Triumph der Unberechenbarkeit – zehn Jahre nach Putins Münchner Rede

Im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz stellt sich „Republic“ die Fragen: Was kann Russland den USA bei dem neuen Treffen in München vorschlagen? Und werden diese Vorschläge lebensfähig sein?

Ende dieser Woche findet die traditionelle Münchner Sicherheitskonferenz statt, danach gibt es am 20. Februar in Bonn ein Außenministertreffen der G20. Beide Veranstaltungen liefern die Basis für offizielle Gespräche von Sergej Lawrow (…) mit den Leitern des außenpolitischen Teams von Donald Trump. Nach München kommen Vizepräsident Mike Pence, Außenminister Rex Tillerson und Pentagon-Chef James Mattis. Ziel dieser Treffen ist es, eine positive Agenda der Zusammenarbeit mit der neuen US-Regierung zu umreißen und – wenn alles glatt läuft – ein erstes Treffen der Präsidenten zu vereinbaren.

Die Schlüsselfrage liegt beim „Inhalt des russischen Angebots“ für das neue Team im Weißen Haus. Der zehnte Jahrestag der Münchner Rede von Wladimir Putin am 10. Februar 2007 verstärkt die Symbolkraft des Moments. Damals hatte er vor den Gefahren einer „unipolaren Welt“ und „einseitigen Gewalthandlungen“ gewarnt, zugleich aber vorgeschlagen, zu den Konsultationen zwischen Moskau und Washington bei akuten internationalen Problemen zurückzukehren.

Der Hauptakzent der Rede lag in der Eindämmung der USA durch eine „legalistische Linie“ Russlands, mit der die Treue zum Buchstaben des internationalen Rechts demonstriert werden sollte – vor allem den Prinzipien der Nichtanwendung von Gewalt, der Achtung von Souveränität und territorialer Integrität sowie der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten. Akzentuiert wurde die kollektive Beschlussfassung in Fragen von Krieg und Frieden ausschließlich auf Ebene des Sicherheitsrates der Uno. Damit war Moskau bestrebt, nicht nur seine Schwäche in militärischer Hinsicht zu kompensieren, sondern auch seinen internationalen Status als Großmacht zu bekräftigen, indem die den USA ebenbürtige Verantwortung für die globale Sicherheit betont wurde. Russland wollte von den USA die Anerkennung erhalten, dass akute internationale Probleme zur Ausarbeitung von gemeinsamen Entscheidungen unbedingt mit Moskau erörtert werden müssen.

Zehn Jahre später kann Moskau nicht ohne Stolz konstatieren, dass die Ziele der Münchner Rede fast erreicht wurden – die unipolare Welt wird Vergangenheit, und Washingtons Appetit bei der einseitigen Anwendung von Gewalt hat stark abgenommen, obwohl das mehr aus eigener Überanstrengung und der Enttäuschung der amerikanischen Wähler über die Ergebnisse dieser Politik heraus.

Die Ironie liegt darin, dass Moskau 2014-2016 zur Erreichung der Münchner Ziele von 2007 genau bei den Methoden Zuflucht suchen musste, die es in der amerikanischen Außenpolitik so sehr verurteilte – zur einseitigen Anwendung von Gewalt unter erdachten Vorwänden (Krim, Donbass, Syrien), zu „humanitärer Intervention“ zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung (Krim, Donbass), zur Teilnahme an einer ausländischen Militärintervention (Syrien), zu Relativismus und Selektivität bei der Anwendung des internationalen Rechts in Umgehung des UN-Sicherheitsrates, zu Jähheit und Unberechenbarkeit bei den außenpolitischen Zielen und zur Bereitschaft zu nichtproportionaler Eskalation.

Ein seltsamer Krieg

Als Schlüsselerrungenschaft gilt jetzt, dass Russland das Monopol der USA auf Anwendung von Gewalt jenseits ihrer traditionellen Region zerstört und „sein Recht auf die Verletzung des internationalen Rechts verteidigt hat“ – genau wie die USA. Kehrseite dieses Siegs ist, dass die bestehende Weltordnung aus der Balance geraten ist und die Unberechenbarkeit und Instabilität in Regionen jäh zugenommen hat, die für Russland von Schlüsselbedeutung sind. Und das bei der Begrenztheit der russischen Ressourcen und von effektiven Einflussinstrumenten, außer der Militärkraft. Russland hat die Nische der USA als Hauptfaktor der Chaotisierung der Weltpolitik eingenommen.

