Russland verstehen ….

[von Dr. Alfred Betschart] Hinter allem, was in Russland geschieht, wird die Handschrift Putins und des KGB vermutet. So hinter den Morden an Litwinenko und Politkowskaja, hinter dem Vorgehen gegen Kasparows Anderes Russland. Liebevoll werden Clichés benützt, um die Urängste der Westeuropäer vor den Barbaren aus dem Osten zu bedienen.

Was früher die Hunnen, Ungarn und Mongolen sind heute die Russen. Gorbatschows Zeiten von Perestroika und Glasnost, als der Westen euphorisch für Russland schwärmte, sind längst vorbei. Heute herrscht Antipathie, wenn nicht Hass. Russland ist zum Paria und Sündenbock geworden. Für die meisten Westeuropäer sind Stalin und Berija heute Russen und nicht Georgier.

Wenn die Ukraine Gas aus der Leitung stiehlt, ist Russland schuld, wenn deswegen die Gasversorgung in Westeuropas kriselt. Wenn Russland zur deren Sicherstellung vorschlägt, eine Pipeline durch die Ostsee zu bauen, erkennt die EU darin einen Erpressungsversuch. Die meisten Journalisten bemühen sich heute kaum mehr darum, Russland zu verstehen. Ihre Analysen sind vorwiegend Reproduktionen schon längst abgenutzter Schablonen. Um die russische Politik und Gesellschaft zu verstehen, muss man deren Determinanten kennen. Determinanten, welche die russische Politik seit den zaristischen Zeiten bestimmen.

Ein Land mit Minderwertigkeitskomplexen

Russland sah sich immer als ein bedeutendes Land. Im Mittelalter waren die russischen Zaren mit den englischen Königen und byzantinischen Kaisern verschwägert. Die Architekten für den Moskauer Kreml wurden aus Italien geholt. Moskau verstand sich als das Dritte Rom. Wirtschaftlich war Russland schon damals ein attraktiver Lieferant von Rohstoffen und ein Durchgangsland für den Fernhandel nach Asien. In Nowgorod hatte die Hanse wie sonst nur in Brügge, Bergen und London einen Kontor.

Die grossen Veränderungen brachte nicht die Herrschaft der Mongolen und Tataren Ende des 13. und im 14. Jh.. Hierzu kam erst es um 1500. Russland wurde durch den Vorstoss der Türken von seinen Partnern im Süden abgeschnitten. Die Umsegelung Afrikas brachte den Handel auf der Seidenstrasse zum Erliegen. Das katholische Polen eroberte die Ukraine, das Herz der alten Rus. In der Folge schottete sich Russland gegen den Westen ab. Und dies zu einem Zeitpunkt, als Renaissance und Reformation viel frischen Wind ins europäische Geistesleben brachten. Ihren Tiefpunkt erreichte die russische Geschichte mit der Eroberung Moskaus durch die Polen 1610.

Russlands Entwicklungsrückstand wurde klar, als Peter der Grosse 1697 Westeuropa besuchte. In dieser traumatischen Erfahrung gründet der tiefe Minderwertigkeitskomplex, der Russland seitdem beherrscht. Angesichts der grossartigen russischen Kultur mit Dostojewskij, Tschajkowskij und Kandinskij mutet er zwar anachronistisch an. Doch er ist nach Maria Wolkenschtejn, der Präsidentin des Meinungsforschungsinstituts Validata, das Einzige, was alle Russen heute verbindet. Wie ein Pendel schwingt Russland seit drei Jahrhunderten zwischen Phasen, in denen blind der Westen kopiert wird, und Zeiten, in denen es je nachdem auf die Grösse der russischen Seele, das Slawentum oder das „asiatische Erbe“ setzt. Die ersten hundert Jahren nach Peter d. Gr., der Beginn der Sowjetzeit 1917-28 und das Jahrzehnt nach der Gründung des modernen Russland 1991 waren Perioden, die von einer Politik der forcierten Verwestlichung gekennzeichnet waren. Doch jedes Mal folgte darauf ein Ausschlag in die Gegenrichtung: nach den napoleonischen Kriegen unter Alexander I., unter Stalin und ein letztes Mal in Putins zweiter Amtszeit.

