Übersterblichkeit in Russland auf Rekordniveau – Underreporting oder unzureichende Covid-Buchführung

Übersterblichkeit in Russland auf Rekordniveau – Underreporting oder unzureichende Covid-Buchführung

Die vergangene Woche brachte neue Statistiken über Covid-19. Die russische Statistikbehörde Rosstat veröffentlichte Daten, wonach die Zahl der eindeutig durch das Coronavirus verursachten Todesfälle in Russland im Juni im Vergleich zum Mai um das 1,5-fache auf etwa 20.000 gestiegen Insgesamt ist. Das sind 52,9 Prozent mehr als im Mai, in dem etwas über 13.000 Menschen durch das Coronavirus ihr Leben verloren.

starben im Juni mehr als 27.000 Menschen mit dieser Diagnose, bei davon war Covid-19 die Haupttodesursache. In ganz Russland gab es im Juni 185.655 Todesfälle (23.000 mehr als im Mai und 48.418 mehr als im Juni 2019), von denen 14,6 Prozent als durch oder mit Verdacht auf Coronavirus zählen.

Die Daten von Rosstat unterscheiden sich von den Angaben des Covid-19-Koordinationszentrums in Moskau: Im Juni gab es in Russland nur 14.013 bestätigte Todesfälle durch das Virus. Der Chef von Rosstat, Pawel Malkow, erklärt das mit unterschiedlichen Berechnungsmethoden.

Andere Institutionen kommen mit ihren unterschiedlichen Berechnungsmethoden zu höheren Ergebnissen über die Vorgänge in Russland. Für die Johns Hopkins University steht Russland weltweit an erster Stelle, was die Zahl der Coronavirus-bedingten Todesfälle pro Million Einwohner betrifft.

Brasilien und Indien blieben bei der absoluten Zahl der Todesfälle durch das Coronavirus im Juni weltweit führend.

Der Vergleich der Todesfälle durch das Coronavirus in verschiedenen Ländern ist aufgrund der verschiedener Zählmethoden nicht einfach. Belgien hat beispielsweise solche Todesfälle in die Statistik der Sterblichkeit durch Covid-19 aufgenommen, bei denen zumindest ein Verdacht auf eine Infektion mit dem Coronavirus bestand. Infolgedessen hat Belgien viel mehr Daten zu Todesfällen durch das Coronavirus als andere. Dennoch gilt die Übersterblichkeit, definiert als Anstieg der Gesamtsterblichkeit im Vergleich zur erwarteten Sterblichkeit, als der objektivste Indikator für die Zahl der Todesfälle durch Covid-19.

Die meisten Länder nehmen in die Statistik alle Todesfälle auf, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Berücksichtigt werden nicht nur Patienten, die am Coronavirus gestorben sind, sondern auch Patienten, die an Covid mit einer Begleiterkrankung litten. Nicht jeder Russe, bei dem Covid-19 durch Tests oder als Ergebnis einer posthumen Autopsie diagnostiziert wurde, wird in die Listen der Todesfälle durch das Coronavirus aufgenommen. So gibt es in Russland die Formulierung „Tod durch Covid-19“ für die, bei denen posthum das Virus als Todesursache diagnostiziert wurde. Wenn eine bestätigte Coronavirus-Infektion vorliegt, der Tod aber aus einer anderen Ursache eingetreten ist, heißt es „Tod mit Covid-19“.

Die Sterblichkeit durch das Coronavirus steigt und fällt in den meisten Ländern normalerweise sprunghaft – an manchen Tagen kann ein starker Anstieg und an manchen Tagen ein ebenso starker Rückgang verzeichnet werden. In Russland gab es nach offiziellen Statistiken in den letzten drei Monaten keinen einzigen scharfen Sprung, die Zahl der Fälle bleibt von Tag zu Tag praktisch unverändert. Am 16., 24. und 29. Juli sowie am 11. August wurden jeweils 799 Todesfälle gemeldet. Gestern lag die Zahl der Corona-Toten bei 819 – so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie vor anderthalb Jahren.

Die Moskauer Covid-Zentrale hat seit Beginn der Pandemie in Russland 170.499 Todesfälle registriert. Rosstat hatte im Juni eingeräumt, dass es bei einer weiter gefassten Definition von Corona-Toten in Russland schon mehr als 300.000 Todesopfer gebe.

Ein kürzlich in der Fachzeitschrift eLife veröffentlichter Artikel der unabhängigen Statistiker Dimitri Kobak von der Hebräischen Universität Jerusalem (Israel) und Ariel Karlinsky von der Universität Tübingen (Deutschland) legt nahe, dass Russland nach wie vor einen „festen Platz in der Weltrangliste für die Untererfassung von Sterbefällen“ einnimmt. Allerdings sei das Ausmaß des „Underreporting“ in letzter Zeit etwas zurückgegangen.