Aufgetaucht ist eine neue Gefahr der Marginalisierung des UN-Sicherheitsrates als Zentrum der Entscheidungsfindung in Fragen von Krieg und Frieden; für Moskau sollte das eine angsteinflößende Perspektive sein. Hierher kommt im Kreml auch das erneute Bestreben nach „neuer Entspannung“ im Verhältnis zu den USA unter Präsident Trump, der angeblich „die amerikanischen nationalen Interessen richtig interpretiert“, nämlich in Richtung Absage an die globale Führerschaft. Moskau braucht erneut international-rechtliche Kontrollen und Gegengewichte, die die „Freiheit der Hände der USA“ bei einem unberechenbaren Trump einschränken, aber Russland nicht allzu sehr begrenzen. Das ist eine wahrscheinliche Konfliktquelle für die Zukunft.

Aber eine außenpolitische Strategie vom Typus „In Trump We Trust“ würde Washington völlig die Initiative überlassen und Moskau den mit solcher Mühe erworbenen Status einer den USA ebenbürtigen Großmacht nehmen. Obendrein wird immer offensichtlicher, dass die Sicht der Trump-Administration auf die Verbesserung der Beziehungen mit Russland – zum Beispiel durch Russlands Verzicht auf die weitere strategische Annäherung mit Iran und China – nicht mit den Interessen Moskaus zusammenfallen und im Kreml Widerstand und Versuche hervorrufen, klarzustellen, dass darüber nicht verhandelt wird. Um solchen unanständigen Angeboten auszuweichen, braucht Moskau eine eigene Agenda. Bisher klingt sie beabsichtigt maximalistisch. „Wir gehen Trump mit Putins Münchner Rede entgegen“, sagt Alexej Puschkow in der Sendung von Wladimir Solowjow. „Weiter gucken wir, ob die USA unsere Forderungen annehmen und ihre globalen Ambitionen herunterschrauben.“ Das klingt mutig, aber bekanntlich steckt der Teufel immer im Detail.

Aus in die Öffentlichkeit geratenen Informationen zum Telefongespräch von Trump und Putin wissen wir, dass Moskau Washington vorgeschlagen hat, Verhandlungen zur Verlängerung des Start-III-Vertrags, der 2021 ausläuft, um fünf Jahre und zu den Problemen mit der Raketenabwehr aufzunehmen. Früher hatte die russische Seite in Person von Vizeaußenminister Sergej Rjbkow Trumps Idee der Aufhebung der Sanktionen im Tausch gegen die atomare Abrüstung als „nicht arbeitsfähig“ zurückgewiesen. Moskau möchte das unter Obama und George Bush d. J. ausgearbeitete Schema zum Neustart der Beziehungen durch Vereinbarungen über Nuklearwaffen natürlich nicht wieder auf dem Tisch haben, denn außen vor bleiben für Russland wichtigere Fragen der Weltordnung, der Sicherheitsarchitektur in Europa und des russischen Kontrollbereichs im postsowjetischen Raum.

Der Kreml möchte sich nicht am Zählen von Gefechtsköpfen festbeißen oder – mehr noch – sich auf größere Reduzierungen einlassen als Start-III vorsieht (1550 entfaltete Sprengköpfe auf 700 Trägersystemen), oder auf die Verringerung von taktischen Atomwaffen, wie Obama dies vorschlug und was Trump vielleicht erneut unterbreiten wird.

Worüber reden?

Das Problem ist erstens, dass es fast keine gleichberechtigten Themen für einen gehaltvollen Dialog mehr gibt, und zweitens muss Moskau selbst eine Reihe sensibler Fragen im strategischen Bereich lösen – zum Beispiel die Entfaltung der europäischen Raketenabwehr und der Hyperschallsysteme „Prompt Global Strike“ blockieren. Ja auch die Verlängerung von Start-III ist günstig für Russland – ohne seine Einschränkungen ist es praktisch unmöglich, die atomare Parität mit den USA zu halten, umso mehr unter den Bedingungen des von Washington angekündigten Programms zur Modernisierung seiner Nuklear-Triade und der Appelle, Start-III aufzukündigen, da er angeblich „für Russland günstiger ist“, wie Trump beim Telefonat mit Putin sagte (tatsächlich ist das natürlich nicht so).

Die Situation ist dadurch unangenehm, dass es unter der Obama-Administration relativ leicht war, eine Vereinbarung über die Verlängerung von Start-III und über Vertrauensmaßnahmen beim europäischen Raketenabwehrsystem zu erzielen (das haben wir wiederholt vorgeschlagen), aber der Nationalstolz hat es nicht erlaubt, die Sicherheitsinteressen des Landes auf einfache und kostengünstige Weise zu gewährleisten.

