Russlands schlechtester Teil – in Deutschland

In einer deutschen Großstadt, ein Mittwochabend im November. Es hat vier Grad, Nieselregen, Dunkelheit. Eine große Menschentraube steht an einem hell erleuchteten Bürogebäude, direkt vor einer verschlossenen Tür. Drinnen Licht, ein leerer Warteraum und dahinter ein geräumiges, schick eingerichtetes Großraumbüro – draußen mehrere Dutzend Menschen, frierend, etwas aufgebracht, aber doch relativ ruhig. Alle sprechen Russisch. Gibt es hier demnächst etwas umsonst?

Nein. Wir befinden uns vor einer russischen Firma, die für russische Staatsbürger Konsulardienstleistungen anbietet – wie die Erteilung eines neuen Passes. Wobei Dienstleistung schon fast ein übertriebener Begriff wäre. Der Service ist schlecht, die Preise sind hoch. Dennoch kommen alle. Niemand will ins etwa 200 Kilometer entfernte Russische Konsulat fahren. Die für viele höheren Fahrtkosten sind nicht der einzige Grund. Ein Mann vor der Tür erklärt uns, warum er hier ist.

„Unsere Familie, das sind vier Leute, alles Russen, davon zwei Teenager. Termine beim Konsulat werden nur online einzeln vergeben und man kann sie sich nicht aussuchen. So haben wir die Wahl, entweder viermal zum Beantragen und viermal zum Abholen zum Konsulat zu fahren. Oder dreimal zusammen hierher, was für uns auch viel näher ist.“

Warum dreimal? Wenn ein Russe hier einen neuen Pass braucht, muss er dreimal kommen. Zur Abgabe der notwendigen Unterlagen, zum offiziellen Unterschreiben des Antrags im Beisein eines angereisten Konsularangestellten und zum Abholen des Passes. Heute ist so ein Tag, wo ein Konsularangestellter kommt, deshalb die abendliche Menschentraube. Die meisten sind schon lange da, weil von weitem angereist. Die ersten hätten vor 10 Minuten ihren Termin gehabt. Die Tür ist aber dennoch verschlossen und sie stehen frierend und unwissend bezüglich des Grundes der Verzögerung weiter im kalten Nieselregen. Trotz vor ihnen leer stehendem Warteraum und reichlich zusätzlich Platz im Großraumbüro mit Kundenbereich. Angestellte tummeln sich nur weit hinten, wo sie die Menschenmenge nicht sehen müssen.

Der Tag, an dem der Konsularbeamte kommt, ist etwas Besonderes. Da macht die russische Firma, die hier residiert, „normal“ gar nicht auf. Das wird natürlich nicht angekündigt oder zumindest an der Tür angeschrieben. Ein einheimischer Deutscher hat das gerade eben noch während der offiziellen Öffnungszeit bemerkt, als er nicht rein kam. Er wollte hier ein Visum für Russland, auch ein „Service“ der Firma. Er kam an die Tür. Sie war verschlossen, obwohl die aktuelle Öffnungszeit hübsch angeschrieben war. Nirgends ein Hinweis auf einen Schließtag. Er rief mit seinem Handy die Firma an. Man erklärte ihm barsch, heute sei gar nicht geöffnet. Basta. Außerdem sei der Angestellte, der Visa macht, gerade krank. Deswegen gäbe es keine Visa, auf unbestimmte Zeit. Wo es Visa gäbe, wisse man auch nicht. Vielleicht in dem russischen Reisebüro am Flughafen. Auf Wiederhören. Der Deutsche trollt sich – etwas fassungslos mit dem Kopf schüttelnd. Er wird nie mehr hierher kommen. Die Wartenden schon.

Diese unterhalten sich damit, sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen. Hier pocht keiner auf Datenschutz. Längst sind die frierenden Leute vor der Tür zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen gewachsen. Die spontane Solidarität, die einem in Russland häufig begegnet und die Touristen immer wieder beeindruckt, schlägt durch. Eine Frau regt sich auf, dass kleine Kinder und alte Leute sich hier vor der Tür die Beine in den Bauch stehen. Sie selbst hat keine dabei und ist auch nicht alt. Eine Mutter ruft nun zaghaft die Firma an, ob sie mit ihren beiden kleinen Kindern in den Warteraum dürfe. Kurze Beratung der Firmenangestellten drinnen im Warmen. Nein, heißt es dann. Geht nicht. Auf Wiederhören. Der Unmut vor der Tür ist spürbar. Mittlerweile wären die ersten Termine vor 20 Minuten gewesen.

