Umfragen zeigen: Die Russen glauben der Presse nicht

Anastasia Mironowa macht sich für Gazeta.ru Gedanken darüber, warum das Volk und die Presse so wenig voneinander halten.

Denken Sie, das liegt daran, weil die Leute aufmerksam Materialien analysieren, die Finanzierungsquellen der Massenmedien studieren und die Listen der Werbekunden durchforsten? Vielleicht verfolgen sie soziologische Untersuchungen zum Mediabereich? So ein Quatsch!

Das Misstrauen gegenüber der Presse, der Argwohn gegen Journalisten ist nicht einmal ein institutionelles Problem. Es ist kein Problem der Qualität der Presse selbst. Es ist ein zivilisatorisches Problem.

Die Menschen glauben der Journalistik nicht und wollen nicht mit ihr konfrontiert werden.

Das kommt den Journalisten zupass, die keine Journalistik mehr können.

Um zu verstehen, warum die Leute uns nicht glauben, muss man mehrere Faktoren berücksichtigen.

Der erste – die Mehrheit unserer Bevölkerung erinnert sich noch an die Sowjetzeiten, als ein Journalist unbedingt ein Vertreter des Systems war, zuweilen sein allsehendes Auge oder Kontrollorgan. Kam ein Journalist in eine Sowchose und wollte keinen Glückwunsch für die Jubiläumsausgabe der „Prawda“ schreiben, hieß das, er kam zur Kontrolle. Vor Journalisten hatte man überall Angst. Journalisten aus der Hauptstadt wurden in der Provinz mehr als der Tod gefürchtet. Weil der richtige Tod ganz plötzlich kommen konnte, nach dem Besuch eines Journalisten konnte er dagegen lang und qualvoll sein. Ein Journalist kam nicht einfach so angereist. Man durfte sich bei einem Journalisten nicht beklagen, denn es war einfach unmöglich, sich bei einer Zeitung über ein Problem zu beschweren, das nicht von den Sicherheitsorganen oder der lokalen Parteiorganisation angegangen wurde.

Der zweite Faktor, der zu dem furchtbaren Verhältnis zur Journalistik und den Journalisten geführt hat, liegt an deren Isoliertheit in der Gesellschaft. In Russland gibt es wenige Journalisten. In jeder Gesellschaft gibt es davon wenige, sogar in Großbritannien oder den USA, wo die Verwaltung jedes Stadtbezirks manchmal gleich mehrere Zeitungen besitzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Durchschnittsmensch auch nur einmal in seinem Leben einem Journalisten begegnet, ist äußerst gering.

Sollte es doch dazu kommen, so tritt der normale Mensch dabei mit großer Wahrscheinlichkeit als Opfer eines Verkehrsunfalls, betrogener Anteilseigner, ins Gefängnis gesteckte Erzieherin oder Augenzeuge eines Flugzeugabsturzes auf.

Ich nehme an, in unserem Land hat weniger als ein Prozent der Bevölkerung im Leben wenigstens einmal mit einem Journalisten gesprochen – inklusive Verwandte und Freunde der Journalisten selbst.

Das bringt den dritten Faktor hervor: Über einen Journalisten urteilt die Bevölkerung nach seiner Darstellung in der Massenkultur. Seifenopern, modernes Kino, Trivialliteratur — das sind die wichtigsten Quellen, aus denen das Wissen über einen Journalisten geschöpft wird. Und diese Quellen verderben uns, den Journalisten, gründlich das Leben. Weil der Journalist in der Massenkultur unbedingt als dummer, sensationsgeiler und aufdringlicher Idiot gezeigt wird. Der Journalist taucht sehr selten selbst auf — er wird gerufen. Der Journalist erpresst oft die Protagonisten, ergo hasst ihn der Zuschauer (Leser).

In Seifenopern ist der Journalist niemals klug, diskret und uneigennützig. Ich bin überzeugt: Diese Darstellung von Journalisten wird zielgerichtet lanciert.

