Skripal-Fall: Petrows und Boschirows Auftrag

Skripal-Fall: Petrows und Boschirows Auftrag

[von Bernd Murawski] Haben Petrow und Boschirow die Skripals vergiftet oder waren sie einfache Touristen? Es gibt noch eine dritte Variante, die überraschend plausibel ist.

Wer sind die vermeintlichen Skripal-Attentäter Alexander Petrow und Ruslan Boschirow, wo und wie leben sie? Im Interview bei RT äußerten sie den Wunsch, „in Ruhe gelassen zu werden“. Es ist zu erwarten, dass Familienangehörige, Freunde und Arbeitskollegen ihrem Bedürfnis nach Schutz der Privatsphäre entsprechen. Allerdings leben wir in einer Zeit allgegenwärtiger sozialer Medien, sodass bald ein Wettkampf entbrannte, wer sie als erster ausfindig machen würde.

Da Smartphones in Russland ähnlich verbreitet sind wie in westlichen Ländern und ebenso viel gechattet wird, ist es erstaunlich, dass bislang kein konkreter Fingerzeig zur Identität und zu den Lebensumständen der beiden existiert. Wenn sie auch, wie sie im Interview sagten, seit der Publizierung ihrer Passbilder die Öffentlichkeit meiden, dürfte es genügend Personen aus ihrem sozialen Umfeld geben, die ihnen vorher begegnet sind: Nachbarn, Kunden, Beschäftigte in häufig von ihnen aufgesuchten Lokalitäten wie auch aufmerksame Passanten. Indem beide im Fernsehen erschienen, dürften Zweifel ausgeräumt worden sein, die vielleicht bei bloßer Sichtung der Fotos bestanden.

Sind Petrow und Boschirow doch GRU-Agenten?

Dass Petrow und Boschirow ihre Anonymität bewahren konnten, weist auf eine relative Abgeschirmtheit ihres Lebensumfelds hin. Sind sie also doch beim Militär beschäftigt, eben als GRU-Agenten? Diese Behauptung wird weiterhin von westlichen Politikern und Medien kolportiert, obwohl ihr Verhalten nicht ansatzweise von jener Professionalität zeugte, die gewöhnlich Geheimdiensten zugeschrieben wird. Ihr unbeholfenes Auftreten im TV-Interview weckte Zweifel an der Faktizität der Aussagen, es hinterließ aber auch den Eindruck, dass sie nicht wie Agenten wirkten. Wenn Christian Esch im „Spiegel“ schreibt, sie hätten „grotesk versagt“ und „Putin blamiert“, dann offenbart sein Urteil eher versteckten Rassismus.

Dass der Giftanschlag auf die Skripals durch GRU-Agenten auf Geheiß Moskaus verübt worden sein könnte, betrachtet der Spionage-Experte Christopher Nehring als äußerst unwahrscheinlich. Weder dürfte sich die russische Regierung von Rachegelüsten leiten lassen noch gäbe es andere Motive. Vielmehr würde das „Gentlement’s Agreement“ unter Geheimdiensten gegen ihre Beteiligung sprechen. Er hielt jedoch für möglich, dass es Kräfte im Apparat gibt, die eigenmächtig gehandelt haben. In diesem Kontext verwies er auf die Stellungnahme der britischen Regierung, die diese Möglichkeit explizit erwähnt hätte und Russland auch in diesem Fall als verantwortlich betrachten würde.

Vorwürfe, die russische Führung habe die Kontrolle über die Aktivitäten ihrer Geheimagenten und über die ABC-Waffendepots verloren, wurden in der Zusammenbruchphase der Sowjetunion und während der Präsidentschaft Boris Jelzins wiederholt erhoben. Zu jener Zeit mag einiges dafür gesprochen haben. Als im Jahr 1994 drei Personen auf dem Flughafen in München festgenommen wurden, die Plutonium aus Russland im Gepäck hatten, wurde von Jelzin verlangt, westliche Fachkräfte anzufordern. Ein halbes Jahr später erwies sich der Plutonium-Transport als False-Flag-Aktion, die vom BND geplant und durchgeführt wurde. Die Angst vor einer nuklearen Bedrohung durch ein Chaos in Russland wurde offenkundig als Vorwand genutzt.

