Russlanddeutsch – wo sind die Wurzeln?

[Hanns-Martin Wietek] Alles fing am 22. Juli 1763 – vor etwas mehr als 250 Jahren – an, als Zarin Katharina die Große, geborene Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst,  ihr historisches Einladungsmanifest unterzeichnete. Sie suchte fleißige Bauern, die die menschenleeren Weiten Russland besiedeln sollten. Nicht zufällig fiel ihr Blick auf ihre alte Heimat Deutschland.

Dort lebten viele Bauern in trostloser Armut und Abhängigkeit und sie versprach diesen, verzweifelten deutschen Bauern in Russland Privilegien: Religionsfreiheit, Selbstverwaltung, Befreiung vom Militärdienst und Steuervorteile. Für viele klang das nach einer Art Paradies. Und sie kamen zu Hunderttausenden, gründeten Dorfgemeinschaften, arbeiteten und hatten Erfolg.

Nach etwa 150 Jahren, vor dem Ersten Weltkrieg, begann das Paradies unparadiesisch zu werden: die bisher stets erneuerten Glaubens-, Steuer- und Rechtsprivilegien wurden nicht mehr erneuert. Zur reinsten Hölle wurde für die Russlanddeutschen die Deportation in den asiatisch-sibirischen Raum, die Stalin nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion anordnete und wo sie in der »Arbeitsarmee« ein unsägliches Dasein in militarisierter Zwangsarbeit zu fristen hatten.

Durch Chruschtschow wurden sie zwar rehabilitiert, in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete konnten sie jedoch nicht zurück, denn dort saßen in der Zwischenzeit andere.
Im Jahr 1978 durften die ersten Russlanddeutschen ausreisen – viele von ihnen hatten ihre Anträge schon 22 Jahre zuvor gestellt.

1990 lebten etwa 2,5 Millionen Deutschstämmige in der Sowjetunion. Die Nationalitätenpolitik Gorbatschows und die Hoffnung auf eine neue Republik der Deutschen an der Wolga ließen den Strom der Aussiedler indes nicht versiegen: 1988 verließen 52.000 Russlanddeutsche die UdSSR, 1989 waren es bereits rund 100.000.

In Sibirien leben heute noch 350.000 Russlanddeutsche. Am 1. Juli 1991 gründeten sie erneut den 1938 aufgelösten deutschen Nationalkreis Halbstadt (Nekrassowo) im Altaigebirge und am 18. Februar 1992 den Nationalkreis Asowo bei Omsk. Nur in der Region Altai und im Gebiet Nowosibirsk sind sie noch eine nennenswerte Minderheit.
In diesen deutschen Nationalkreisen sammelten sich viele Deutsche, um ein neues Leben zu beginnen und sie wurden sowohl vom russischen Staat als auch der Bundesrepublik Deutschland unterstützt. Viele betrachten diese Rayons jedoch auch als eine Absprungbasis nach Deutschland.
Ein Rayon ist im Russischen ein Gebiet in einem Oblast etwa einem Landkreis im Deutschen vergleichbar und  Nationalrayon bedeutet, dass der Rayon für Menschen einer bestimmten nationalen Herkunft eingerichtet wurde und besonders hinsichtlich Kultur und Sprache bestimmte Sondergesetze gelten.

Und nachdem Jelzin die ursprüngliche Zusage, erneut eine selbstständige deutsche Wolgarepublik zu gründen, nicht einhielt, gab es kein Halten mehr. Bis heute sind mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche ausgewandert. Angesichts der demografischen Entwicklung in Russland will Putin so viele wie möglich nun zurückholen.

Und wenn man den Worten von Dmitrij Rempel, dem Vorsitzenden der Partei der Übersiedler nach Deutschland „Einheit“ glauben darf, scheint dies gar nicht so unwahrscheinlich zu sein. In einer Rundfunksendung auf der Krim sagte er:

„Nach unseren Einschätzungen zeigen bis zu 500.000 Menschen Interesse und sind auch bereit, in die Russischen Föderation auszuwandern. Diese Zahl ist allerdings nur eine Hochrechnung, da es keine genauen statistischen Daten gibt. Ein Teil dieser Menschen verlässt Deutschland recht chaotisch, sucht sich [in Russland] selbständig einen Wohnort und wird mit bestimmten Problemen beim Erhalten der Aufenthaltsgenehmigung und bei der Krankenversicherung konfrontiert. Wenn es ein komplexes Zielprogramm für die Integration  dieser Heimkehrer gäbe, käme die Zahl der Ausreisewilligen an jene Zahlen heran, die wir genannt haben. Die äußerst schwierige Situation um die Flüchtlinge, aber auch wirtschaftliche Schwierigkeiten und misslungene Einbindung in die Gesellschaft veranlassen die Menschen, sich irgendwelche neuen Länder zu suchen, wohin sie auswandern könnten. Und da sie die Sprache, die Kultur und die Traditionen kennen, ist Russland das attraktivste Land für eine Übersiedlung.“

Auf ihrer politischen Bildungsreise waren auch das Deutsche Nationalrayon Asowo und Alexandrowka, das älteste deutsche Dorf in Sibirien, ein Ziel der Wissenshungrigen (russland.news berichtete über Programm und Intention der Reise ).

