Steinmeier in Moskau im Interview

Außenminister Steinmeier ist gestern nach Moskau gereist, um dort ausführliche Gespräche zu führen. Im Mittelpunkt seines Besuches stehen intensive politische Konsultationen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow.

Bei diesen Gesprächen soll es um die gesamte Bandbreite der aktuellen Themen gehen – sowohl die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland, aber natürlich auch die Fragen, die auf der internationalen Agenda stehen: Iran, Syrien und manches andere.

Der Außenminister will sich für die Gespräche mit dem russischen Außenminister viel Zeit nehmen. Geplant ist ein gemeinsames, längeres Abendessen; am Freitag, ein längeres Gespräch im Delegationskreis.

In einem Interview mit der russischen Tageszeitung Kommersant nahm er Stellung.

FRAGE: Wie sieht das Programm für Ihren Besuch in Russland aus? Mit wem  haben Sie vor, sich zu treffen und was ist die wichtigste Botschaft der  deutschen Regierung, die Sie Ihren russischen Gesprächspartnern  überbringen werden?

Außenminister Steinmeier: Ich will mir bei meinem ersten Besuch in  Moskau nach meinem Amtsantritt als deutscher Außenminister vor allen  Dingen Zeit nehmen: Die Zeit, die wir brauchen, um über aktuelle Krisen  zu sprechen, Zeit aber auch, um gemeinsam über ganz grundsätzliche  Fragen nachzudenken. Meine Amtskollegen Sergeij Lawrow kenne ich seit  vielen Jahren, wir stehen in regelmäßigem und engem Kontakt, zuletzt  sind wir uns vor weniger als zwei Wochen auf der Sicherheitskonferenz in  München begegnet. Mir ist es wichtig, gleich zu Beginn meiner zweiten  Amtszeit eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit mit Moskau  anzubieten.

FRAGE: Was hat sich in den deutsch-russischen Beziehungen geändert, seit  Sie das letzte Mal deutscher Außenminister waren? Hat sich seitdem Ihre  Auffassung über Russland und die russische Politik geändert?

Außenminister Steinmeier: Die Zeit ist nicht stehen geblieben, nicht in  Deutschland und auch nicht in Russland. Die großen Konflikte und Krisen  sind näher an uns herangerückt. Das ändert aber nichts an meiner  Grundüberzeugung: Ohne Russland geht es nicht. Wir brauchen einander für  die Bewältigung der großen Konfliktherde, sei es der Bürgerkrieg in  Syrien, die E3+3-Verhandlungen über das iranische Atomprogramm, die  Stabilität Afghanistans oder die Lösung von Konflikten in unserer  gemeinsamen Nachbarschaft, die uns zum Teil schon seit mehr als 20  Jahren begleiten.

Unsere Länder verbindet viel mehr, als es in manchen Medienberichten und  öffentlichen Debatten gelegentlich den Anschein hat. Die Beziehungen  zwischen Deutschland und Russland leben von millionenfachen Kontakten in  Gesellschaft und Kultur, in der Wirtschaft und der Politik. Aus  Geografie und Geschichte, aus dem Zivilisationsbruch des  Nationalsozialismus und den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ergibt sich  für uns Deutsche die Verantwortung, an einer gemeinsamen Zukunft mit  Russland zu arbeiten. Uns verbinden vielfältige gemeinsame Interessen –  verlässliche vertragliche Beziehungen, nachhaltiges wirtschaftliches  Wachstum, langfristige politische Stabilität. Auf Grundlage dieser  gemeinsamen Interessen politische Ziele zu formulieren und in konkrete  Projekte zu übersetzen, darauf kommt es für mich an. Das ist auch das  Ziel meiner Gespräche in Moskau.

FRAGE: Welches sind die wichtigsten Probleme, die gegenwärtig die  Beziehungen zwischen Moskau und Berlin erschweren?

Außenminister Steinmeier:Es gibt Meinungsverschiedenheiten, unsere  Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, von  Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten gehören sicherlich dazu. Wir sehen  auf außenpolitische Themen mitunter mit anderen Augen.

