Russlandversteher feiert Rüge

Während die deutschen Mainstream-Medien die Kür der „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres 2014 umfangreich berichten und feiern, wandert die zeitgleiche Rüge des von ihr regelmäßig benutzten Begriffs „Russlandversteher“ durch die Unwort-Jury in den Jubelartikeln weit nach hinten – wenn sie überhaupt erwähnt wird. Jede Selbstkritik des eigenen Verhaltens fehlt.

Die missverstandene Unwort-Jury

Die Intention der Unwort-Jury wird dabei gerade von denen missachtet, die sie am dringendsten zur Selbstkritik nutzen sollten. Es sei den mit „Lügenpresse“ durch rechte Kreise pauschal diffamierten Journalisten unbenommen, sich privat zu freuen, dass diese Diffamierung nun öffentlich mit der Kür des Unwortes gerügt wurde. Immerhin stammt dieser „Kampfbegriff“ aus der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte, was vor der Wahl wohl vielen nicht bewusst war.

Warum aber wird die Wahl der Unwörter eigentlich veranstaltet? Sie will „in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion“ (Zitat Veranstalter) lenken, also Menschen zum Nachdenken über die Begriffe anregen, die sie leichtfertig nutzen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was sie damit ausdrücken. Wenn man nun die Redaktionen großer deutscher Leitmedien wie Spiegel oder Tagesschau anschaut – hat sie nun mehr Anlass sich über den eigenen leichtfertigen Gebrauch der „Lügenpresse“ Gedanken zu machen oder über den des „Russlandverstehers“? Und müsste sich nicht ein professioneller Schreiberling über die Kritik seines Sprachgebrauchs noch mehr Gedanken machen, als Otto Normalbürger?

Selbstreflexion im Mainstream – Fehlanzeige

Die Antwort findet sich schon in einem Kommentar auf russland.RU vom Januar 2014, noch vor der heißen Phase der Ukraine-Krise, als sich gerade die beiden soeben genannten „Nachrichten“organe mit diesem diffamierenden Begriff pauschal abwertend gegenüber namhaften Russlandexperten und jedem, der Verständnis für russische Positionen hat, positionierten (vor der Ukrainekrise hätten wir hier keine Anführungszeichen oder diesen Begriff verwendet, inzwischen ist beides gerechtfertigt) .

Wie konsequent in den letzten Jahren findet eine kritische Selbstreflektion in den großen deutschen Medien praktisch nicht mehr statt. Man ist im Übermaße überzeugt von sich und selbst offensichtliche, deutliche Kritik von unabhängiger Seite – es geht hier immerhin um den Vorwurf der fehlenden „sachlichen Angemessenheit oder Humanität“ (Zitat Veranstalter) – wird ignoriert. Kein selbstkritisches Wort angesichts der Rüge war bei Spiegel oder Tagesschau zu lesen, nur Jubel, Trubel, Heiterkeit. Im Gegensatz dazu entblödete der Spiegel, wegen seiner Russlandberichterstattung ohnehin unter heftigem Beschuss sich nicht einmal, in seinem Jubel-Artikel auf die Kritik des „Russlandverstehers“ in einem Eppler-Essay im eigenen Blatt hinzuweisen und es damit so darzustellen, als ob man bei diesem Begriff zu den Kritikern gehöre – und nicht, wie in Wahrheit – zu den Diffamierern.

Freuen können auch wir uns

Dennoch freuen auch wir uns nun eben einfach über die Rüge des „Russlandverstehers“. Auf unsere eigene moralische Überlegenheit kommt es uns nicht so sehr an, wie den deutschen Doppelmoral-Journalisten. Und im Gegensatz zum Spiegel, bei dem eine Archivsuche 24 Artikel mit dem Begriff „Russlandversteher“ auswirft oder dem Focus, wo das 25 mal der Fall ist, wird man bei uns die „Lügenpresse“ nicht in der Berichterstattung finden – bis heute. Wir sind auch überzeugt, dass nach Meinung der so titulierten Journalisten ihre eigenen Artikel der Wahrheit entsprechen und es wirklich falsch ist, von bewussten Lügen zu sprechen. Leider zu oft nur der Wahrheit in ihrem Kopf und nicht der vor Ort, wo ihre Meldungen den Ursprung haben.

Roland Bathon, russland.RU

die Rüge des Russlandversteher durch die Unwortjury: Russlandversteher – „Zum Unwort wird dieser in der aktuellen außenpolitischen Debatte gebrauchte Ausdruck vor allem, weil er das positive Wort „verstehen“ diffamierend verwendet (und zwar ohne die Ironie, wie sie beispielsweise hinter der analogen Bildung des „Frauen-Verstehers“ steht). Wie Erhard Eppler im in seinem kritischen Essay „Wir reaktionären Versteher“ (Spiegel 18/2014 vom 28.04.2014) darlegt, sollte das Bemühen, fremde Gesellschaften und Kulturen zu verstehen, Grundlage einer jeden Außenpolitik sein, weil die Alternative nur Hass sein kann. Eine fremde Perspektive zu verstehen, bedeutet keinesfalls, damit zugleich Verständnis für daraus resultierende (politische) Handlungen zu haben. Andere polemisierend als „Versteher“ zu kritisieren, ist damit unsachlich und kann die inhaltliche Diskussion nicht ersetzen. Ein ganzes Volk zudem pauschal für eine politische Richtung haftbar zu machen und es mit dem Ausdruck „Putin-Versteher“ auf einen Autokraten zu reduzieren, zeugt von mangelnder Sprachreflexion oder aber gezielter Diffamierung.“

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