Eine Frau erzählt. Sie sei Anfang März hierher gekommen, da Ende April ihr Pass auslief und sie im Juli in die alte Heimat wollte. Man habe ihr dann erzählt, sie könne erst im Mai einen Termin für die offizielle Antragstellung mit dem Konsularbeamten haben. Der Pass wiederum käme dann erst drei bis vier Monate danach. So habe die Reise zu den Eltern platzen müssen. Beim deutschen Ausländeramt habe sie binnen Wochen einen Reiseausweis bekommen und sei damit woanders hin gefahren. Nur nach Russland, in die eigene Heimat, konnte sie damit nicht. Nun stehe sie für einen Pass für ihre Tochter an. Die braucht jetzt einen eigenen. Russisches Gesetz.

Ein Mann ergänzt. Die Gebühren seien hier manchmal vier- bis fünfmal so hoch, wie direkt beim Konsulat. Dennoch kämen alle. Wer einmal beim eigenen Konsulat selber war, gehe nicht mehr hin. Dort seien die Zustände noch wesentlich schlimmer als hier und man laufe immer Gefahr, einfach weg geschickt zu werden, weil man irgend einen Zettel nicht dabei habe. Egal wie weit die Anreise war. Unvollständige Anträge werden nicht angemommen. Und das Konsulat ist weit. Sie hätten schon überlegt, ob sie Deutsche werden sollen, schon wegen diesem Mist mit dem Konsulat. Aber sie sind nun mal Russen und fühlen sich auch als solche. Wäre doch ein doofer Grund.

25 Minuten nach den ersten Terminen. Drinnen eine Bewegung. Ein Russe mittleren Alters vom Typ Security bei Russendisco kommt heraus und hält die Menge davon ab, hinein zu strömen. In der Hand hat er ein Klemmbrett, im Gesicht den Ausdruck überzeugter Wichtigkeit. Der Konsularbeamte verspäte sich, stehe noch im Stau, sagt er. Verstehen tut das niemand, denn einige in der Menge hatten erzählt, er sei schon vormittags in der Stadt gewesen und habe Termine abgearbeitet. Dennoch hören alle weiter dem Security-Mann zu. Er ruft die Namen der Hälfte der Leute auf, die vor einer knappen halben Stunde Termin hatten und sammelt ihre Pässe ein. Alles wirkt ein wenig, wie beim Militär. „Iwanow?“. „Hier“, „Wodjanowa?“ „Hier“ – und immer weiter. Dann will er wieder verschwinden und die Wartenden zurück lassen. Mehrere ganz vorne fangen mit ihm eine Diskussion darüber an, dass man doch die Mütter mit kleinen Kindern in den Warteraum lassen könnte. Die Mütter und Kinder stehen frierend hinter ihren Fürsprechern. Nach etwas hin und her lässt sich der Security-Mann überreden und die Kinder dürfen rein. Eine Oma schlüpft seitlich am Security-Mann vorbei und setzt sich grinsend ebenfalls in den Warteraum. Dann fällt die Tür wieder ins Schloss. Die übrigen bleiben zurück – ohne ihre Pässe.

Zehn Minuten dauert es noch, dann dürfen die ersten herein die allgemeine Anspannung löst sich, auch wenn neun von zehn Wartenden noch vor der Tür stehen. Der angereiste Konsularbeamte ist betont unfreundlich – wie immer. Aber das stört jetzt keinen mehr, das ist man ohnehin gewohnt. Respektvoll wird er von den Kunden „Konsul“ genannt – um den dürfte es sich hier aber kaum handeln, eher um irgendeinen untergeordneten Chargen mit Strafdienst. Jedenfalls wirkt er so – jung, blass, missmutig und förmlich wie ein Stock.

Man gewinnt den Eindruck, die eigenen Staatsbürger im Ausland sind für die russischen Behörden Menschen zweiter Klasse und man möchte sie eigentlich gar nicht mehr haben. Verräter vielleicht, die sich in schlechteren Zeiten wie den 90er Jahren ein besseres Leben außerhalb von Russland erträumten, anstatt auszuharren? In deutschen Wirtschaftsführern steht, man möge sich bei offiziellen Verhandlungen in Russland dort ansässiger Dolmetscher bedienen, auch wenn man eigene muttersprachliche Mitarbeiter mit russischen Wurzeln habe, die man mitbringen und denen man vertrauen könne. Die Offiziellen des Landes misstrauten ihren Landsleuten im Ausland stark. Wem man misstraut, dem steht offenbar so etwas wie „Bürgerfreundlichkeit“ nicht zu. Nicht einmal ansatzweise (Foto: Wiki-Observer, Wikimedia Commons).

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