Seit der Regentschaft Wladimir Putins wurden keine Anschuldigungen mehr vorgebracht, Teile des GRU könnten eigenmächtig handeln. Vielmehr werden konträre Vorwürfe geäußert: Da die Geheimdienste unter solider Kontrolle der Regierung stehen würden, ließen sie sich als mächtige Instrumente einsetzen. Hinsichtlich des Nervengifts konstatierte die britische Seite selbst, dass es einer Weiterentwicklung bedurft hätte, um eine erfolgreiche Durchführung des Attentats auf die Skripals zu gewährleisten. Alte Bestände, die während der Wirren der 90er Jahre möglicherweise in falsche Hände gerieten, dürften demnach kaum tauglich gewesen sein.

„Bellingcat“ hat zwar mithilfe von Fotovergleichen und anderen Indizien nachzuweisen versucht, dass Petrow und Boschirow dem russischen Militärgeheimdienst angehören. Die Darstellung wurde von den britischen Ermittlern jedoch nicht übernommen. Sollte sie tatsächlich zutreffen, dann wäre der MI6 wohl früher informiert gewesen und hätte dies bereits publik gemacht. Da die russische Regierung keinen Kommentar vor einer offiziellen Stellungnahme aus London abgeben wollte, wurde mancherorts geunkt, dass der FSB Bellingcats russischem Partner „The Insider“ fingiertes Material zugeschoben haben könnte.

Im Dienst von Oligarchen

Wenn Petrow und Boschirow aber keine GRU-Agenten sind, welche andere Erklärung könnte es für ihre fehlende Präsenz in der Öffentlichkeit geben? Eine mögliche Antwort liefert ein Beitrag von Andrej Gratschow, den er auf Facebook veröffentlichte und der bald danach als nicht regelkonform gelöscht wurde. Gratschow studierte in Sankt Petersburg internationales Management und lebt gegenwärtig in Sotschi. In seinem Artikel vertritt er die These, dass es sich bei den beiden Russen um Überbringer wichtiger Dokumente gehandelt haben könnte. Ihr Auftraggeber wäre ein Oligarch oder eine andere einflussreiche und vermögende Person gewesen.

Es ist allgemein bekannt, dass die russische Geldelite ihren Reichtum während der Wirren der Jelzin-Präsidentschaft überwiegend auf kriminelle Weise erworben hat. Große Teile davon wurden ins Ausland geschafft, um den Besitzstand zu sichern. Dabei gehörten die Schweiz mit ihrem Bankgeheimnis und London als bedeutendster europäischer Finanzplatz zu den wichtigsten Zielhäfen.

Die tiefe Krise der russischen Gesellschaft während der 90er Jahre erforderte seitens ihrer Nutznießer erhöhte Sicherheitsvorkehrungen, da sie durch mafiaähnliche Strukturen bedroht wurden oder selbst ein Teil davon waren. Sie umgaben sich mit Personen, denen sie vertrauen konnten, weil diese sich fortwährend in ihrer Nähe befanden und dadurch einer permanenten Kontrolle unterlagen. Neben Hausbediensteten, Beratern, Pflegepersonal, Bodyguards und Chauffeuren gehören dazu auch Kuriere. Manche Personen erfüllen mehrere Aufgaben zugleich. Sollten Petrow und Boschirow einem solchen Kreis angehören, dann würden sie weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmt leben.

Gratschow richtet die Aufmerksamkeit auf die körperliche Verfassung der beiden. Um ein Giftfläschchen zu transportieren und die Türklinke von Skripals Haus zu präparieren, wären keine zwei kräftigen und durchtrainierten Kerle nötig. Es hätte eine Person mit normaler Statur gereicht, die sich bei Bedarf am Zielort mit einem Komplizen zusammengetan hätte. Falls dagegen die Aufgabe bestand, wichtige Schriftstücke sicher zu überbringen, wären besondere Körperkraft und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung von immenser Bedeutung, weil unterwegs keine Waffen getragen werden konnten. Dass sich Petrow und Boschirow überall zusammen bewegten und im gleichen Hotelzimmer schliefen, wäre als Vorsichtsmaßnahme zu interpretieren, um das Werk potentieller Angreifer zu erschweren.