Jetzt gibt es das Risiko, dass sich die Ereignisse von 2001-2002 wiederholen, als die Bush-Administration einseitig aus dem ABM-Vertrag aussteigen wollte (Clinton schlug eine Änderung vor, aber Moskau war dagegen) und den deklarativen Start-Vertrag ohne jedwedes gegenseitiges Kontrollsystem unterzeichnete.

Moskau befindet sich erneut in der Lage, den verpassten Möglichkeiten hinterher weinen zu müssen – wenn Trump zum Beispiel, außer dem Raketenabwehrsystem in Europa, damit beginnen sollte, die Abfang-Gruppierung GBI (Ground Based Interceptor) zum Schutz des kontinentalen Teils der USA vor nordkoreanischen (und chinesischen) Langstreckenraketen aufzustocken. Im Unterschied zum nicht sonderlich starken europäischen Raketenabwehrsystem, das für die russischen Eindämmungskräfte keine Gefahr darstellt, ist das System GBI gerade für das Abfangen von beliebigen Langstreckenraketen vorgesehen und untergräbt die strategische Stabilität.

Deshalb begibt sich Moskau zu den Verhandlungen mit Trump über Atomwaffen wie auf ein Minenfeld – bloß keinen Schritt zu viel zur Seite machen. Aber die Wiederaufnahme des Dialogs in diesem Bereich ist wichtig für die Verbesserung der Atmosphäre und den Übergang zur Entspannung.

Als Hauptthema der bevorstehenden Kontakte mit Trumps Mannschaft würde Russland gern den gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus und „ein engeres und effektiveres Zusammenwirken“ in Syrien gegen den IS sehen – dieses Thema nahm einen bedeutenden Teil des Telefongesprächs von Putin und Trump am 28. Januar ein.

Moskau versucht so viel wie möglich von dem zu bekommen, was Trump als kompromisslose Ausrichtung auf die Vernichtung „des radikalen islamischen Terrorismus“ deklariert, obwohl er es vorzieht, diesen allzu weiten Begriff zu verwenden. Ziel ist es, über dieses Thema zu einer neuen Qualität der Beziehungen zu kommen, die Atmosphäre radikalen zu ändern, Russlands Bedeutung als Partner zu erhöhen und in einen de-facto-Militärbund mit den USA einzutreten, der alle restlichen Meinungsverschiedenheiten – vor allem zur Ukraine – zweitrangig machen würde.

Hoffnung auf einen Deal

Das Problem liegt darin, dass es bei diesem Thema nicht allzu viele Berührungspunkte gibt. Die realen Möglichkeiten Moskaus beim Antiterrorkampf könnten die überhöhten Erwartungen Trumps und seiner Berater nicht rechtfertigen. Zum Beispiel brauchen die USA für die Offensive auf die IS-Hauptstadt Rakka keine russischen Weltraumtruppen. Russland hat keine Bodentruppen in Syrien, außer der tschetschenisch-inguschetischen Militärpolizei und kleinen Sondergruppen; die „iranischen Verbündeten“ und Assad kontrollieren aber nur mit Mühe das, was sie schon „befreit“ haben.

In manchen Regionen stehen wir überhaupt faktisch im Konflikt. Zum Beispiel in Afghanistan, wo Russland im Kampf gegen den IS beschlossen hat, auf die Taliban zu setzen (sie stehen auf der UN-Liste der Terrororganisationen und halten Verbindungen zu Al-Qaida aufrecht). Die Taliban führen einen Vernichtungskrieg gegen die von den Amerikanern unterstützte afghanische Regierung in Kabul. Nach Ansicht des Kommandeurs der amerikanischen Kräfte in Afghanistan, John Nicholson, besteht Russlands Ziel bei der Legitimierung der Taliban darin, die Anstrengungen der USA und der Nato im Kampf gegen den IS und zur Stabilisierung Afghanistans zu untergraben.

