Soziologen: Dann beginnen die Proteste in Russland

Die Geduld der Russen in der Krise reicht noch ein bis anderthalb Jahre, danach steigt das Risiko des Beginns von Massenprotesten, behauptet die Professorin der renommierten Wirtschaftshochschule, Natalja Tichonowa, auf einer Konferenz des des Levada-Zentrums Moskau.

Die Wissenschaftlerin stellte am Donnerstag bei der Jahreskonferenz des unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes den Bericht „Ereignisse und Tendenzen 2015 in der öffentlichen Meinung“ vor. Der Vortrag war dem Einfluss der Krise auf die sozial-ökonomische Lage der Bevölkerung Russlands gewidmet.

In vollem Maße hat die Wirtschaftskrise zwei Kategorien der Russen getroffen, betonte Tichonowa – die gebildete und wohlsituierte Bevölkerung Moskaus und St. Petersburgs sowie die Bewohner der kleinen Dörfer und Siedlungen.

Der Einfluss der Krise auf diese beiden Kategorien war unterschiedlich, meint die Autorin der Untersuchung. In den beiden Metropolen haben 28 % der Bevölkerung mindestens einen Nebenjob, um ihr Einkommen aufzubessern. Viele litten aber gerade unter dem Wegfall zusätzlicher Einkommensquellen und der erzwungenen Absage an den gewohnten Lebensstandard mit Auslandsreisen und einer guten Ernährung. Die Mittelklasse meint zwar nach wie vor, dass man sich etwas leisten kann, aber dazu gehört beispielsweise kaum noch der Erwerb von Immobilien, heißt es im Vortrag.

In den Dörfern ist die Situation eine andere, stellte Tichonowa fest. Dort leiden die Menschen unter Massenentlassungen, Lohnrückständen, Betriebsschließungen. Der Anteil der Arbeitslosen hat sich 2015 verdoppelt. Zwar stieg die Wochenarbeitszeit auf dem Land um vier Stunden, ohne dass dies zusätzliches Einkommen brachte. Die Menschen erhöhen ihre Arbeitsbelastung in der Angst vor Entlassung, und im Unterschied zu den Bewohnern der großen Städte gibt es keine anderen Möglichkeiten für sie, bemerkt Tichonowa.

Die wohlhabende Bevölkerung mit einem Einkommen, das mindestens doppelt so hoch ist, wie das Existenzminimum, machen nur 25 % der Einwohner im ganzen Land aus. Von den armen Russen rutschten 12 % in bitterstes Elend, das heißt, sie verloren mit der Arbeit auch ihren sozialen Status.

Der deutliche Rückgang des Lebensstandards führt bislang nicht zu heftigen Protesten gegen die politische Führung, was sich aus mehreren Faktoren erklärt, so Tichonowa. Erstens meinen die Russen, dass die jetzige schlechte Wirtschaftslage vor allem von äußeren Faktoren abhängt.

Zweitens gehören der hohe Lebensstandard und die aktive Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen nicht zu den Grundwerten der meisten Russen, stellte die Autorin fest.

Für etwa 40 % der Russen sind die wichtigsten Dinge im Leben gute Freunde, eine glückliche Familie, eine eigene Wohnung und die Möglichkeit „ehrlich sein Leben zu leben“. Solche Lebensziele, wie die Möglichkeit ein „reicher Mensch“ zu werden und „das zu beeinflussen, was in der Gesellschaft geschieht“, stellen sich nur zwei bzw. fünf Prozent der Befragten.

Die Russen meinen, dass „man es noch aushalten kann“. Bislang zwingt sie die Krise zwar, ihren Konsum einzuschränken, aber sie ändert ihre Lebenseinstellung nicht. Daraus erklärt sich auch das Paradoxon, dass die Krise am meisten die Bewohner der russischen Regionen trifft, aber die Unzufriedenheit ist in Moskau am höchsten, was darauf hindeutet, dass die Einwohner der Großstädte und die Bevölkerung auf den Dörfern unterschiedliche Wertvorstellungen haben.

Aber in einem oder anderthalb Jahren könnte das Vertrauen in die politische Führung deutlich sinken, und die latente Unzufriedenheit der Russen mit der Situation wird wachsen, was zu einer Welle von Protesten führen könnte, denkt Tichonowa.

Wenn sich in der Bevölkerung die Empfindung festsetzt, dass man so nicht leben darf, könnte sogar der anscheinend unbedeutendste Anlass zu einer stürmischen Reaktion führen. Als Beispiel führte die Referentin das Jahr 2011 an, als Massenproteste gegen die Wahlfälschungen stattfanden. „Wen haben denn früher Wahlen beunruhigt?“, fragte sie. Der allgemeine psychologische Zustand der Bevölkerung sei vor fünf Jahren allerdings solcherart gewesen, dass man die Proteste erwarten konnte. Es sei lediglich die Frage gewesen, was der Anlass für den Ausbruch sein würde. Wenn jetzt die Proteste noch sporadischen Charakter trügen, könnten sie in einem Jahr zu einer Welle werden.

Die Situation werde dadurch erschwert, dass sich die russische Gesellschaft seit 2011 in einer Phase befindet, in der es unmöglich ist, vorauszusehen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden, sagte Tichonowa. „Wer konnte die Ereignisse auf der Krim, in der Ukraine, in Syriens, die Absage an die Rentenanpassung erwarten?“, fragte sie zurückblickend. Nach Ansicht Tichonowas sei es derzeit schwierig, zu prognostizieren, welche Entscheidungen die politische Führung in der weiter bestehenden Krisensituation treffen wird. Unpopuläre Schritte könnten den ohnehin schwierigen psychologischen Zustand der Bevölkerung weiter belasten.

Jetzt, während der Vorbereitung auf die Wahlen zur Staatsduma und später auf die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018, wird, sagt Tichomirowa voraus, die politische Führung auf jede erdenkliche Weise versuchen, Proteststimmungen zu unterdrücken. (hh)

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