Bei den Dokumenten könnte es sich um Originalschriften von Verträgen, Rechnungen oder Vollmachten gehandelt haben. Es ist anzunehmen, dass es dabei um millionenschwere Kontrakte ging. Aus Sicherheitsgründen käme weder eine Versendung durch die Post noch eine elektronische Übermittlung infrage. Wollte ein Oligarch sich nicht persönlich nach Großbritannien begeben, dann verbliebe keine andere Alternative als eine Kuriertätigkeit durch enge Vertraute. Dass Petrow und Boschirow als Touristen unterwegs gewesen wären, kann ausgeschlossen werden, da sie kein Gepäck mitführten.

Für die Version von Gratschow spricht ebenso der Tatbestand, dass sie umstandslos ihre Visa erhielten. Craig Murray verweist auf die Schwierigkeiten für russische Staatsbürger, ein Visum bewilligt zu bekommen. Er betont, dass insbesondere Männer im beruflich aktiven Alter mit einer Ablehnung rechnen müssen. Die Formalitäten sind dabei recht aufdringlich: Fingerabdrücke werden genommen, Heimatadresse und Familienstand nachgefragt, Vermögen samt Bankauszügen aus den letzten drei Monaten kontrolliert und genaue Angaben über Zweck und Aufenthaltsort verlangt.

Wenig überzeugendes Auftreten im Interview

Nach Gratschow enthält Putins Aufforderung, die beiden Tatverdächtigen sollten an die Öffentlichkeit treten, einen klaren Wink. Sie wäre in einer Sprache verfasst, die keinen Zweifel daran ließe, dass als Adressat nur ein Oligarch in Frage käme, nämlich der, in dessen Auftrag Petrow und Boschirow handelten.

Der letzte Satz „Es wäre besser für alle“ würde eine versteckte Drohung beinhalten. Sollte sich der Auftraggeber der beiden als unkooperativ erweisen, dann könnte die russische Regierung sich gezwungen sehen, den tatsächlichen Sachverhalt zu publizieren. Da ein Teil seiner finanziellen Aktivitäten in einer Grauzone angesiedelt sein dürfte (Schmiergeldzahlungen, Geldwäsche), hätte er in diesem Fall Sanktionen und einen Abbruch der Geschäftsbeziehungen zu befürchten.

Ein weiterer Beleg sei die Bereitschaft der RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan gewesen, das Telefonat der beiden entgegenzunehmen. Durch Ausprobieren ließe sich feststellen, dass sie auf unbekannte Anrufer nicht reagiert. Es musste also entweder ein Telefonanschluss benutzt worden sein, dessen Rufnummer sie kannte, oder es gab eine vorherige Kontaktnahme, in der sie gebeten wurde, auf eine bestimmte Nummer zu antworten. Die Person, von der die Initiative ausging, könnte in ihrem Smartphone gespeichert gewesen sein oder sich über einen speziellen Kanal mit ihr in Verbindung gesetzt haben.

Im Interview selbst befinden sich mehrere Anhaltspunkte, die die Version von Gratschow erhärten. Dafür spricht vor allem der mehrmalige Aufenthalt in der Schweiz. Es ist kaum anzunehmen, dass Petrow und Boschirow in Genf weilten, um jemanden zu vergiften. Stattdessen ist naheliegend, dass sie die Stadt als Kuriere im Dienst eines Oligarchen besuchten, wobei es etwa um Kontoeröffnungen, Finanztransaktionen oder Anlagetätigkeiten ging. Ferner schnitten sie im Interview Themen an, die auf ihre Lebensumstände verweisen: Fitness- und Krafttraining, Bedrohung durch Kopfgelder, Schweigepflicht im Interesse von Kunden und Auftraggebern.

Mit ihren Ausführungen zu touristischen Aktivitäten konnten beide nicht überzeugen. Im Westen wurden ihre Aussagen als unglaubwürdig eingestuft, in Russland ernteten sie breiten Spott. Offenbar verblieb ihnen zu wenig Zeit, um sich auf das Interview vorzubereiten. Gleichwohl wurde ihnen zum Verhängnis, dass es ungeschnitten gesendet wurde. Doch auch bei Vernachlässigung dieser Faktoren waren sie augenscheinlich überfordert, was auf ein sozial und intellektuell armes Umfeld hinweist. Der ehemalige FSB-Mitarbeiter Andrej Manoilo hält den Auftritt der beiden wie auch die Einbeziehung Putins durch die vorangegangene Stellungnahme für einen großen Fehler und wertet diese als Ausdruck medialen Ungeschicks.