Am 13. Oktober 1991 wurde in den Dörfern, die heute den Nationalrayon Asowo bilden, ein Referendum zu dessen Gründung abgehalten. Bei einer Beteiligung von 71 % stimmten 82,7 % für die Gründung, die daraufhin am 18. Dezember 1991 vom Rat der Volksdeputierten des Oblast Omsk beschlossen wurde. Der Rayon entstand am 17. Februar 1992 auf Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Russischen Föderation. Dazu gehörten 29 Siedlungsorte, in 16 von ihnen lebte damals überwiegend eine deutschstämmige Bevölkerung. Viele von ihnen haben den Nationalrayon inzwischen in Richtung Deutschland verlassen.

Und Alexandrowka ist das älteste deutsche Dorf in Sibirien, gegründet 1893 von lutherischen Kolonisten aus den Gouvernements Saratow und Samara. Bereits am 20. Oktober 1894 wurde eine Verordnung der Gebietsverwaltung Akmola für Bildungswesen über die Einrichtung der Dorfverwaltung in Alexandrowka verabschiedet.

In beiden Dörfern wurden wir – auch ich gehörte zu den Wissenshungrigen – mit vielen Zahlen und Fakten über Geschichte und Bedeutung der Orte aufgeklärt. Eine Aussage von Bedeutung war, dass heute in dem ehemals von Russlanddeutschen dominierten Gebiet nur noch 20 bis 30 Prozent Deutschstämmige leben, dass die Zahl der Ausreisewilligen abgenommen hat und es jetzt auch vereinzelt Rückkehrer aus Deutschland gibt.

In Asowo besichtigten wir eine kleine Brauerei, die nach dem deutschen Reinheitsgebot mit modernster Technik ein köstliches Bier und ebenso köstlichen Kwas (aus vergorenem Brot gewonnenes nicht-alkoholisches Nationalgetränk, das es in den Städten früher an jeder Straßenecke zu kaufen gab) braut.

In Alexandrowka bekamen wir ein Konzert geboten, in dem Frauen und Kinder des Dorfes deutsche Schlager als Zeichen deutscher Kultur sangen. Und nach Würdigung des örtlichen Museums fuhren wir zu einem Platz auf dem kräftig gefeiert wurde – Alexandrowka feierte mit viel ausgelassenem Gesang Geburtstag. Die deutschen Schlager im Kulturhaus und die lustigen russischen Lieder auf dem Dorfplatz hatten nicht viel gemein – allein das Lied „Heimat“ wurde von beiden mit der gleichen Inbrunst gesungen – wobei nicht ganz klar wurde, welche Heimat sie meinten – die russische, die sie kennen, oder die unbekannte deutsche.

Und es gab noch eine Überraschung:

Da stand ein junger Mann, auf seinen Fahrradlenker gestützt, am staubigen Straßenrand und betrachtet das Treiben der Wissenshungrigen von der Rosa Luxemburg Stiftung.

Der junge Mann sprach fließend fast akzentfrei Deutsch, er ist ein Russlanddeutscher, ein Heimkehrer aus Hessen. Nach zehn Jahren Deutschland zog es ihn trotz guter Ausbildung und Arbeit wieder zurück. Für ihn ist Heimat etwas anderes als für die noch immer in Russland lebenden Russland- oder Wolgadeutschen oder die in den 90er Jahren in das goldene Deutschland „Zurückgekehrten“.

Wir waren fasziniert:
Wir sind zwar in einem Dorf im Deutschen Nationalrayon, aber hier leben auch nur noch 20 Prozent Deutsche – Russlanddeutsche. Und das sind Deutsche einer anderen Art – ihr Bild von Deutschland und vom Deutsch-Sein entspricht nicht dem unsrigen.
Und dann plötzlich ein Gesprächspartner, der beide Seiten kennt und sich klar entschieden hat. Wie Ausgehungerte stürzten wir uns auf den jungen Mann und quetschten ihn aus, um zu verstehen – denn dazu waren wir gekommen .

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