Tschernobyl hat die UdSSR gesprengt

[von Pjotr Romanow] Es erwies sich, dass die Tschernobyl-Lüge für die UdSSR nicht minder todbringend war als die radioaktive Strahlung.

Auf den zwanzigsten Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl (26. April 1986) reagiert die Welt mit zahlreichen Publikationen, was natürlich ist. Die Tatsache an sich ist schon tragisch, zudem wirken sich die Folgen jenes GAU bisher auf das Leben vieler Menschen aus.

Der radioaktive Staub ist nicht nur auf das Territorium der ehemaligen Sowjetunion nieder gegangen, sondern auch auf Polen, Bulgarien, Deutschland, Schweden, die Schweiz, Belgien, England, die Niederlanden und viele andere Ländern. Glück hatten nur Frankreich, Spanien und der italienische Süden: Der Wind wehte die Gefahr von ihnen weg.

Die meisten der bereits vorliegenden Publikationen zum Thema Tschernobyl stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit den Problemen der Sicherheit der Atomenergetik, was durchaus logisch ist. Niemand will die Wiederholung einer solchen technogenen Katastrophe. Es war kein Zufall, dass die durch Tschernobyl verursachte Angst in vielen Ländern der Welt die Entwicklung der Atomenergiewirtschaft etwas abbremste, die weltweite Energiekrise verschärfte, zu einem weiteren Preisanstieg bei den Energieträgern führte usw.

Unangenehm auffällig ist jedoch, dass die weitaus meisten Publikationen über Tschernobyl eindeutig bestellte Ware sind und nicht das Echo der Tragödie widerspiegeln, sondern lediglich den Kampf um den Markt der Atomtechnologien: Für einige Konkurrenten ist die Tragödie nur ein Vorwand, dem potentiellen Käufer einzuhämmern: Den russischen Atomtechnologien sei nicht zu vertrauen.

Das ist erstens nicht gerade zeitgemäß und nicht sehr schön, zweitens aber – falsch.

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wie eine Volksweisheit lehrt. Anders als die meisten ihrer Konkurrenten haben gerade die Russen, durch die bittere, aber auch praktische Erfahrung belehrt, einen kolossalen Beitrag zur Entwicklung zusätzlicher Methoden und Mittel der Sicherheit von Kernreaktoren beigetragen. Vor allem haben sie Momente berücksichtigt, die bei der Ausarbeitung des Sicherheitssystems des Reaktors von Tschernobyl außer Betracht geblieben waren, konkret „den Schutz vor Dummheit“ beziehungsweise vor dem – gelinde gesagt – nicht immer zuverlässigen Faktor Mensch. Das war nämlich die Ursache jener Tragödie. Das größte Unglück von Tschernobyl ist heute vielleicht der Umstand, dass diese einzigartige russische Erfahrung – sowohl bei der Verstärkung der Sicherheit der Atomreaktoren als auch bei Maßnahmen für den Fall von extremen Situationen – im Westen so gut wie nicht beachtet wird.

Ich weiß, dass die Mitarbeiter des Kurtschatow-Instituts, dieses Hauptzentrums von Russlands Atomwissenschaft, wiederholt klagten: Das Wichtigste davon, was sie in den zwanzig Jahren der ununterbrochenen Arbeit im KKW Tschernobyl schon nach der Katastrophe geleistet haben, berücksichtigen ihre ausländischen Kollegen so gut wie überhaupt nicht. Jammerschade. Akademiemitglied Jewgeni Welichow, Präsident des Forschungszentrums „Kurtschatow-Institut“, kann heute mit vollem Recht sagen: „Die russischen Kernphysiker haben die Lehren von Tschernobyl in vollem Maße und für immer beherzigt.“

Anders ausgedrückt: Wenn überhaupt etwas Positives in jener Tragödie war, dann sind das praktische Erfahrungen und ihre Lehren. Dazu die auf ihrer Grundlage erarbeiteten Empfehlungen. Gerade dieser unschätzbare Reichtum interessiert die ausländischen Fachleute nicht, sie glauben, auch ohne auskommen zu können. Nun, gutes Gelingen! Aber Menschen, die mit Atom zu tun haben, wissen ausgezeichnet: Diverse äußerst gefährliche Vorkommnisse, die zu einer noch größeren Tragödie als Tschernobyl hätten führen können, sind in vielen westlichen Ländern geschehen. Die Liste ist dermaßen lang, dass ich sie nicht anführen will, aber darin stehen zum Beispiel auch die USA, Großbritannien und die Schweiz. So dass die russische Kerntechnologie für Menschen, die sich in der Sache wirklich auskennen, heute am sichersten ist. Alles andere ist Werbung. Mit dem winzigen Unterschied, dass da nicht für Pepsi geworben wird.

Es gibt jedoch eine weitere Folge der Ereignisse in Tschernobyl, über die selten nachgedacht wird. Meiner Ansicht nach hat gerade Tschernobyl die UdSSR gesprengt. Die Gründe für den Niedergang eines solchen Giganten sind selbstverständlich mannigfach, das steht fest. Jemand wird vielleicht sagen, die Begründer des Marxismus hätten das Element der Selbstvernichtung in die sowjetische Politik und Wirtschaft gleich bei deren Geburt hineingezaubert. Und er wird Recht haben. Andere Menschen werden als Ursache für den Zerfall der UdSSR das Wettrüsten nennen oder sich an Afghanistan erinnern, beides habe die Stärke der Sowjetunion untergraben. Und wieder ist es ein Treffer. Wieder andere datieren den Niedergang der Sowjetunion mit dem Treffen in Beloweschskaja Puschtscha, dem Ort, an dem die damaligen führenden Politiker Russlands, der Ukraine und Weißrusslands heimlich vor Gorbatschow ein Dokument unterzeichneten, mit dem sie der UdSSR den Todesstoß versetzten. Auch dieses Argument trifft.

Dennoch gehört meiner Meinung nach Tschernobyl ebenfalls in diese Reihe, denn diese Katastrophe war nicht nur ein Strahlungsausbruch, sondern auch ein gigantischer Auswurf von Lügen, der den Sowjetmenschen einen Schock versetzte. Mehrere Tage lang verbargen die Regierenden die Wahrheit überhaupt vor allen. Das aber bedeutet, dass sich die Kinder und ihre Eltern in Minsk unter einem milden Frühlingsregen tummelten, der radioaktiv verstrahlt war, todbringendes Obst aßen, in ukrainische und weißrussische Kurorte reisten, anstatt sofort in die entgegen gesetzte Richtung zu fliehen, und friedlich angelten. Als endlich Gerüchte aufkamen, brach Panik aus: Die Menschen kauften die Eisenbahnkassen und Apotheken leer. Erst als die ersten, noch halb wahrheitsgemäßen offiziellen Nachrichten erschienen, wurde klar, wie ungeheuer groß die Tschernobyl-Lüge war.

Grundsätzlich wichtig ist schließlich noch etwas: Diese Lüge wurde dadurch nur verschlimmert, dass sie von den Parteireformern ausging, denen viele schon vertrauten. Sie hatten daran geglaubt, die Reform des Sowjetsystems sei im Prinzip möglich.

Nach dieser Lüge gab es niemanden mehr, dem man noch hätte glauben können. Als aus Beloweschskaja Puschtscha die Nachricht über das Eingehen der UdSSR kam, erhob sich keiner zu ihrer Verteidigung.

Es zeigte sich, dass die Lüge genauso todbringend war wie die radioaktive Strahlung.

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