Länder auf der ganzen Welt haben von Beginn der Pandemie bis Ende Juli 2021 4,2 Millionen Todesfälle durch SARS-CoV-2 gemeldet, aber die tatsächliche Zahl der Todesfälle ist wahrscheinlich höher. Laut einer Studie des Magazins The Economist wurde sie im April auf 10 Millionen geschätzt. Bisher gab es kein globales, stets aktualisiertes Datenarchiv zur Gesamtmortalität nach Ländern. Um diese Lücke zu schließen, sammelten Kobak und Karlinski wöchentliche, monatliche oder vierteljährliche Gesamtsterblichkeitsdaten aus 103 Ländern und Gebieten, die als regelmäßig aktualisierter globaler Mortalitätsdatensatz öffentlich zugänglich sind und erstellten daraus eine Datenbank namens World Mortality Dataset. Die internationale Analyse der pandemischen Übersterblichkeit zeigt, dass Covid in einigen Ländern die Bevölkerung stark reduziert, während in anderen Ländern die Sterblichkeit entweder auf dem Niveau vor der Pandemie lag oder sogar zurückging.

Russland macht die Epidemie sehr schlecht durch, weltweit gehört die derzeitige Situation zu den weltweit schlimmsten. Selbst wenn sich die Epidemie bis November/Dezember nicht weiter verschlimmert, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie 2021 folgenreicher sein wird als 2020, bei 90 Prozent. Und das nicht, weil das russische Gesundheitssystem versagt hat. Dies liegt daran, dass die Bevölkerung die Schutzmaßnahmen vernachlässigt und sich deswegen Menschen anstecken. Fast alle diese Menschen hätten nicht sterben müssen und wären nicht gestorben, wenn sie sich nicht mit dem Coronavirus infiziert hätten.

Darüber sprach der unabhängige russische Demograf Alexei Raksha – ein ehemaliger Berater von Rosstat, der die Behörde nach einem Konflikt mit der Führung verließ – mit dem Boulevardblatt „Moskauer Komsomolz“.  Dabei nannte er weitaus höhere Zahlen. „Nach den optimistischsten Schätzungen sterben in Russland täglich 2.400 Menschen an den Folgen des Coronavirus, aber es ist wahrscheinlicher, dass es 2.800 oder sogar 3.000 sind.“

Letzte Woche hatte Gesundheitsminister Michail Muraschko vor Präsident Putin Russland eine „verblassende Pandemiedynamik“ bescheinigt. Am Montag hieß es von einer für Rospotrebnadzor forschenden Wissenschaftlerin, die Situation mit der Ausbreitung der Coronavirus-Infektion habe sich in Russland stabilisiert, bleibe aber weiter angespannt.

Der Chefarzt des Kommunarka-Krankenhauses sprach  über einen Rückgang der Inzidenz des Coronavirus sowie der Zahl der Krankenhauseinweisungen in ganz Russland. Eineinhalb Jahre Erfahrung in der Bekämpfung dieser Infektion ermöglichen es, keine Angst vor einer neuen Covid-19-Welle zu haben, die im Herbst beginnen könnte.

Gegenüber der halboffiziellen Zeitung Parlamentskaja Gazeta warnt der Mediziner und Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Michail Alexandrowitsch Paltsew, die Inzidenz von COVID-19 werde nach dem traditionellen Urlaubsmonat August im Herbst nicht absinken, sondern zunehmen. „Die epidemiologische Lage kann also wie im letzten Jahr im September-Oktober angespannt werden. … Die veröffentlichten Zahlen spiegeln nicht den wahren Stand der Dinge wider.“ Paltsew führt die Verschlechterung der Lage auf zwei Umstände zurück. Das Coronavirus mutiert, wird schneller übertragen und hat eine kürzere Inkubationszeit. Zweitens sinkt während einer Pandemie jegliche Immunität. Durch den erzwungenen Verbleib in den vier Wänden und die durch zunehmende Armut bedingte schlechtere Ernährung.

Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin hatte am Freitag einige Corona-Beschränkungen aufgehoben. Die Erstimpfrate in Russland liegt bei 27 Prozent. Die Skepsis gegen russische Impfstoffe in der Bevölkerung scheint groß.

Nach Angaben der Covid 19-Zentrale In Moskau erreichte die Gesamtzahl der Infizierten 6.600.836 davon gelten 5.884.316 als genesen. Zieht man von der Differenz (716.520) die bisher 170.499 Verstorbenen ab, bleiben 546.021 Menschen übrig. Die gelten als was und halten sich wo auf – im Krankenhaus, REHA-Zentrum, Kurort, am Arbeitsplatz oder zuhause? In fünf Wochen wird in Russland ein neues Parlament gewählt. Erst danach wird es verlässlichere Zahlen geben.

Auch in Deutschland nähren neue Studien Zweifel an den offiziellen Zahlen. Das Robert Koch-Instituts (RKI) soll das Millionen von Erstimpfungen nicht in seiner Datenbank erfasst

haben. Eine neue Umfrage verdichtet die Anzeichen, dass das RKI sein Impfquoten-Monitoring unterschätzt. Bis zu fünf Millionen Menschen mehr als bisher bekannt sollen erstimmunisiert sein.

[hrsg/russland.NEWS]

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