Der Grund für die Abkehr von einer an Europa orientierten Politik lag meist in der fehlenden Anerkennung, welche deren Vertreter im In- und Ausland erfuhren. Dies gilt auch für Putins Wende zur Mitte seiner Amtszeit. Der Westen sieht in Putin immer nur den KGB-Agenten. Schon das Bild, das wir heute vom KGB haben, ist falsch. Zum Ende der Sowjetzeit, als Putin in den KGB eintrat, war dieser nicht mehr ein Verein von Schlächtern. Unter Andropow war aus dem KGB eine Eliteorganisation mit hervorragendem Ruf und – mindestens teilweise – kritischem Geist geworden. Es war Andropow, der Gorbatschow förderte. Und vor allem: Putin wechselte Mitte 1991 in die St. Petersburger Stadtverwaltung und verliess damit den KGB. Putin tat dies zu einem Zeitpunkt, als die Sowjetunion voller Putschgerüchte war und nur wenige auf die Demokratie setzten. Und mit seinem Eintritt in die St. Petersburger Stadtverwaltung schloss er sich indirekt Sobtschak an, dem dortigen Bürgermeister und damals bedeutendsten demokratischen Politiker Russlands.

Wer in Putin nur den KGBschnik sieht, verfehlt dessen Persönlichkeit gewaltig. Putin ist sehr west- und vor allem deutschlandorientiert. Seine zwei Töchter schickte er in Moskau in die Deutsche Schule. Wer die Auftritte des russischen Präsidenten beobachtet, erkennt rasch, dass er weder ein Stalin noch ein Jelzin ist, weder ein intriganter Bürokrat, der über Leichen geht, noch ein populistischer Politiker, der am liebsten mit seinen Kumpanen zecht. Die im Gegensatz zu Jelzins Zeiten geringe Fluktuation im Ministerrat und der Präsidialverwaltung zeigen Putin als eine Person, der Treue und Zuverlässigkeit viel bedeuten. Zusammen mit seinem leicht linkischen Verhalten spricht dies eher für eine empfindsame Persönlichkeit. Die Ablehnung, die Putin durch den Westen erfuhr, hat ihn tief getroffen und entscheidend zu seiner Abkehr von Europa beigetragen.

Putin und mit ihm ganz Russland ist verärgert über die Politik der vielen kleinen Nadelstiche, die der Westen verfolgt. Und vor allem über dessen Doppelmoral, wie sie Putin in seiner Münchner Rede vom Februar 2007 deutlich kritisierte. Estland kann einem Sechstel seiner Bevölkerung die Staatsbürgerrechte verweigern und bei einer Demonstration in Tallinn einen Jugendlichen töten. Unvorstellbar die Empörung des Westens, wenn dasselbe in Russland geschähe. Doch im Falle Estlands schweigt Europa. Russland verträgt offene und ehrliche Kritik. Doch es erwartet, dass der Massstab überall derselbe ist. Wird es enttäuscht, droht die Politik noch mehr von Russlands Minderwertigkeitskomplex statt der Vernunft beherrscht zu werden. Und als grosse militärische Kraft und als Land, das reichlich mit Bodenschätzen ausgestattet ist, hat es die Mittel zu einer für uns unbequemen Politik.

Der gute Zar als Symbol der Einheit

Die Rolle des russischen Präsidenten unterscheidet sich wesentlich von jener seiner europäischen Kollegen. In seiner Eigenschaft als guter Zar ist der russische Präsident die Verkörperung der Einheit und Stärke Russlands. Er trägt die Oberverantwortung für Russlands Rolle im Konzert der Weltmächte, für das wirtschaftliche Wohlergehen wie die innere Stabilität.