Gründe für einen zweimaligen Besuch Salisburys

Schließlich nennt Gratschow eine plausible Erklärung, warum Petrow und Boschirow Salisbury zweimal aufsuchten. Bei ihrem ersten Aufenthalt am 3. März hätten sie der Zielperson die mitgeführten Dokumente ausgehändigt, die sich vermutlich in einer versiegelten Mappe befanden. Ein Teil wäre dort geblieben, ein anderer zu dem Zweck überlassen worden, signiert bzw. gegengezeichnet zu werden. Um jene Papiere durchzusehen und zu überprüfen, hätte der Empfänger eine gewisse Zeit benötigt, sodass ein zweiter Besuch am darauffolgenden Tag im Voraus verabredet war.

Die Kuriere wären am 4. März ein weiteres Mal von ihrem Londoner Hotel aufgebrochen, um an einem vereinbarten Treffpunkt in Salisbury die unterzeichneten Dokumente und andere Schriftstücke entgegenzunehmen. Es mag sonderlich erscheinen, weshalb sie zuerst nach Westen liefen, wo sie in die Nähe von Skripals Haus gelangten, und sich dann eine Stunde später im Zentrum aufhielten, das in entgegengesetzter Richtung vom Bahnhof liegt. Möglicherweise hätten sie auch einen früheren Zug für die Rückfahrt nehmen können. Dafür dürfte es plausible Gründe gegeben haben, auch wenn sie mangels Informationen nicht bekannt sind.

Leben denn in der 40000-Einwohner-Stadt Salisbury überhaupt russische Staatsbürger, die sie hätten kontaktieren können? Die Anzahl der Russen, die einen Wohnsitz in Großbritannien haben, wird auf 300000 geschätzt. In Relation zur Gesamtbevölkerung würde dies statistisch 187 Personen in Salisbury entsprechen. Da das Gros der Russen in und um London lebt, wäre die tatsächliche Zahl um einiges größer.

Bei der aufgesuchten Kontaktstelle könnte es sich ebenso um eine britische Anwaltskanzlei oder Vermögensverwaltungsgesellschaft gehandelt haben. Sie wäre dem Wunsch des russischen Kunden nach absoluter Diskretion gefolgt und hätte schon deshalb nicht die Polizei informiert, um eine mögliche Anklage wegen dunkler Geschäfte zu vermeiden.

Schaffung von Tatverdächtigen  

Gratschow ist davon überzeugt, dass Petrow und Boschirow während ihres Aufenthalts in Großbritannien vom MI5 observiert wurden. Zumindest wusste der britische Geheimdienst durch die Angaben auf den Visa-Anträgen frühzeitig, dass und wann beide Salisbury aufsuchen würden, da eine Bearbeitung vier bis sechs Wochen dauert. Es hätte somit genügend Zeit bestanden, eine Aktion zu planen, in der die beiden Russen als Sündenböcke fungieren würden. Um der Öffentlichkeit glaubhafte Indizien zu liefern, hätte es lediglich geeigneten Überwachungsmaterials bedurft, das sie als Tatverdächtige erscheinen lässt.

Angesichts der Vielzahl der aufgestellten Kameras mussten Videoaufzeichnungen in einer Gesamtlänge von 4000 Stunden gesichtet werden. Ganze drei Aufnahmen wurden herausgepickt, um die Bewegungen der beiden Russen in Salisbury außerhalb des Bahnhofs zu dokumentieren. Da es Dutzende von Bilddokumenten geben dürfte, auf denen beide zu sehen sind, könnte angenommen werden, dass entlastendes Material zurückgehalten wurde. Gleichsam wurden zum Teil nur Ausschnitte präsentiert, wie ein an die Öffentlichkeit gelangter Fotovergleich zeigt. Schließlich gab es bei den Zeitangaben mehrere Unstimmigkeiten.