Der vierte Faktor ist die Straffreiheit bei Verbrechen gegen Journalisten. Nicht nur in Filmen und Krimis, sondern auch in den Nachrichten werden Journalisten gehetzt, geschlagen und sogar getötet. Menschen leben nicht im Vakuum, sie hören hier und dort von Überfällen auf Journalisten, von Prozessen gegen sie, von Gefängnisstrafen. In den Augen des Normalbürgers ist ein Journalist eine Person, die nicht nur nicht vom Staat beschützt wird, sondern diesen Schutz erst gar nicht genießen darf. Zensur und Druck auf die Medien nehmen sie als Freifahrtschein wahr: schlag´ den Journalisten, übe Druck auf ihn aus – dir wird nichts passieren.

Diese vier Faktoren haben also dazu geführt, dass ein Journalist in den Augen des Normalbürgers a priori schlecht ist und man sich ihm gegenüber abfällig verhalten muss.

Das geht so weit, dass Opfer von Polizeiwillkür, ungerecht Entlassene und sogar Schwerkranke Journalisten abwimmeln wie aufdringliche Fliegen. „Keine Journalisten!“, hört man oft von betrogenen Anteilseignern oder im Stich gelassenen Bausparern, oder von Verwandten von Unfall- oder Terroropfern.

Bemerkenswert war kürzlich die Geschichte mit dem Passagier eines Flugzeuges, das in Kaliningrad eine Bauchlandung hinlegen musste. Der schrieb sofort im Facebook einen Aufruf an alle Augenzeugen: „Ignoriert die Journalisten.“ In der Tat: Da musste ein Flugzeug auf dem Bauch landen, damit vor uns in voller Pracht dieses wertvolle Beispiel für das kollektive Unbewusste ersteht.

„Ich sage es gleich – wir geben kein Interview“, erklären Verwandte von Schwerkranken, wenn sie karitative Stiftungen aufsuchen, um Hilfe zu erbitten. Sie sind sich sicher, dass der Korrespondent sie nur deshalb darum bittet, etwas über das erkrankte Kind zu erzählen, weil er sensationslüstern ist, und nicht, weil er einen Clip machen, beim Zuschauer Mitleid erwecken und Geld zur Behandlung sammeln will.

Sehr oft habe ich bei einer Demo, einem Streik oder einem Autounfall die Fragen gehört: „Sie kommen zu uns?“, „Haben wir Sie gerufen?“ oder „Warum sind Sie gekommen, wir haben Sie nicht gerufen“. Es kommt vor, dass dir ein Aktivist irgendeiner Gruppe mitteilt, dass sie eine Demo planen, und nach der Veröffentlichung ruft er an: „Schreiben Sie noch das und das dazu! Wie, das können Sie nicht? Wir haben Sie doch gerufen!“ Weil für den Normalbürger ein guter Journalist derjenige ist, der in einem Konflikt seine Position einnimmt; und ehrlich ist ein Journalist dann, wenn er seine ideologischen Ansichten völlig teilt. Und ein Journalist kommt nur auf Einladung. Die Veranstalter von Demos tragen Journalisten regelmäßig als Teilnehmer ein und erwarten immer, dass diese die nötigen Petitionen oder offenen Briefe unterschreiben.

Und das heißt nicht, dass sie den Journalisten nicht glauben, weil die sich diskreditiert hätten. Nochmal: 99 Prozent der Leute sind niemals einem Journalisten begegnet; sie urteilen über ihn nach der Darstellung in der Massenkultur. Und in der Massenkultur sind Journalisten eben so und nicht anders. Deshalb trauen die Leute keinerlei Medien so richtig. Sie wollen sich nicht die Mühe machen und denken. Sie wollen nicht herausfinden, wer lügt und wer die Wahrheit sagt.

Die Russen verstehen nicht, wie Medien aufgebaut sind. Es gibt keinerlei Verständnis für den Wert der Meinungsfreiheit. Redefreiheit wird in unserem Land als Freiheit verstanden, in der Küche zu fluchen. Was in Wirklichkeit Freiheit der Verbreitung von Informationen bedeutet, versteht niemand. Sie glauben, das begreifen die Journalisten selbst? Nix da! Was Meinungsfreiheit ist, verstehen unter den Journalisten nur die Wenigsten.

Die Gruppe ZIRKON und die Stiftung Mediastandart haben eine Untersuchung zu den Vorstellungen von russischen Redaktionsmitarbeitern von sich selbst veröffentlicht. Da lässt du den Kopf hängen!