Seine Rolle als guter Zar spielt Putin erfolgreicher als die meisten seiner Vorgänger. Zustimmungsraten von über 80% belegen dies. Den Russen geht es heute besser als jemals zuvor. Seit 2000 hat sich das Pro-Kopf-Bruttovolkseinkommen mehr als verdoppelt. Der ehemalige Herausgeber von Junk Bonds wandelte sich zu einem Kreditgeber. 2006 wurde der Rubel frei konvertibel. Auch innenpolitisch gab es viele Reformen. Das Steuerwesen wurde mit einer Flat Tax radikal vereinfacht. Sozial-, Miet- und Bodenrecht wurden neu gestaltet, die Armee der Leitung eines Zivilisten unterstellt. 2002 wurde Russland in die G8 aufgenommen und ein Jahr später von der Liste der Geldwäscherstaaten gestrichen. Selbst in Tschetschenien erreichte Putin Fortschritte in einer so kurzen Zeit, dass Aussichten bestehen, dass diese schwärende Wunde schneller heilen wird als jene in Nordirland oder im Baskenland.

Zu Putins Rolle als guter Zar gehört nicht nur der zeremonielle Pomp, der ihn immer begleitet, sondern auch, dass er sich der Anliegen der Bevölkerung annimmt. Die Frage-und-Antwort-Spiele, in denen sich Putin regelmässig „gewöhnlichen“ Leuten stellt, sind wahre Meisterwerke der Kommunikation. Und in den Nachrichten wird fast täglich gezeigt, wie der russische Präsident den Ministern Anordnungen zum Wohl von Volk und Staat erteilt. Damit breite Kreise der Gesellschaft ihre Anliegen einbringen können, wurde sogar eigens eine dritte Parlamentskammer eingerichtet, die Gesellschaftskammer.

Für den Zaren bedrohlich sind vor allem aussenpolitische Fehlschläge. Die Niederlagen im Krimkrieg, im Russisch-Japanischen und im Ersten Weltkrieg hatten wie Hitlers Eroberungen 1941-42 und der Zerfall der Sowjetunion 1991 für die jeweilige politische Führung traumatische Auswirkungen. Instinktsicher kämpft Putin deshalb gegen alles, was seine Position aussenpolitisch gefährden könnte. Selbst langfristig unhaltbare Stellungen wie jene in Transnistrien, Abchasien oder Südossetien versucht er aus diesem Grund unter allen Umstanden zu bewahren.

Aber auch innenpolitische Niederlage können den Zar gefährden. Deshalb muss dieser immer über der vom Volk mit viel Misstrauen betrachteten Parteipolitik stehen und Distanz zu konkreten Gesetzen und Massnahmen wahren. Durch die grosse Präsidialverwaltung und seine Vertreter in jedem der sieben Föderationskreise ist Putin wohl omnipräsent, Doch Putins Leute übernehmen genauso wenig die Verantwortung wie ihre Pendants zu Sowjetzeiten, das ZK-Sekretariat oder die Ersten Gebietssekretäre. Wenn der Zar sich einmischt, dann am ehesten durch ihm nahe stehende Personen wie Medwedjew bei Gasprom, Setschin bei Rosneft und Kosak, der das Tschetschenien-Dossier betreut. Doch wir würden den Einfluss des Präsidenten gewaltig überschätzen, wenn wir jede politische Handlung in Russland auf ihn zurückführen wollten.

