Russland – das Land ohne Sicherheitsgurt

[von Eugen von Arb] An diesem Tag hatte ich gerade ein Kolumnenthema für den nächsten Tag vorbereitet. Die Stichworte standen brav untereinander, eben so wie es sein soll. Da kam mir etwas dazwischen, so wie mir fast alle schönen Dinge in diesem Land meistens dazwischen kommen.

Ich fuhr auf der großen Hängebrücke über die Newa, als sich mir für wenige Sekunden eine groteske Szene darbot: Zwei Männer und eine Frau hatten ihren weißen Lada einfach auf dem Pannenstreifen geparkt, um sich mit dem Brücken-Flusspanorama zu fotografieren. Die junge Frau tänzelte auf dem Brückengeländer, ihr Partner hielt ihre Hand und der Dritte fotografierte – ein herrliches Bild. Ich war fasziniert – so ein Leichtsinn, dachte ich! Herrlich!

Oder doch unmöglich! Das kommt ganz drauf an, in welchem Tonfall man es sagt. Es wurde mir bewusst, dass das Wort Leichtsinn in meinem Herkunftsland [der Autor ist Schweizer, die Red.] immer mit einem maßregelndem oder spöttischen Unterton ausgesprochen wird. Natürlich hätte leicht etwas passieren können – das Trio hatte nicht einmal den Warnblinker eingeschaltet – von einem Warndreieck ganz zu schweigen. Die Stelle ist unübersichtlich und die Autos donnern mit 120 Stundenkilometern über die Autobahnbrücke. Aber eben der Blick auf die Newa von dort ist eben herrlich!

Die Russen sind oft Kindsköpfe, kein Zweifel. Einige Zeit davor hatte ich beobachtet, wie beim Nachbarhaus ein Teenager mit seiner Freundin aus dem Fenster im ersten Stock kletterte. Es gelang ihnen spielerisch über das kleine Dach über dem Eingang das Erdgeschoss zu erreichen – aber eben, es hätte auch schiefgehen können. Die Zeitungen sind voll mit Unfallmeldungen, die in der Schweiz selten sind – die Leute stürzen von Balkonen oder fallen in die Newa – meistens weil sie verliebt oder betrunken sind. Pech gehabt.

Russland ist ein Land ohne Sicherheitsgurt. Stellen Sie sich einmal vor, sie fahren Auto ohne angegurtet zu sein! Ich spüre förmlich, wie Ihnen unwohl wird. Denn das ist fahrlässig – zweifellos. Unmoralisch – völlig klar. Ja, es ist leichtsinnig – und ich will keinesfalls eine Diskussion darüber beginnen, denn ich und die meisten Russen fahren korrekt angegurtet. Aber wenn sie vom Wörtchen „Leichtsinn“ die zweite Silbe abtrennen, bleibt „leicht“ übrig und Sie verstehen vielleicht was ich meine.

Diese „Leichtigkeit“ kommt unter anderem davon, dass das russische Leben weitgehend unversichert, ungarantiert ist. Es gibt nur zwei Versicherungen, die praktisch alle haben und die meistens funktionieren – die staatliche, kostenlose Krankenversicherung und die obligatorische Auto-Unfallversicherung. Aber sonst ist hier fast nichts versichert – einfach weil russische Versicherungen alles tun, um im Ernstfall nicht zu zahlen.

Das Leben bekommt dadurch unfreiwillig eine Gefährlichkeit und Intensität, die mal fasziniert, mal schockiert. Man muss davon ausgehen, dass es auch so irgendwie funktioniert – für manche ein echter Grund zu beten. Es gibt vom Leben nur ein einziges Exemplar für jeden. Eines und nicht mehr.

Erstveröffentlichung beim St. Petersburger Herold

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