66 Prozent der Redaktionsmitarbeiter finden es normal, ihre Arbeit mit Tätigkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit, in der Werbung oder im Staatssektor zu vereinbaren. 51 Prozent sind bereit, jemanden für einen professionellen Journalisten zu halten, der keine Ahnung von Internet und mobilen Geräten hat; 45 Prozent sehen auch jemanden als Journalist an, der nicht einmal freischaffend für ein Medium arbeitet. 39 Prozent sind überzeugt, ein Journalist müsse Bürgerrechtler sein. Fast ein Viertel der Journalisten hält es für nötig, die Menschen zu aktivem öffentlichen Handeln aufzufordern. Als wichtigste Organe der Zensur nennen die Journalisten die Geschäftswelt und die über ihr stehenden Interessen (andere, größere Unternehmen), den Staat und die Selbstzensur. Die meiste Verantwortung haben Journalisten ihrer eigenen Ansicht nach gegenüber dem Besitzer ihres Mediums und dem Staat. Dabei halten 73 Prozent der Journalistenihre Arbeit für mehr oder weniger kreativ, 79 Prozent sehen sie als prestigeträchtig an.

Zugleich sind 77 Prozent unserer Journalisten der Meinung, ihr Beruf sei in der Gesellschaft diskreditiert. Aber das hindert sie nicht daran, zu arbeiten und ihre Arbeit zu lieben.

Nur 14 Prozent sind kategorisch unzufrieden mit ihrem Leben. Fast drei Viertel der Journalisten (72 Prozent) denken, ihre Arbeit sei ausreichend frei und selbständig. Aber 56 Prozent heißen die Arbeit der Massenmedien nicht gut. Zum Vergleich: 55 Prozent sind mit der Arbeit der Sicherheitsorgane unzufrieden, 66 Prozent finden die Arbeit der Regierung schlecht, 46 Prozent kritisieren die Tätigkeit des Staatspräsidenten.

Damit ergibt sich, dass die Journalisten das Wesen ihres Berufes nicht verstehen. Sie leben unter der Knute der Geschäftswelt, des Staates und der Selbstzensur, fühlen sich aber frei. Sie halten den Beruf für diskreditiert, aber prestigeträchtig. Gut, dass die meisten Leute niemals etwas über die Untersuchungen von ZIRKON erfahren werden. Sonst würden sie sehen, dass die russischen Journalisten Brei im Kopf haben.

Für wen alle diese Journalisten mit ihren zerzausten Gefühlen arbeiten, ist nicht zu verstehen. Weil die Leute nichts lesen.

Mehr als der Hälfte der Internet-Nutzer ist es egal, in welchen Massenmedien sie Nachrichten lesen (Studie von FOM, Januar 2016). 23 Prozent der Nachrichtenleser merken sich nicht, wo sie die lesen, und können kein einziges Internet-Massenmedium benennen. 29 Prozent haben erklärt, dass sie ein, zwei liebgewordene Nachrichtenquellen bevorzugen. 67 Prozent der Nutzer lesen Nachrichten in Internet-Suchmaschinen, zumeist auf Yandex. Das heißt, die meisten lesen nur die Nachrichten, die in der Top-Auswahl stehen, und gehen nicht über Yandex hinaus. 36 Prozent des Nachrichten-Auditoriums liest sie auch in den sozialen Netzwerken.

Das heißt, ein Drittel von denen, die wenigstens einmal im Monat im Internet Nachrichten lesen, ist geneigt, ihren eigenen als komfortabel empfundenen Raum nicht zu verlassen.

Westliche Soziologen bezeichnen eine solche Situation als Seifenblase: Ein Mensch liest Jahr für Jahr nur das, was ihm gefällt, und die sozialen Netzwerke grenzen auf ihrer Jagd nach loyalen Nutzern maximal die Chance ein, auf unbequeme Informationen oder unbequeme Leute zu treffen. In diesen Seifenblasen schwimmen Millionen Menschen.