Der Beamte – der wahre Autokrat

Eine der Bezeichnungen des russischen Zaren war jene des Samoderzhets, des Autokraten. Der Zar repräsentiert die höchste Macht im Staat. Doch er repräsentiert sie nur. Die Macht hat er nicht. Russlands wahrer Autokrat ist der Beamte. Russland kennt keine Bürokratie im Sinne Max Webers. Für diesen war die Bürokratie die höchste Form rationaler Herrschaft. Die Gesetze verkörpern die politische Vernunft. Und die Bürokratie vollzieht sachkundig die vernünftige Gesetzesordnung. In Russland ist es anders. Die Gesetze sind widersprüchlich, die Organisation des Beamtenapparates ist undurchschaubar. Es ist ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit. Wie gross das administrative Chaos ist, wurde 2004 in Beslan deutlich, als die verschiedenen nationalen und lokalen Streitkräfte unkoordiniert agierten und Hunderte von Kindern auch deshalb starben.

Die Schwäche in der Gesetzgebung und der Organisation des Apparates ist die Grundlage der Macht des Beamten. Wenn die Gesetze und die Zuständigkeiten im Vollzug nicht klar sind, hängt es vom Beamten ab, ob und wie ein Gesetz vollzogen wird. Dies öffnet der Willkür Tür und Tor. Schon der französische Marquis de Custin, der 1839 das zaristische Russland bereiste, erkannte: Die russischen Gesetze sind sehr streng; doch dies wird dadurch gemildert, dass alles verhandelbar ist. Glücklicherweise gehört der russische Beamte nicht zur Gattung der preussischen Staatsdiener, denen der Buchstabe des Gesetzes alles und der Mensch nichts bedeutet. Mit ein wenig Geld ist der russische Beamte meist leicht zu motivieren. Oft genügt auch schon Jammern oder einfaches Bitten.

Doch dies funktioniert nur, solange man sich der Empathie des Beamten gewiss sein kann. In Fällen von Antipathie ist man ihm jedoch schonungslos ausgeliefert. Die Aufklärung des Mordes an Politkowskaja oder an einem schwarzen Studenten interessiert ihn nicht. Dafür wird er sich mit grossem Eifer im Einsatz gegen die Manifestationen der Schwulen oder von Kasparows Anderes Russland engagieren. Nicht weil ein Befehl von oben kommt, sondern weil er weder Politkowskaja noch schwarze Studenten, Schwule oder Kasparow mag. Eine Rechtfertigung für sein willkürliches Handeln findet der Beamte im Wulst der russischen Gesetzgebung noch allemal. Anspruch auf Gleichbehandlung gibt es weder vor dem Beamten noch vor den Gerichten. Shells Erfahrung mit Sachalin-2 belegen dies deutlich.

So sehr der Beamte nach aussen Autokrat ist, so sehr ist er bedroht, intern selbst Opfer der Willkür zu werden. Um sein eigenes Risiko zu vermindern, wird er zweifelhafte Fälle auf die lange Bank schieben. Und in brisanten Angelegenheiten wird er seine Entscheidungen so fällen, wie er vermutet, dass seine Vorgesetzten es gerne hätten. Putin muss den Befehl zum Einsatz der Polizei gegen Kasparow nicht erteilen. Die Polizei wird es von selbst erledigen. So funktioniert es auch bei den Massenmedien. Staatsbetriebe kaufen Medien, um den politischen Vorgesetzten einen Gefallen zu tun. Und die verantwortlichen Redaktoren tun alles, um Beiträge zu vermeiden, die oben Missfallen erregen könnten. Es braucht keine Zensur durch den Kreml. Die Zensur ist in den Köpfen der Leute.

Putins grosses Verdienst ist es, den russischen Staat nach den chaotischen Jelzin-Jahren wiederhergestellt zu haben. Er entmachtete die Lokalfürsten und baute die Demokratie und das Parteiensystem nach deutschem Vorbild um. Wie dort wird künftig das russische Parlament nach Proporz mit Sperrklausel gewählt. Letztere ist mit sieben Prozent zwar höher als in Deutschland, aber unter jener der Türkei. Bei den Parteien hat Putin mit Einigem Russland und Gerechtem Russland CDU und SPD kopiert. Doch sein Erfolg in der Stärkung des Staates hatte letztlich Putins Scheitern hinsichtlich eines seiner wichtigsten Ziele zur Folge. Eigentlich strebte Putin die Herrschaft des Rechts an. Doch ein stärkerer Staat bedeutet auch mehr Beamte. Deren Zahl wuchs auf der Eben der Föderation zwischen 2000 und 2005 um 47%. Es kann deshalb nicht erstaunen, dass die russische Wirtschaft heute noch mehr als früher über die Willkür der Beamten und die Korruption klagt.

