Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine

(Von Dr. Daria Boll-Palievskaya) Jens Mühling nennt sich selbst einen, der „Geschichten“, „Geschichte“ sucht. Um die Geschichte Russlands und das Wesen dieses Landes zu verstehen, hat er ein Jahr lang Russland bereist – ein Land, „in dem die wahren Geschichten unglaublicher sind als die ausgedachten“. Er wollte dem Land und seinen Menschen näherkommen, sie begreifen.  Als Ergebnis dieser Reise entstand ein wunderbares und sehr persönliches Buch „Mein russisches Abenteuer“. Es war kein Reiseführer mit fertigen Rezepten „so verstehen Sie Russland“, denn Jens Mühling war selbst ein Suchender. Mit dem Autor zusammen stellte man sich eine Frage, die von im Buch oft zitierten Dostojewski hätte kommen können: „ob dieses Land jemals ohne einen Glauben auskommen würde“.

Jetzt nahm sich der deutsche Journalist zwei Monate Zeit, um die Ukraine zu bereisen und zu verstehen. Denn alle sagen, dass Russland anders ist. Die Ukraine auch. Schon wieder trifft er sich mit unzähligen Menschen. Er beginnt seine Reise in der Westukraine: an der polnisch-ukrainischen Grenze. Die Menschen in den ukrainischen Orten im 30 Grenz-Streifen leben davon, dass sie zwei Schachteln Zigaretten und eine Flasche Schnaps in Polen verkaufen – so viel darf pro Grenzüberganz mitgenommen werden. Die gleiche erschreckende Armut findet er auch am Ende seiner Reise, ganz im Osten des Landes an der russischen Grenze: „Ganz im Osten (…) ist wie ganz im Westen der Ukraine: Traurig blicken die Menschen auf die andere Seite der Grenze, wo das Leben besser ist“.
Von westlichen Lwiw (Lemberg) bis zum im Separatistengebiet der Ostukraine gelegenem Donezk lernen wir die Ukraine kennen, ein Land, „dessen Bahnlinien älter sind als die Grenzen“ und deren Geschichte durch ständig verschobene Grenzen und künstliche Trennlinien geprägt wurde und ist. Mitten in Lwiw steht ein Denkmal für Stepan Bandera – den Führer der ukrainischen Nationalisten, der mit Hitler kollaborierte und dessen Partisanenarmee an den Pogromen gegen Juden und Polen beteiligt war. Mühling erzählt die Geschichte von Bandera und seiner Ermordung durch das KGB, er besucht sein Grab in München, er spricht mit einem Veteranen der Bandera-Bewegung. Sachlich wird über die Verehrung von Bandera in „Teilen der Ukraine“ erzählt. In einer Bar feuern Nationalisten auf Zielscheibe mit den Konterfeis von Lenin, Stalin und Putin und bewundern die Militär-Ausstellungsstücke der Bandera-Armee. Doch Mühling will dabei kein Spielverderber sein und nimmt sogar „den anderen Gästen ihren Spaß“ nicht übel. Er findet Pani Kristina sympathisch – eine Museumsführerin in Lwiw, die über einen ehemaligen Bandera-Soldaten sagt: „Er hat im Krieg auf der falschen Seite gekämpft. Oder auf der richtigen, je nachdem“. Mit Verständnis hört Mühling einem Dessidenten aus Tschernowzy zu, der zwar kein Ukrainisch spricht, dafür aber sagt: „Wir halten hier mit ukrainischem Blut Moskaus Vormarsch auf den Westen“. Auch die alte Losung der Bandera Bewegung „Die Ukraine über alles!“ auf dem Sockel des abgestürzten Lenin-Denkmals in einer kleinen ukrainischen Stadt schreckt Mühling nicht auf. Er ist sogar bereit, ernsthaft über die Frage, ob man über Kiewer Rus sprechen darf, nachzudenken.  Schließlich seien ja die Geschichtsbücher „im Kreml geschrieben“. Und schon deswegen könnte die allgemein bekannte Tatsache, dass der Fürst Wladimir Rus in Kiew getauft hatte als „moskowitische Leseart“ verstanden werden. Ein Mitreisender weiß Beschied: Peter der Große habe den Urkainern ihre „Geschichte geklaut“.

Der Autor versucht dabei nicht zu urteilen, bietet seinem Leser die Möglichkeit, selbst zu schlussfolgern. Das war auch die Stärke von „Mein russischen Abenteuer“, wo wir oft solche Sätze lasen wie: „Ich hörte schweigend zu“ oder „Ich nickte stumm“. Doch bei dieser Zurückhaltung, dieser Art, den Menschen mehr Raum zu lassen, bleibt Mühling leider nicht konsequent genug. Sobald es sich um die russische Sichtweise geht, wird er zum Kritiker seiner Protagonisten. So versteckt er nicht seine Abneigung gegen Galina, die ihn durch einen Park in der Stadt Uman in der Zentralukraine führt: „Selten hatte ich die Propagandamythen des russischen Fernsehens in konzentrierter Form gehört!“ Seine russischen Gesprächspartner stehen fast allesamt unter starkem Einfluss der Propaganda. So erschreckt den Leser eine flüchtige Begegnung mit Viktor auf der Krim: er glaubt an amerikanische Diversanten und daran, dass die EU „alle russischen Christen zu Homosexuellen umerziehen“ möchte.

Keiner von seinen Freunden würde die Separatisten unterstützen, keiner habe am Unabhängigkeitsreferendum teilgenommen, sagt der junge Roman aus Donezk: „Abgestimmt haben nur Nostalgiker, die sich nach der Sowjetunion sehen“. Andere Stimmen hören wir nicht. Diese Erklärung reicht Mühling, denn er ist in die Ukraine gereist mit der Überzeugung, dass die alte Sowjetunion „ein großes Lager war“. „Ihre Insassen hatten es warm, (…) alle waren gleich. Dass sie Insassen waren, fiel den meisten gar nicht mehr auf“.

„Solange Frieden herrschte, haben wir nicht gesehen, wie gespalten unsere Gesellschaft ist. Die verborgenen Trennlinien zwischen den Menschen hat erst der Krieg wirklich sichtbar gemacht“, lässt Mühling einen seiner Gesprächspartner sagen. Wer das Buch „Schwarze Erde“ liest, spürt das ganz deutlich.

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