Dadurch sind sie überzeugt, dass Internet und Fernsehen die Ereignisse identisch beleuchten. Wenn sich diese beiden Quellen widersprechen, schenken 32 Prozent der Nutzer dem Fernsehen Glauben, 30 Prozent dem Internet (Studie von WZIOM, 2017). Der Rest macht sich keine Gedanken. Dabei neigen nur Menschen zwischen 18 und 29 dazu, dem Internet mehr zu glauben als dem Fernsehen, wenn diese beiden Quellen konträr gehen. Aber es sind auch nur 37 Prozent der Personen dieses Alters, die überzeugt sind, das Internet sei ehrlicher. 26 Prozent schlagen sich auf die Seite des Fernsehens. Selbst die Jugend hat kein Interesse daran, sich klarzuwerden, wer wo lügt.

Mit der Jugend ist es eh problematisch. Im Mai 2016 erklärte (das Meinungsforschungsinstitut – Anm. d. Ü.) WZIOM, dass nur 13 Prozent der Jugendlichen gezielt nach Nachrichten in unterschiedlichen Quellen suchen. Unter Rentnern machen das dagegen 38 Prozent. Dabei sind die Top-3 für die Jugendlichen „Familie“, „soziale Probleme“ und „Sport“. (Studie von FOM, Mai 2016). 77 Prozent der russischen Jugendlichen sehen regelmäßig fern und halten das Fernsehen für die wichtigste Nachrichtenquelle (FOM, September 2016). Auch eine Hochschulbildung garantiert keine stabile Immunität gegenüber dem Fernsehen: Es sehen 73 Prozent der jungen Leute mit Hochschulabschluss fern, unter jungen Menschen ohne Studium sind es 79 bis 80 Prozent.

Nur zehn Prozent der Personen zwischen 18 und 24 suchen gezielt politische Nachrichten. Unter den 25- bis 34-Jährigen sind es 13 und unter Rentnern 38 Prozent (WZIOM, Mai 2016).

Schenkt man den Untersuchungen von FOM Glauben, bewegt sich die Zahl der Russen, die jeden Tag fernsehen, seit 2008 im Rahmen von 72 bis 74 Prozent. Die Hälfte des Landes ist der Meinung, es wäre ein großer Verlust für Russland, würden die Fernseher einen Monat lang abgeschaltet werden (WZIOM 2017). 73 Prozent der Russen sind nicht bereit, auf die Printmedien zu verzichten (WZIOM, Mai 2015). Jeder zweite zieht es vor, einen Artikel auf Papier zu lesen, statt auf dem Bildschirm.

Wir, wehrte Leser, leben in einem Land, wo die Menschen es noch lange nicht lernen werden, das Internet für ernsthafte Dinge zu nutzen und nicht nur zum Vergnügen. Bisher lesen die am meisten entwickelten Mitbürger eine Nachricht pro Tag. Und auch die wohl über Familie und Ehe. Die Leute schaffen es nicht, die edlen Früchte der technologischen Entwicklung zu konsumieren. Auch wer um die Jahrtausendwende geboren wurde, ist nicht radikal wissbegierig geworden. Im Gegenteil: Rentner machen sich mehr Sorgen um die Lage der Dinge in der Welt als die Schüler von gestern.

Erstaunlich, dass die Beliebtheit des Faches „Journalistik“ vor dem Hintergrund solcher Neuigkeiten seit Ende der 2000er Jahre stetig wächst. Glaubt man dem Portal Vuzoteka.ru, steht das Fach „Massenmedien und Informations- und Bibliothekswesen“ im Rating der Nachfrage unter Abiturienten auf Rang drei. Viktor Ssadownitschi, der Rektor der Moskauer Universität, erklärte im August, dass die Bewerbungen für die Journalistik-Fakultät innerhalb eines Jahres um ein Fünftel gestiegen seien.

Man möchte nur hoffen, dass es nicht blinde Romantiker sind, die nach dem Journalisten-Diplom greifen, sondern vernunftbegabte junge Menschen. Solche, die eine Journalistik satt haben, der keiner glaubt und die keiner lesen will. Heute bekommen offiziöse Internet-Medien 80 Prozent des Leserinteresses. Klassische Zahlen: Die unabhängige Presse wird mehr oder weniger regelmäßig, mindestens einmal im Monat, von 20 Prozent der Russen gelesen. Bleibt zu hoffen, dass das vermehrte Interesse am Beruf diese Relation verschieben wird.

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