Eine gespaltene Gesellschaft

Die russische Gesellschaft ist gespalten wie keine andere in Europa. Riesig ist die Kluft zwischen der Elite und der Masse der Russen. In der Elite selbst gibt es drei grosse Gruppen: die Politiker, die Wirtschaftsleute und die Intellektuellen und Künstler. Jeder dieser Teileliten ist es erlaubt, nur in ihrem Bereich aktiv zu sein. Das grösste „Verbrechen“, das Chodorkowskij in den Augen der Politiker plante, war nicht der beabsichtigte Verkauf von Russlands bedeutendsten Ressourcen an die Amerikaner. Es war sein Vorhaben, sich als Wirtschaftsmann in der Politik zu engagieren. Während Beresowskij und Gussinskij für ähnliche „Taten“ nur mit Exil bestraft wurden, erhielt Chodorkowskij acht Jahre Haft. Abramowitsch weiss, weshalb er sich auf den FC Chelsea beschränkt.

Aber auch innerhalb der Teileliten gibt es eine ausgeprägte Fragmentierung. Die Parlamentarier bilden zwar eine Gruppe innerhalb der politischen Führungsschicht, doch kaum ein Parlamentarier wird je Mitglied der Exekutive. Minister stammen im Gegensatz zu ihren Kollegen in Westeuropa fast ausschliesslich aus dem Beamtenapparat und haben sich nie einer Volkswahl gestellt. Ein russisches Kabinettsmitglied weiss wenig übers Volk, aber umso mehr über seinen Apparat, aus dem er stammt. Nicht erstaunlich deshalb, dass selbst gute Minister immer nur gute Beamte bleiben. Und wenn sie sich als Reformer versuchen, wie Gorbatschow oder Stolypin, scheitern sie, weil ihnen das Verständnis fehlt, dass sie für ihre Reformen auch eine politische Basis schaffen müssten.

Dass alle Machtpositionen von ex-KGB-Leuten besetzt seien, ist ein Unsinn. Nur die sicherheitsrelevanten Organe werden von diesen geführt (Sergej Iwanow als zuständiger 1. stellvertretender Ministerpräsident, Innenminister Nurgalijew, Patruschew als Leiter des Inlandgeheimdienstes). In den Bereichen Wirtschaft und Soziales dominieren hingegen ehemalige Mitarbeiter der St. Petersburger Stadtverwaltung (Medwedjew als zuständiger 1. stellvertretender Ministerpräsident, Finanzminister Kudrin, Wirtschaftsminister Gref, Setschin als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung). Und die Gebiete der Aussenpolitik werden von Vertretern aus dem Aussenministerium geleitet (Aussenminister Lawrow, Igor Iwanow als Sekretär des Sicherheitsrates). Verteidigungsminister Serdjukow als ehemaliger Möbelhändler und der Kreml-Ideologe Surkow, der aus der Werbung kommt, sind absolute Ausnahmeerscheinungen. Die Verankerung im Apparat entscheidet wesentlich über die Stärke der einzelnen Regierungsmitglieder. Putin kann sich sowohl auf die ehemaligen KGB-Mitarbeiter wie auf jene aus der St. Petersburger Stadtverwaltung stützen. Die Schwäche von Ministerpräsident Fradkow liegt demgegenüber darin begründet, dass ihm als ehemaligem Staatsaussenhändler die Basis fehlt.