Auch wie wir innerstaatlich mit den Anforderungen der Globalisierung  umgehen, da mögen wir durchaus unterschiedlich sein. Um Stabilität im  Inneren zu wahren und sich nach Außen erfolgreich zu behaupten, braucht  es offene Debatten und auch kritischen Austausch. Dass diese Ansicht  nicht überall in Russland geteilt wird, sollte uns nicht am Dialog  hindern. Im Gegenteil: Das sollte Ansporn sein, noch mehr miteinander zu  reden.

Wir dürfen unsere Beziehungen nicht auf die Unterschiede reduzieren,  sondern sollten die Gemeinsamkeiten stärker in den Blick nehmen. Ich  wünsche mir, dass wir eine konstruktive Zusammenarbeit auf möglichst  viele Bereiche ausdehnen können: in der Hauptstadt ebenso wie in den  Regionen, beim vermehrten Austausch zwischen unseren Zivilgesellschaften  ebenso wie bei der Stärkung der Mittelschicht in unseren Ländern. Ich  denke da zum Beispiel an Projekte in der Rechtszusammenarbeit, im  Gesundheitssektor, zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung oder den  Ausbau der Zusammenarbeit in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Auch  in der beruflichen Bildung drängt sich eine engere Kooperation förmlich  auf. Russische Unternehmen und deutsche Firmen in Russland haben  gleichermaßen einen hohen Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften.  Ebenso sollten wir verstärkt zu Fragen der Energieeffizienz und des  Umweltschutzes zusammenarbeiten. Mir geht es darum, unsere Beziehungen  durch greifbare Schritte zu vertiefen, die Deutschland und Russland  voran bringen.

FRAGE: Ist Deutschland bereit, sich ebenso eindeutig, wie Frankreich das  vor kurzem getan hat, zugunsten einer Aufhebung der Visapflicht zwischen  den EU-Ländern und Russland auszusprechen?

Außenminister Steinmeier: Unser gemeinsames Ziel muss es sein, dass  möglichst viele Menschen aus der Europäischen Union und Russland die  jeweils andere Seite besuchen. Visafreies Reisen kann unsere Beziehungen  einen enormen Schritt voranbringen. Das gilt für den  Wirtschaftsaustausch ebenso wie für zwischengesellschaftliche Kontakte.  An dem langfristigen Ziel einer Aufhebung der Visapflicht halten wir  fest. Die Verhandlungen sind endlich auch ein Stück weitergekommen. Es  macht aber keinen Sinn, sich unter Zeitdruck zu setzen. Wichtiger als  ein Stichtag ist es, zügig alle dafür notwendigen rechtlichen und  technischen Voraussetzungen zu schaffen.

FRAGE: Haben Sie nicht das Gefühl, dass die Politik der EU gegenüber den  östlichen Nachbarn in letzter Zeit maßgeblich von den baltischen Staaten  und Polen geprägt wird und Deutschland und andere Länder des „alten  Europa“, die weniger an einem geopolitischen Wettbewerb, denn vielmehr  an einer Zusammenarbeit mit Russland interessiert sind, in den  Hintergrund getreten sind? Und dass dies einer der Gründe für die  gegenwärtige Krise in den Beziehungen zwischen Moskau und der EU ist?

