Symbolfigur der Moskauer Proteste überfallen

Symbolfigur der Moskauer Proteste überfallen

Gestern wurde Jegor Schukow, ein Verurteilter im sogenannten „Moskauer Fall“, in Moskau von zwei maskierten, unbekannten Tätern angegriffen. Der Vorfall ereignete sich in der Nacht, als sich Schukow dem Eingang seines Hauses näherte, berichtete der Telegramkanal „Schukows Team“. Schukows Arm wurde verletzt, aber es gelang ihm, den Angreifern zu entkommen. Es wird auch berichtet, dass die Angreifer ausdrücklich auf ihn warteten und ihn bei seinem Namen nannten.

Der 21-jährige Politologiestudent der renommierten Higher School of Economics Jegor Schukow wurde nach seiner Teilnahme an den Protesten vor den Wahlen der Moskauer Stadtduma im August 2019 verhaftet. Zuerst wurde Schukow der Unruhen beschuldigt. Eine große öffentliche Kampagne wurde gestartet, um ihn zu unterstützen. Viel Prominenz, berühmte Schauspieler, Journalisten und Rapper traten für den jungen Mann ein. Infolgedessen wurde die ursprüngliche Anklage von ihm fallen gelassen, aber ein neuer Fall wurde wegen Anstiftung zum Extremismus über YouTube eröffnet. Im Dezember letzten Jahres verurteilte das Moskauer Gericht Schukow zu drei Jahren Haft auf Bewährung

Sein Schlusswort vor Gericht wurde zu einer Art Manifest der jungen Generation und wird seitdem immer wieder gerne zitiert. Schukow appellierte an menschliche Werte und rief zu Verantwortung und Liebe füreinander auf. Unter anderem sagte er: „Unsere Gesellschaft ist durch eine undurchdringliche Schranke in zwei Ebenen unterteilt. Das gesamte Geld ist oben konzentriert, und von dort gibt niemand etwas ab. Unten hingegen – und das ist nicht übertrieben – herrscht nur noch Ausweglosigkeit. In dem Bewusstsein, dass sie mit nichts mehr rechnen können, in dem Bewusstsein, dass sie sich abstrampeln können, wie sie wollen und dass sie sich und ihren Familien trotzdem nicht zu Glück verhelfen können, lassen russische Männer ihren ganzen Zorn an den Frauen aus und saufen, oder bringen sich um. (…) Der Staat gibt klar zu verstehen: „Leute, verkriecht euch in eure Löcher, aber fangt nicht an, gemeinsam zu handeln. Mehr als zwei Leute dürfen sich nicht auf der Straße treffen, sonst buchten wir euch fürs Demonstrieren ein. Zusammenarbeit bei sozialen Themen ist verboten, sonst erklären wir euch zu ,ausländischen Agenten‘.“ (…) Woher sollen in einer solchen Umgebung Vertrauen und letztlich Liebe kommen? Keine romantische, sondern eine humanistische Liebe von Mensch zu Mensch.

Die einzige Sozialpolitik, die der russische Staat konsequent betreibt, ist die Politik der Atomisierung. So entmenschlicht uns der Staat in den Augen der jeweils anderen. In den Augen des Staates sind wir sowieso schon längst entmenschlicht. Wie soll man sonst sein barbarisches Verhältnis zu den Menschen erklären? Ein Verhältnis, das jeden Tag unterstrichen wird mit Gummiknüppel-Prügeln, Folter in den Strafkolonien, dem Ignorieren der HIV-Epidemie, der Schließung von Schulen und Krankenhäusern und so weiter. Die Sache ist die, dass der heutige russische Staat nur eine einzige traditionelle Institution wahrhaft in Ehren hält und stärkt – und das ist die Autokratie. Eine Autokratie, die es darauf anlegt, einem jeden das Leben zu zerstören, der aufrichtig das Gute für seine Heimat will, der sich nicht schämt zu lieben und Verantwortung zu übernehmen. (…) Schließlich mussten die Bürger unseres leidgeprüften [Landes] gründlich lernen, dass Initiative bestraft wird, dass die Obrigkeit immer recht hat, einfach weil sie die Obrigkeit ist, und dass Glück vielleicht auch hier möglich ist, aber leider nicht für sie. Und nachdem sie das begriffen hatten, begannen sie nach und nach zu gehen.

(…) Die Motive meines Handelns sind inzwischen wohl klar geworden. Ich wünsche mir wirklich, bei meinen Mitbürgern diese zwei Eigenschaften zu sehen: Verantwortung und Liebe. Verantwortung für sich selbst, für die Menschen um einen herum, für das ganze Land. Liebe zu den Schwachen, zum Nächsten, zur Menschheit. Dies ist mein Wunsch – und ein weiterer Grund, Euer Ehren, warum ich nicht zur Gewalt hätte aufrufen können. Gewalt, entfesselt, führt zu Straflosigkeit und damit auch zur Verantwortungslosigkeit. Und genauso führt Gewalt auch nicht zu Liebe“. (Übersetzung aus dem Russischen von der dekoder-Redaktion)

Derzeit setzt Jegor sein Studium fort und arbeitet als Radiomoderator beim oppositionellen Radiosender Echo Moskwy. In einem Interview mit dem Fernsehsender Dozhd sagte Jegor, dass er gerne Präsident Russlands werden würde. Er gilt als Symbol der Moskauer Protestbewegung.

[hrsg/russland.NEWS]

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