Russlands Wirtschaftsentwicklung schwer voraussehbar

[Von Ullrich Umann-Moskau-gtai] – Die Entwicklung der russischen Wirtschaft im 2. Halbjahr 2014 ist schwer vorhersehbar. Als Achillesferse für das weitere Wachstum erweisen sich vor allem Finanzierungsengpässe. Kredite für Unternehmen sind teuer und rar. Obwohl es Investitionsvorhaben in der Industrie gibt, kommen deutsche Technologielieferanten kaum noch an Aufträge heran. Russische Kunden bevorzugen Firmen aus China. Bei diesen wird davon ausgegangen, dass sie Lieferzusagen einhalten können.

Russlands Wirtschaft steuert im 2. Halbjahr 2014 auf schwieriges Fahrwasser zu. Die Prognosen der Weltbank zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) schwanken für das Gesamtjahr zwischen -1,8 und +1,1%. Die meisten Prognosen anderer Institute, darunter des Internationalen Währungsfonds, bewegen sich zwischen +0,1 bis +0,5%. Im 1. Halbjahr 2014 betrug das BIPWachstum 1,0%, gab das russische Wirtschaftsministerium bekannt.

Die russische Wirtschaft sieht sich großen Problemen gegenüber. Die Sanktionen der Europäischen Union und der USA vom 31.7.2014 engen den Spielraum für die Beschaffung von Hochtechnologien und die Finanzierung von Investitionen ein. Betroffen sind Rüstungsgüter, die Erdölförderung und staatliche Banken. Technologien für die Exploration und Förderung von Erdöl in der Tiefsee und in der Arktis sowie für Schieferölvorhaben dürfen nicht unmittelbar oder mittelbar nach Russland verkauft, geliefert, verbracht oder ausgeführt werden. Dies gilt auch für technische Hilfen, Dienste oder Ausbildung im Zusammenhang mit diesen Technologien. Der verarbeitenden Industrie, selbst im zivilen Bereich, machen vor allem die Sanktionsbestimmungen zu den Gütern mit doppeltem Verwendungszweck zu schaffen, denn sie erschweren russischen Unternehmen die Beschaffung von moderner Technik. Dual-use-Güter wurden vom Export nach Russland ausgeschlossen, wenn diese ganz oder teilweise für militärische Zwecke (inklusive Herstellung und Instandhaltung von Rüstungsgütern) oder für militärische Endnutzer bestimmt sind oder bestimmt sein könnten. Die für Ausfuhrgenehmigungen zuständigen Behörden in der EU, den USA, Japan, Kanada, Australien, Norwegen und der Schweiz prüfen sehr genau, zeitaufwändig und verweigern im Zweifel die Freigabe. Erschwerend kommt hinzu, dass viele russische Maschinenbaubetriebe sowohl zivile als auch militärische Güter produzieren, beispielsweise Uralwagonzavod (Güterwaggons, Baumaschinen, Panzer).

Finanzierungen sind knapp und teuer

Viele russische Unternehmen haben große Probleme bei der Importfinanzierung. Russische Banken, die sich zu mehr als 50% in öffentlichem Besitz oder unter öffentlicher Kontrolle befinden, können keine Schuldverschreibungen, Kapitalbeteiligungen oder vergleichbare Finanzinstrumente mit über 90 Tagen Laufzeit mehr auf dem EU-Kapitalmarkt platzieren. Dazu zählen die Sberbank, Vneschtorgbank (VTB), Vneschekonombank (VEB), Gazprombank und Rosselchosbank (Landwirtschaftsbank). Diese Verbote berühren nicht die Gewährung von Darlehen an oder durch diese staatseigenen russischen Finanzinstitute, unabhängig von ihrer Laufzeit. Dennoch verschlechtern sich die Möglichkeiten dieser Banken zur langfristigen Refinanzierung und somit zur Vergabe von Krediten an russische Unternehmen.

Kredite sind aber nicht nur knapp, sondern auch teuer. Finanzinstitute können sich bei der russischen Zentralbank aktuell nur zu einem Leitzins von 8% in Rubel refinanzieren. Folgerichtig erhalten russische Unternehmen von ihren Hausbanken bloß Darlehen mit einem zweistelligen Zinssatz. Zudem haben alle Banken ihre Anforderungen an die beizubringenden Sicherheiten heraufgeschraubt. Um ihr Risiko zu minimieren, ziehen sich die zahlreichen kleineren Spezialinstitute aus dem Universalgeschäft zurück und beschränken ihre Aktivitäten auf Branchen und Projekte, zu deren Finanzierung sie ursprünglich vor 15 bis 25 Jahren gegründet wurden. In ihren Nischen können sie das Kreditrisiko aus eigener Expertise heraus noch am besten kalkulieren.

