Ukrainische Menschenrechtler: Minsk II geht in die Brüche

[Hartmut Hübner] Gestern haben ukrainische Truppen nach Augenzeugenberichten im Raum der Ortschaft die Waffenstillstandslinie überschritten sind etwa vier Kilometer in das Separatistengebiet Lugansk eingedrungen. Zur Erinnerung: Im „Kessel von Debalzewo“ hat die Ukrainische Armee Anfang letzten Jahres ihre schwerste Niederlage im Kampf gegen die Aufständischen erlitten.

Im Donezker Gebiet versuchen die Streitkräfte der Ukraine seit Tagen, durch systematischen Artilleriebeschuss das Befahren der Straße von Donezk nach Gorlowka unmöglich zu machen und so die Frontstadt vom restlichen Gebiet zu isolieren. Damit wird das Minsker Abkommen deutlich verletzt.

„Diese verbotenen Aktionen gehören offenbar zur aktuellen militärischen Strategie der Ukraine, die von ihr  derzeit nicht kontrollierten Gebiete aufzuspalten, um sie letztlich zurückzuerobern und damit einer politische Regelung aus dem Weg zu gehen“, sagte der stellvertretende Leiter der Ostukrainischen Menschenrechts-Gruppe VPG, Ivan Pasikun, gestern in Moskau gegenüber Russland.NEWS.

„Dass hierunter erneut die Einwohner der betroffenen Gebiete zu leiden haben, spielt in den Überlegungen der Verantwortlichen keine Rolle. Die Minsker Vereinbarungen werden immer mehr zur Makulatur, weil die Führung in Kiew sie nicht erfüllen will und kann.“ Der vereinbarte Waffenstillstand werde nahezu täglich gebrochen, wobei die Schuld dafür durchaus beiden Seiten anzulasten sei, räumte der Menschenrechtler ein. Die OSZE-Mission sehe ihre Aufgabe derzeit allein darin, Beschuss und Feuergefechte zu protokollieren, ohne friedensstiftend zu wirken.

Aber auch die Situation auf der ukrainischen Seite der Demarkationslinie ist erschreckend, weiß die Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Vera Jastrebova, die eigentlich aus Donezk kommt, jetzt aber in Charkiv arbeitet, zu berichten „Es herrscht eine trostlose Apathie. Die Menschen sind es müde, ständig in der Gefahr vor neuen Gefechten leben zu müssen. Außerdem fühlen sie sich von der Kiewer Regierung im Stich gelassen.“ Beispielsweise würden Renten, wenn sie überhaupt gewährt würden, mit monatelanger Verspätung gezahlt, es gebe auch keinerlei humanitäre Hilfe. Ganz aktiv seien dagegen der ukrainische Geheimdienst und die Privatarmeen der Oligarchen, wie von Igor Kolomojskij aus Dnepropetrowsk, in dieser Region. „Menschen werden willkürlich verhaftet und ohne Verfahren eingesperrt, andere werden in den Wald geführt und kommen nicht mehr zurück“, berichtet sie. Bisher sei die Existenz von Geheimgefängnissen in der Ukraine stets geleugnet worden, jetzt sei die Existenz von mindestens fünf dieser rechtsfreien Einrichtungen nachgewiesen worden. Nach Angaben des früheren ukrainischen Premiers Asarow soll es in der Ukraine etwa 4000 politische Gefangene geben.

Kurzfristig keine Lösung in Sicht

Eine Chance für eine kurzfristige politische Regulierung des Konfliktes in der Ostukraine sieht Pasikun nicht: „Selbst wenn die neue ukrainische Regierung unter Grojsman  guten Willens wäre – was sie bisher noch nicht unter Beweis gestellt hat – wird sie sich nicht gegen Poroschenko und die Hardliner im Parlament durchsetzen. Einhaltung des Waffenstillstandes und Abzug der schweren Waffen, Gefangenenaustausch, Verfassungsänderung und Wahlen, Zahlung der Sozialleistungen – das alles müsste die Ukraine nun endlich auf den Weg bringen und nicht nur auf Russland zeigen. Würde Moskau nicht die Rentner in den abtrünnigen Gebieten finanziell unterstützen, wäre die Situation ganz dramatisch.“

Es sei unter diesen Bedingungen verständlich, dass viele Einwohner in den selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk einen Anschluss an Russland wünschten. Dazu sei aber die politische Führung dort derzeit nicht bereit. Eine vollständige Rückkehr in das Staatsgebiet der Ukraine sei ebenfalls nicht vorstellbar, solange sich die Machtverhältnisse in Kiew nicht grundlegend änderten und demokratische Kräfte an die Macht kämen. Als selbstständige, aber isolierte Staaten zu überleben, habe auf Dauer auch keine Aussicht auf Erfolg.

„Die Leidtragenden sind wie immer die einfachen Menschen in der Konfliktregion, vor allem alte Leute und Kinder“, macht er deutlich. „Sie brauchen viel Unterstützung, um zu überleben. Die Ukraine kümmert sich nicht um sie, obwohl sie de facto ukrainische Staatsbürger sind. Ihnen bleibt also nur die Hoffnung auf internationale humanitäre Hilfe.“
(Hartmut Hübner/russland.NEWS)

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