Außenminister Steinmeier: Deutschland setzt sich stark für Europa ein.  Das gilt auch für die gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union  gegenüber unserer östlichen Nachbarschaft. Das ist alles andere als ein  geopolitisches Spiel um Einflusssphären aus den Zeiten des Kalten  Krieges, schon gar kein Winkelzug, der sich gegen Russland richten  würde. Ganz im Gegenteil: Wir sind überzeugt, dass nachhaltige Reformen  von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft der Schlüssel für eine Zukunft  mit mehr Wachstum, Wohlstand und Stabilität sind. Wir wollen deshalb die  Länder in unserer Östlichen Nachbarschaft auf ihrem Reformweg begleiten  und bieten dafür breit angelegte Hilfestellung an. Das hilft den  Ländern, die sich ernsthaft modernisieren wollen und schwierige  Reformanstrengungen unternehmen. Das hilft auch der ganzen Region, die  unmittelbar von einem intensiveren wirtschaftlichen Austausch und mehr  politischer Stabilität profitiert. Ich glaube daran, dass es möglich  ist, einen solchen Weg zum Vorteil aller zu gehen. Da schließe ich  Russland ausdrücklich ein. Wir sollten daher zusammen überlegen, welche  Chancen, Voraussetzungen und Grenzen es für eine weitere wirtschaftliche  Integration zwischen Europa, Russland und unseren gemeinsamen Nachbarn  geben kann. Bei dieser Debatte sind unsere gemeinsamen Nachbarn gefragt,  aber natürlich Deutschland ebenso wie Russland, Polen, die baltischen  Staaten und alle übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich  glaube daran, dass sich so etwas erreichen lässt. Das zeigen doch auch  außenpolitische Entwicklungen der letzten Monate. Der Einstieg in die  Vernichtung der syrischen Chemiewaffen und das Zusammenbringen der  Konfliktparteien im syrischen Bürgerkrieg um einen Verhandlungstisch  gehören ebenso dazu wie der Einstieg in eine Lösung des iranischen  Nuklearstreits.

FRAGE: Halten Sie es für möglich, Russland zu den Vermittlungsbemühungen  zur Beilegung der politischen Krise in der Ukraine hinzuzuziehen?

Außenminister Steinmeier: Aus meiner Sicht mangelt es in der Ukraine  nicht unbedingt an Vermittlern, sondern an Vertrauen zwischen den  Verhandlungspartnern. Niemand kann ein Interesse an einer weiteren  Eskalation der Lage in Kiew haben. Deshalb sollten wir alle dazu  beitragen, den Dialog zwischen Opposition und Vertretern der Regierung  in der Ukraine zu fördern. Dazu kann auch Russland einen konstruktiven  Beitrag leisten.

FRAGE: Stört es Sie nicht, Herr Minister, dass auf dem Kiewer Maidan  Gruppierungen, die sich offen zu einer nationalistischen, bisweilen  sogar neonazistischen Ideologie bekennen, eine zunehmend große Rolle  spielen? Sind Sie nicht der Meinung, dass Europa der ukrainischen  Opposition ein klares Signal senden sollte: wenn solche Leute, wie der  Chef der Partei „Swoboda“ Oleg Tjagnybok Mitglied des zukünftigen  Ministerkabinetts werden, dann kann die EU eine solche Regierung nicht  als demokratisch ansehen und mit dieser nicht in vollem Umfang  zusammenarbeiten?

Außenminister Steinmeier: Es geht doch darum, dass die Menschen in der  Ukraine die Möglichkeit haben, selbst über die Zukunft ihres Landes zu  entscheiden, und zwar in freien Wahlen. Wir haben mit dem  Assoziationsabkommen unser Angebot für zukunftsgerichtete Beziehungen  der Ukraine mit der Europäischen Union gemacht. Ganz gleich für welchen  Weg sich die Wähler entscheiden, so steht eines fest: Eine gute Zukunft  für die Ukraine kann nicht auf Gewalt und Extremismus gegründet werden.  Eine politische Lösung, die von Regierung, Opposition und vor allem von  den Menschen in der Ukraine mitgetragen wird, ist das Gebot der Stunde.  Genauso dringlich ist aber der Einstieg in eine nachhaltige Lösung der  wirtschaftlichen Probleme des Landes. Budgetdefizite können kurzfristig  ausgeglichen werden. Mittel- und langfristig ist eine Stabilisierung  aber nur denkbar, wenn die bestehenden Strukturprobleme wirklich  angegangen werden. Wirtschaftliche Modernisierung und politische  Stabilität gehen langfristig Hand in Hand, das sehen wir nicht nur in  der Ukraine.

 

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