Um die Bewegungen von Petrow und Boschirow zu ermitteln, hätte es nicht der Kameraaufnahmen bedurft, falls der MI5 beide beschattet hätte. Ob dies zutraf und ob es von ihnen bemerkt worden wäre oder nicht, hätte letztlich keinen Einfluss auf ihr Verhalten gehabt, wenn sie keine kriminellen Absichten verfolgt haben. Dass sie auf allen veröffentlichten Bildern recht gelassen und entspannt wirkten, kann als weiteres Indiz für eine Kuriertätigkeit und gegen ein Mordkomplott angesehen werden.

Schuldkonstruktion mit Chancen und Risiken

Sollte sich Gratschows Version als korrekt erweisen, dann konnten die britischen Ermittler sicher sein, dass die Tatverdächtigen alles tun würden, um den Zweck ihres Besuchs wie auch ihre personellen Hintergründe zu vertuschen. Möglicherweise trugen sie falsche Namen, etwa damit nicht ihre familiären Bande bekannt würden und Angehörige bedroht werden könnten. Ebenso können sie in jungen Jahren eine Militärlaufbahn eingeschlagen haben und in die Fänge des GRU geraten sein. Das Hauptmotiv für ihre Schweigsamkeit dürfte jedoch darin bestanden haben, ein Durchsickern von Informationen zu illegalen finanziellen Machenschaften ihres Mäzens an die Öffentlichkeit zu vermeiden.

Wenn diese Umstände es den britischen Ermittlern auch erleichtert hätten, Petrow und Boschirow als Attentäter erscheinen zu lassen, so müssten zugleich Risiken identifiziert und minimiert werden. Größere Probleme hätten Zeugenaussagen zu den Bewegungen der beiden verursachen können. Die Bemühungen, durch eine gezielte Auswahl von Bildmaterial den Verdacht auf sie zu lenken, wären eventuell durch Zeugen unterlaufen worden. Im schlimmsten Fall hätten beide ein wasserdichtes Alibi erhalten.

Obwohl sich Petrow und Boschirow bereits frühzeitig im Fadenkreuz der polizeilichen Ermittlungen befanden, wurde dies vor der Öffentlichkeit monatelang verheimlicht. Es verging exakt ein halbes Jahr, ehe die Metropolitan Police ihre Namen, Bilder und vermeintliche Indizien publizierte. Das präzise Timing mag Zufall sein, es kann aber auch auf einem früheren Beschluss beruhen, in dem die Zeitspanne von sechs Monaten als angemessen erachtet wurde, um Erinnerungen zu löschen. Die Aufforderung an die Bürger, der Polizei bei der Erstellung eines Bewegungsprofils der Tatverdächtigen zu helfen, kann angesichts dieser Verzögerung nur als Verhöhnung der Öffentlichkeit betrachtet werden.

Abschließend sei die Frage gestellt, weshalb die russische Führung darauf verzichtet haben sollte, die tatsächlichen Umstände des Aufenthalts von Petrow und Boschirow in Salisbury bekannt zu machen. Ein Grund wären die bisherigen Erfahrungen einer mangelnden Bereitschaft des Westens, von der russischen Seite vorgebrachte Informationen und Belege unvoreingenommen zu behandeln. Spätestens seit der Ukraine-Krise und besonders anlässlich der Vorwürfe von Giftgaseinsätzen in Syrien ist deutlich geworden, dass russische Initiativen einer Aufklärung von westlichen Politikern und Medien torpediert werden.

Ein weiteres Motiv findet sich in dem Bemühen, die Oligarchen dazu zu bewegen, ihre im westlichen Ausland befindlichen Vermögen zu repatriieren. Neben Sanktionen gibt es auch andere Risiken für russisches Kapital, und hier lässt sich der Skripal-Fall als Lehrbeispiel anführen, mit welchen Schwierigkeiten bei Auslandsaktivitäten gerechnet werden muss. Eine Kompromittierung des Auftraggebers von Petrow und Boschirow durch ein Aufdecken unlauterer Geschäfte hätte die Oligarchenkreise unnötig erzürnt. Dagegen dürfte die Botschaft der russischen Führung ihre Adressaten erreicht haben.

Der Beitrag wurde zuerst auf dem Heise-Portal Telepolis veröffentlicht.

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