieinigkeit, die Auferstehung Christi, seine Himmelfahrt und die fleischliche Wiederauferstehung der Menschen beim Jüngsten Gericht und alle Wunder einschließlich der wahrhaften Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi beim Abendmahl.

Diese wenigen, aber wichtigen Beispiele sollen genügen. Über Tolstoj als Religionsphilosoph sind ganze Bücher geschrieben worden, die ja nach Standpunkt heftig kontrovers sind und an Aktualität zunehmen.

Dass er mit seinen Überzeugungen in heftigen Konflikt mit der Kirche kommen musste, war zwangsläufig. Und er wurde auch (gegen den Willen des Zaren!) exkommuniziert.

Nun war Tolstoj aber nicht irgendwer, den man als Spinner oder verirrten Sektenführer einfach hätte verschwinden lassen können – in Sibirien oder sonst wo. Er war das große Schriftstellergenie von höchstem Adel, vor dem selbst die Zaren Respekt hatten; seine Schriften erschienen im westlichen Ausland und in diesen Schriften beließ er es nicht bei religiösen Abhandlungen: Er zog praktische Schlussfolgerungen für das Leben der Menschen miteinander.

Das wichtigste Gebot war für ihn das Gebot der Nächsten-, ja, der Feindesliebe, denn in jedem Nächsten war Gott.

Und daraus ergaben sich soziale Grundsätze:

Kein Mensch darf einen anderen töten, sei es aus persönlichen Gründen oder auf Befehl des Staates; was heißt, dass es auch keine Todesurteile und keinen Kriegsdienst geben darf – Tolstoj hatte hier lebhaften „Anschauungsunterricht“ im Krimkrieg und bei einer Hinrichtung mit der Guillotine  in Paris erhalten. Man müsse auch seinen Feind lieben und darf ihn nicht töten, ergo müsse man dem Zaren den Gehorsam und (heute sagt man) den Wehrdienst verweigern. Er war ein radikaler Pazifist.

Aber mehr noch: Man darf seinen Nächsten nicht unterdrücken und nicht zum eigenen Vorteil ausnutzen. Wenn sich einige wenige über die Masse der Menschen erheben, um ihnen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, um sie zu „regieren“, und beispielsweise Steuern eintreiben, so sei das Missbrauch von Macht und Unterdrückung; hinzukommt, dass diese Herrschenden sich auch noch persönlich bereichern. Tolstoj schwebte eine Gleichheit aller auf der Basis der Bauerngemeinschaften vor. Durch die zunehmende Kapitalisierung der Gesellschaft würden wieder nur einige wenige mithilfe des Geldes die anderen versklaven und ausbeuten.

Tolstoj stimmte mit den Zielen der Anarchisten Fürst Kropotkin und Bakunin vollkommen überein, wobei er aber ihren Weg nicht gut hieß – allerdings meinte er hier in erster Linie den Weg Bakunins, der ein militaristischer Anarchist war; Kropotkin war pazifistischer Anarchist. Tolstoj war ein christlicher Anarchist, der glaubte, allein durch die Nächstenliebe, die ja in letzter Konsequenz Gottesliebe ist, werde sich das Miteinander der Menschen ohne Herrschende und Beherrschte regeln.

Tolstoj war am Ende seines Lebens für eine Revolution und diskutierte auch mit Maksim Gorkij darüber, aber seine Revolution sollte eine Revolution des Umdenkens werden, nicht eine, wie sie die Revolutionäre wollten, die nur zu einer Machtumverteilung durch Gewalt führen würde.

Tolstoj hatte auch erkannt, dass es mit Predigen allein nicht getan ist. Er gründete Schulen, in denen er auch selbst unterrichtete, arbeitete Lehrpläne aus – wobei allerdings diese Lehrpläne eher mit den Grundsätzen der antiautoritären Erziehung der 1960er Jahre vergleich bar sind –, er schrieb ABC-Fibeln und er schrieb volkstümliche Erzählungen und Legenden, die der Volksbildung dienen sollten.