In Libyen setzt Moskau auf General Haftar, die USA – auf jeden Fall bisher – auf die von der Uno unterstützte Regierung der nationalen Einheit, die Haftar mit russischer Militärhilfe stürzen will. Gegen den IS kämpfen die Regierungskräfte dabei stärker als Haftar. Die Bemühungen von Trump und seinem Team, den Iran, den Moskau im Verbund der Antiterror-Koalition in Syrien sieht, als größten Terrorismus-Sponsor hinzustellen, bestätigt nur das uralte Prinzip: „Euer Terrorist ist unser Freiheitskämpfer.“

Das Тhema des „gemeinsamen Kampfes gegen den Terrorismus“ braucht Moskau zur Stärkung seiner Positionen im postsowjetischen Raum, vor allem zum Erreichen seiner Ziele in der Ukraine (Schwächung des ukrainischen Staates und Kontrolle über ihre Außen- und Verteidigungspolitik). Der Kreml erwartet, dass die Antiterror-Zusammenarbeit Washington dazu zwingt, die Aufhebung der antirussischen Sanktionen von der Entwicklung der Ereignisse in der Ukraine oder wenigstens von der Erfüllung von Minsk 2 durch Moskau abzukoppeln.

Genau so wollte man im Kreml die Erklärung von Vizepräsident Pence deuten, dass die Sanktionen als Antwort auf „Veränderungen in Russlands Position“ und „die Bereitschaft zur Handlung für gemeinsame Ziele“ aufgehoben werden könnten. Aber bisher sieht solch ein Optimismus lächerlich aus – es gab keine Abkoppelung der amerikanischen Sanktionen von der Ukraine. Die amerikanische Position bleibt erhalten, kann aber überdacht werden.

Möglicherweise betreffen die Andeutungen auf die Beendigung der Sanktionen gar nicht das Ukraine-Paket (ganz gewiss betreffen sie nicht die Krim-Frage, bestätigte die amerikanische UN-Botschafterin Nikki Haley), sondern lediglich die Antihacker-Sanktionen, die von Obama auferlegt wurden – und das wäre logisch, denn von ihnen sind FSB und GRU betroffen, und die werden beim „gemeinsamen Antiterrorkampf“ gebraucht.

Andere ukrainische Signale von Trump sind „der alte Grenzkonflikt zwischen Russland und der Ukraine“ und Andeutungen eines „großen Deals“, in dem der Donbass und gar die Krim vorkommen sollen – diese Signale machen den Kreml nervös. Dmitri Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten, erklärte gegenüber Interfax, der „innerukrainische Konflikt kann nicht Gegenstand irgendeines Deals“ zwischen Russland und den USA sein; „das Schicksal der Menschen, die im Donbass leben, kann nicht Gegenstand eines Deals sein“, und zwischen Russland und der Ukraine „gibt es keinen Konflikt“.

Über die Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus versucht der Kreml einen „großen Deal“ zur Ukraine und sogar zum gesamten postsowjetischen Raum durchzudrücken, soll heißen: von Trump die Anerkennung dessen zu bekommen, dass die Ukraine und andere postsowjetische Länder – die Baltischen Staaten ausgeschlossen – sich außerhalb der Interessensphäre der USA befinden, und dass die USA dort die Interessen Russlands im Tausch gegen die Anerkennung der amerikanischen Interessen anerkennt, zum Beispiel im Nahen Osten.

Das Ziel lautet, bei der Verbesserung der Beziehungen zu den USA nicht seine Hauptinteressen preiszugeben, wie es im Laufe des Neustarts mit der Administration Obama der Fall war, sondern die neue Qualität des Zusammenwirkens mit den USA zur Stärkung der Positionen Russlands in Europa, im postsowjetischen Raum und gar in Asien zu nutzen.

Für die Ukraine bedeutet dies, dass Moskau von Washington härteren Druck auf Kiew zur Erfüllung der Minsker Abkommen erwartet, die Russland braucht, um seinen Einfluss erst auf die ukrainische Innen-, und dann auch Außenpolitik zurückzubekommen. Es ist kein Zufall, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow erneut zu den Abmachungen von April 2014 zurückgekehrt ist, an denen die USA beteiligt waren und die Föderalisierung der Ukraine vorsahen. Sie erweiteten maximal die Möglichkeit Russlands, die ukrainische Politik zu lenken.

Wie es aussieht, gehen der Kreml und das neue Weiße Haus mit konkurrierenden Agenden aufeinander zu und werden sich bemühen, dem Partner die für sich selbst günstigste Themenpalette aufzudrängen. In solch einer delikaten Situation macht es keinen Sinn, das erste Treffen auf höchster Ebene herbeizuzwingen, denn so kann man „unbequemen Vorschlägen und Initiativen“ aus dem Weg gehen. Laut Dmitri Peskow ist bisher lediglich ein Kontakt beim G20-Gipfel im Juni in Deutschland geplant, obwohl früher von einer zeitlich näheren Begegnung der beiden Staatschefs die Rede war.

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