Die Konsequenzen der Segmentierung der Gesellschaft sind fatal. Die breite Masse der Bevölkerung hat kein Vertrauen in den Staat der Beamten. Was ihre Kultur anbetrifft, sind die Russen ein fester Bestandteil Europas. Doch in ihrem Verhältnis zum Staat bilden sie mit den Süditalienern zusammen einen Sondertypus. Im Kern ihrer Seele sind die Russen Anarchisten: den Staat im Sinne des Beamtenapparates muss man betrügen, denn Gutes ist von diesem nicht zu erwarten. Achtung haben die Russen nur vor dem Staat als Idee, wie sie der Zar verkörpert. Wenn die Russen mit ihrem Einsatz Europa vor Hitler retteten, dann nicht um des Sowjetsystems, sondern um Mütterchen Russlands willen.

In der Spaltung der Gesellschaft liegt auch die Ursache für das weitgehende Fehlen einer Bürgergesellschaft in Russland. Wo sich nicht Menschen aus unterschiedlichen Kreisen für die Durchsetzung gemeinsamer Anliegen treffen können, gibt es keine Bürgergesellschaft. In Russland kommt es eher zu einer Revolution als zu einer politischen Basisbewegung. Die gleiche Ursache hat ein weiteres, für Russland sehr typisches Phänomen: die weite Verbreitung von Verschwörungstheorien. Wo nicht alle Kreise der Gesellschaft gleichberechtigt Zugang zu Informationen haben, blühen die wildesten Theorien. Naturgemäss betrifft dies vor allem die Opposition. Doch selbst die Machtzentren werden gelegentlich von diesem Virus angesteckt. Was den Intellektuellen der Kreml und der KGB, sind dem Apparat die durchs Ausland finanzierten NGOs.

Die kurzfristigen Aussichten für das Verhältnis Europa-Russland sind nicht positiv. Putin wird im Frühling 2008 seine Präsidentschaft zwar beenden und damit beweisen, dass er ein besserer Demokrat als Juschtschenko und Saakaschwili ist. Doch das heute wahrscheinlichste Szenario ist, dass Sergej Iwanow Putins Nachfolger wird. Sollte es soweit kommen, wird sich das „KGB-Problem“ verschärfen. Iwanow, ein ausgebildeter Philologe mit Englisch und Schwedisch im Hauptfach, arbeitete über zwanzig Jahre in der Spionage. Wenn wir unser Verhältnis zu Russland wieder normalisieren wollen, dann müssen wir unsere KGB-Phobie ablegen. Entscheidend darf nicht die Vergangenheit einer Person sein, sondern was sie tut.

Russland verstehen heisst nicht, alles zu verzeihen. Kritik kann und muss angebracht werden. Doch wie? Wählen wir den Weg Reagans oder jener von Brandt? Die Stimmen haben sich in den letzten Jahren wieder vermehrt – gerade unter Intellektuellen wie Glucksmann –, welche die Konfrontation suchen. In totaler Verkennung der Geschichte glauben sie, dass es Reagan war, der den Zusammenbruch des Sowjetimperiums bewirkte. Castros Kuba beweist jedoch täglich, wie wenig erfolgreich eine solche Politik ist. Entspannungspolitik trägt mehr als Konfrontation zur Aufweichung bei. Wenn wir uns für die Russen mehr Freiheit und weniger Staat wünschen, dann geht dies nur durch einen Dialog. Und wirklichen Dialog kann es nur geben, wenn auf die Besonderheiten des Andern Rücksicht genommen wird. Und hierfür braucht es als erstes Verständnis. [  Alfred Betschart / russland.RU ]

Zur Person:
Dr. Alfred Betschart, geb. 1954, promovierter Staatswissenschafter; 1982-86 für ein Schweizer Handelshaus in Moskau und seitdem international in der Chemieindustrie und im Anlagenbau tätig; verheiratet mit einer Moskauerin; regelmässig aus geschäftlichen wie privaten Gründen in Russland

 

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