Er arbeitete bei seinen Bauern auf dem Feld mit – was diese allerdings mehr als eine Gutsherrenmarotte ansahen –, er schusterte selbst Stiefel, die er auch weiterverschenkte – und die dann bei seinen Freunden als Kuriosum neben seinen Gesammelten Werken im Bücherregal standen –, er wurde Vegetarier und lebte von einfachster Bauernkost – allerdings am gutsherrschaftlichen Esstisch mit der Familie, die sich keine Einschränkungen auferlegte –, und bis in sein hohes Alter inspizierte er hoch zu Ross seine Güter, die nicht mehr seine Güter waren, weil er sie, um seinem Ideal der Besitzlosigkeit näher zu kommen, seinen Erben übergeben hatte.

in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es mehrmals in mehreren Gouvernements große Hungersnöte. Tolstoj und seine Familie halfen mit eigenem und sogar in Amerika gespendetem Geld bis zum Rand der Erschöpfung.

Die Tragik seines Lebens war seine Einstellung zu Frauen allgemein, seine übergroße Sexualität, die ihn immer wieder mit sich selbst in Konflikt brachte, und das Verhältnis zu seiner Ehefrau, das durch seinen ideologisch verbissenen „Lieblingsjünger“ Čertkov (der Name leitet sich sinnigerweise von „Čert“ zu deutsch „Teufel“ ab) endgültig zerstört wurde.

Lev Nikolaevič Tolstoj starb am 7. November julianischer / 20. November gregorianischer (heutiger) Zeitrechnung 1910 im Bahnhofshäuschen von Astapovo umgeben von seinen Jüngern, die seine Frau erst im letzten Moment des Todes zu ihm ließen, nachdem er von seiner Familie geflüchtet war, um irgendwo als Einsiedler zu leben.

Leider wird der Moralist und der Religionskritiker Tolstoj sehr häufig belächelt bis teilweise zielgerichtet verächtlich gemacht; und zu einem Gutteil trägt er auch selbst mit die Verantwortung dafür, denn in seinen geistlichen Schriften und Traktaten ist über Gebühr der große moralische Zeigefinger zu spüren, ja, manche sind zu echten Pamphleten ausgeartet – aber das war der sich in der Wahrheit wissende und diese mit großer Emotionalität schonungslos verkündende Mensch Tolstoj. Seine Überzeugungen werden (von freundlich Gesinnten) nicht umsetzbare Utopien genannt und über seine „Glaubenssätze“ zu diskutieren, ist schwierig, denn wie ist der Verstand und die Vernunft mit der Mystik des Glaubens auf eine gemeinsame Basis zu bringen?

Aber letztlich sind doch alle Heilslehren immer Maximalvorstellungen, also Utopien, denn das leider unvollkommene Wesen Mensch wird immer an deren Erfüllung scheitern. Vielleicht ist es klüger, sich anzuschauen, was Tolstoj damals alles angestoßen hat und was heute bei aller Unvollkommenheit zu Allgemeingut geworden ist.

Eine Argumentation ist aber mit Sicherheit falsch, nämlich das „utopische“ Ziel zu vergessen und sich mit dem (wie es heute politisch korrekt heißt) Machbaren zu begnügen. Allzu leicht wird die Hürde für das Machbare immer niedriger gehängt.

Mahatma Gandhi, ein Freund Tolstojs, der sich selbst als Tolstojaner bezeichnet hat, hat jedenfalls mit der von Tolstoj gepredigten Gewaltlosigkeit ein Imperium besiegt, und auch die jüngste deutsche Geschichte hat hier Ruhmvolles zu verkünden – um nur eine von Tolstojs Thesen aufzugreifen.

Vielleicht sind andere Thesen von ihm auch verwirklichbar.

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