Ausländische Finanzinstitute verhalten sich seit Monaten restriktiv. Für europäische Banken gilt das insbesondere seit den EU-Sanktionen vom 31.7.2014, die explizit Einschränkungen für russische Banken auf dem europäischen Kapitalmarkt umfassen. Die von den EU-Sanktionen betroffenen Kreditinstitute Sberbank, VTB, VEB, Gazprombank und Rosselchosbank halten zusammen mit ihren Tochterunternehmen 56% aller Bankaktiva in Russland. Zur Refinanzierung stehen diesen Instituten aktuell drei Quellen zur Verfügung: Zentralbank-Hilfen, Einlagen privater und gewerblicher Kunden, asiatische Investoren. Letzteres ist weitgehend noch Zukunftsmusik. Wie Bloomberg mitteilte, haben russische Unternehmen im Juli 2014 das erste Mal seit fünf Jahren auf dem internationalen Kapitalmarkt keinen einzigen Kredit in Euro, US-Dollar oder Schweizer Franken aufgenommen. Für das 1. Halbjahr 2014 betrug die gesamte Kreditvergabe an Kunden aus Russland 6,7 Mrd. US$. Im Gesamtjahr 2013 hatte sich der Wert der aufgenommenen Kredite noch auf 59,2 Mrd. US$ summiert. Damals entfielen vom Vergabegeschäft auf Banken aus der EU 78% und auf Banken aus den USA 13%, berichtet Morgan Stanley.

Europäische Entwicklungsbanken stellten Kreditvergabe ein

Die Europäische Investitionsbank (EIB) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) gaben unterdessen bekannt, vorerst von einer Finanzierung neuer Vorhaben in Russland abzusehen. Bedient werden derzeit nur bestehende Verpflichtungen und Bestandskunden.

Die EIB hat seit 2003 Vorhaben im Gesamtwert von 1,6 Mrd. Euro in Russland finanziert. Die EBWE gab ihr Engagement zum 31.3.2014 mit 790 Projekten im Wert von 24 Mrd. Euro an. Allein 2013 waren Kredite über 1,8 Mrd. Euro gewährt worden. Damit wurde ein Wachstumsbeitrag von 0,1 bis 0,2% des BIP erzeugt.

Insgesamt legt die EBWE Kredite im Gesamtwert von 271 Mio. US$ auf Eis. Vom aktuellen Kreditstopp der EBWE berührt ist beispielsweise die Errichtung eines Werks zur Nahrungsmittelverarbeitung im Gebiet Lipezk mit einem Projektwert von 3,5 Mrd. Rubel. Betroffen sind sogar ausländische Investoren, darunter die französische Lesaffre Gruppe und John Deere Finance.

Deutsch-russischer Handel rückläufig

Für den deutsch-russischen Außenhandel sind das keine guten Vorzeichen. Von Januar bis Mai 2014 sind die deutschen Lieferungen nach Russland um 15% auf 12,9 Mrd. Euro eingebrochen. Dagegen konnte Russland seine Ausfuhren nach Deutschland um 5% auf 17,2 Mrd. Euro steigern. Insgesamt ging das bilaterale Handelsvolumen um 4% auf 30,2 Mrd. Euro zurück, meldet das Statistische Bundesamt in Wiesbaden.

Schon 2013 waren die deutschen Exporte nach Russland um 5,2% auf 36,1 Mrd. Euro und die deutschen Importe aus Russland um 5,5% auf 40,4 Mrd. Euro gesunken. Das Handelsvolumen war um rund 5% auf 76,5 Mrd. Euro gefallen.

Im 2. Halbjahr 2014 steht der deutsch-russische Handel unter dem Vorzeichen der am 31.7.2014 erlassenen EU-Sanktionen. Hinzu kommt das russische Einfuhrverbot für Nahrungsmittel aus der EU vom 6.8.2014. Betroffen sind Fleisch, Fisch, Milch und Milchprodukte, Käse, Gemüse, Früchte, Nüsse, Würste, fertige Erzeugnisse und Milchprodukte auf Basis pflanzlicher Fette. Ausgenommen sind Babynahrung und Genussmittel. Der Beitrag der Nahrungsmittelwirtschaft zu den deutschen Exporten nach Russland belief sich 2013 auf 1,5 Mrd. Euro. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass weitere Rückgänge im bilateralen Handel unvermeidlich sind.

Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen leiden unter Vertrauensverlust

Von ausbleibenden Bestellungen aus Russland und Ausfuhrbeschränkungen ist der deutsche Maschinen- und Anlagenbau unmittelbar betroffen. Die Russlandexporte des deutschen Maschinenbaus sind in den ersten fünf Monaten 2014 um 20% gesunken, was fehlende Umsätze von 2,5 Mrd. Euro bedeutet. Dies sagte VDMA-Chefvolkswirt Ralph Wiechers gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Russland hat im 1. Halbjahr 2014 generell weniger Maschinenbauerzeugnisse importiert, unabhängig vom Lieferland. Nach Angaben der russischen Zollbehörden wurden Maschinen und Anlagen (einschließlich Elektrotechnik, Spezialfahrzeuge, Schiffe und Fluggerät) im Wert von 68,56 Mrd. US$ eingeführt. Dies entspricht einem Rückgang um 6,8%. Die Ausfuhren betrugen 11,6 Mrd. $ (-10,7%). Ein- und ausfuhrseitig dürften rückläufige Volumina insbesondere im Handel zwischen Russland und der Ukraine zu Buche geschlagen haben.

Der Vorstandsvorsitzende der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, Michael Harms, wies in einem Interview gegenüber dem Deutschlandfunk auf den eingetretenen Vertrauensverlust in den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen hin. Russische Kunden stellten inzwischen die Lieferzuverlässigkeit deutscher Unternehmen in Frage und disponierten auf Anbieter aus der VR China und anderen Ländern um.

Chinesische Unternehmen werden bevorzugt

Beispielsweise will sich die russische Holding Evrozement Group bis Ende Oktober für einen geeigneten Geschäftspartner zur Errichtung eines 3 Mrd. US$ teuren Metallbearbeitungswerks in der Region Uljanowsk entscheiden. Das neue Werk soll gestanzte und gegossene Teile, Baustahlerzeugnisse und Maschinenteile produzieren. Zwar seien westliche Bieter weiterhin im Rennen, berichtet die Wirtschaftszeitung „Wedomosti“. Doch wird angedeutet, dass den Zuschlag höchstwahrscheinlich die China Triumph International Engineering Co., Ltd. erhalten dürfte. Schließlich habe die russische Holding mit dem chinesischen Unternehmen bereits Verträge zum Bau von Zementwerken in den Regionen Uljanowsk und Brjansk unterzeichnet. Ein Vertreter des Investitionsarms der VTB, VTB Kapital, unterstrich im Beitrag von Wedomosti ausdrücklich, dass die Projektrealisierung in der gegenwärtigen geopolitischen Lage mit chinesischen Partnern in kürzeren Zeiträumen erreicht werden könne.

Weitere russisch-chinesische Projekte sind in Vorbereitung. Die Aleksejewka Chimmasch hat Verhandlungen mit dem Gingdao Sifang Rolling Stock Research Institute und einem Waggonbauer aus Nordchina aufgenommen. Modernisiert werden soll am Standort Belgorod eine dritte Produktionslinie für großvolumige Behälter, die in der Chemie-, Petrochemie- und Atomindustrie benötigt werden.

Der Betreiber von Stromübertragungsnetzen OAO Rosseti verhandelt aktuell mit chinesischen Partnern über die Einrichtung von Gemeinschaftsunternehmen in Sibirien und im Fernen Osten. Insbesondere im Gebiet Transbaikal sollen Stromübertragungsanlagen, die in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichtet wurden, gemeinsam modernisiert werden.

Die russische Luft- und Raumfahrtindustrie steht mit der chinesischen Raumfahrt-, Elektronik- und Halbleiterindustrie, darunter 12 Forschungsinstituten aus der China Aerospace Science & Industry Corporation (CASIS), im Gespräch über den Kauf von Ausrüstungen und Komponenten. Der Wert der Lieferungen wird mit mindestens 1 Mrd. US$ angegeben. Diese sollen im Laufe von zweieinhalb Jahren realisiert werden. Im gleichen Zeitraum will die Weltraumbehörde Roskosmos eigene Kapazitäten zur Herstellung elektronischer Komponenten aufbauen und damit weitgehend autark werden.

 

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