russland.COMMUNITY: Vergangenheit, die nicht vergeht: Das Massaker von Katyn vor 77 Jahren

Zwischen dem 3. April und dem 11. Mai 1940 erschossen Mitglieder des Sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) in den Wäldern unweit von Smolensk mehrere Tausend polnische Offiziere sowie Angehörige der polnischen Intelligenz. Erst im Jahr 1990 räumte Michail Gorbatschow die sowjetische Verantwortung für die Taten ein. Doch auch heute noch stellt das Massaker von Katyn zuweilen eine Belastung für die polnisch-russischen Beziehungen dar – der Name Katyn steht dabei als Synonym für das Leiden der polnischen Bevölkerung unter der sowjetischen Herrschaft während des Zweiten Weltkriegs.

Nachdem das polnische Volk im Verlauf des 19. Jahrhunderts sukzessive um sein Staatsgebiet gebracht wurde und noch während des Ersten Weltkriegs ein „Volk ohne Staat“ war, kam es im Zuge des Versailler Vertrags zur Neugründung eines polnischen Staates. Das Deutsche Reich verlor Posen und Westpreußen an Polen – zusammen mit Teilen ehemals schon polnisch beherrschter Gebiete entstand die Zweite Polnische Republik.

Von 1919 bis 1921 lieferte sich Polen eine kriegerische Auseinandersetzung mit dem durch den tobenden Bürgerkrieg stark geschwächten Sowjetrussland. Im Zuge der Auseinandersetzung konnte Polen mit Teilen des heutigen Weißrusslands und der Westukraine Gebiete annektieren, welche im 18. Jahrhundert schon einmal zum polnischen Territorium gezählt hatten.

Hitler-Stalin-Pakt zieht Teilung Polens nach sich

Am 23. August 1939 schlossen die Sowjetunion und das Deutsche Reich den als Hitler-Stalin-Pakt bekannten Nichtangriffspakt. Für den „Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“ erlaubte ein geheimes Zusatzprotokoll der Sowjetunion, im Ersten Weltkrieg verlorene Gebiete (darunter auch Ostpolen) zurückzuerobern.

Der 1. September markierte mit dem deutschen Angriff auf Polen den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Am 17. September besetzte die Rote Armee Ostpolen und machte dabei Hunderttausende Kriegsgefangene. Gut eine Woche später schlossen das Deutsche Reich und die Sowjetunion einen „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ und teilten damit Polen untereinander auf – die polnische Regierung war schon zuvor ins Exil geflohen.

In der Folgezeit wurde das Lagersystem des NKWD auf die besetzten Gebiete ausgedehnt. Per Beschluss vom 2. März 1940 ordnete das Politbüro der KPdSU die Deportation von etwa 60.000 polnischen Gefangenen Richtung Osten an. An mindestens fünf Orten, darunter Katyn, wurden schätzungsweise 22.000 Menschen erschossen – alleine in Katyn wird von 4400 Toten ausgegangen. Die Opfer wurden per Genickschuss hingerichtet und in mehreren Schichten übereinander gestapelt in Massengräbern verscharrt, welche schon vor deren Eintreffen an den Hinrichtungsorten ausgehoben wurden.

Deutschland schlägt Kapital aus sowjetischen Verbrechen

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war der keine zwei Jahre zuvor geschlossene Nichtangriffspakt nur noch Makulatur – aus zuvor Verbündeten wurden erbitterte Feinde. Bereits im Juli 1941 wurde Smolensk von der Heeresgruppe Mitte eingenommen. Schon kurze Zeit später kamen den deutschen Besatzern Gerüchte bezüglich der im Wald stattgefundenen Erschießungen zu Ohren, welchen jedoch zunächst nicht nachgekommen wurde.

Im Sommer 1942 stießen polnische Kriegsgefangene schließlich auf einige bepflanzte Erdhügel und gruben dabei eine Leiche in polnischer Uniform aus. Das Interesse der Deutschen war geweckt, jedoch fand die Freilegung und Obduktion der Leichen erst im März 1943 statt. Zugleich rollte die deutsche Propagandamaschine an: Zur Ablenkung von eigenen Kriegsverbrechen und zur Schwächung der Sowjetunion durch die internationale Empörung wurde im großen Stil über die Leichenfunde von Katyn berichtet. Die Sowjetpropaganda versuchte ihrerseits, die Deutschen für die Taten verantwortlich zu machen und leugnete jede eigene Beteiligung.

Erste Zweifel an Täterschaft in fünfziger Jahren

Während des Kalten Krieges hielt die Sowjetunion an der Version von der deutschen Täterschaft fest. Jedoch kamen schon in den 1950er-Jahren Zweifel an der sowjetischen Version auf. Mit der Zeit wurde die wahre Verantwortung für das Massaker zu einem mehr oder weniger offenen Geheimnis. Vor dem Hintergrund von Glasnost und Perestroika Ende der 80er-Jahre und dem damit verbundenen Tauwetter traten polnische und andere ausländische Vertreter zunehmend selbstbewusst an die Sowjetunion heran mit dem Anliegen, Klarheit bezüglich der Taten von Katyn zu schaffen.

Schließlich räumte Gorbatschow bei einem Besuch des polnischen Staatschefs Jaruzelski im April 1990 die sowjetische Verantwortung für das Massaker von Katyn ein und veröffentlichte Listen mit den Namen von Opfern. Im Oktober folgte eine Entschuldigung an das polnische Volk und die Veröffentlichung weiterer Akten.

Das Unglück von Smolensk

Immer wieder flammte seitdem in den traditionell schwierigen Beziehungen zwischen Polen und Russland das Thema Katyn auf. Der polnische Vorwurf: Die russische Seite tue nicht genug für die Aufklärung der noch ungeklärten Aspekte des Massakers und weigere sich bei der Herausgabe weiterer Dokumente.

Am 7. April 2010 gedachten mit Donald Tusk und Wladimir Putin erstmals die Regierungschefs von Polen und Russland der Opfer von Katyn. Überschattet wurde die Geschichte um das Massaker durch ein weiteres tragisches Kapitel, als drei Tage später die Maschine des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski mitsamt 95 weiteren Insassen auf dem Weg zu den Gedenkfeierlichkeiten bei Smolensk abstürzte.

Bewirkte der Absturz zunächst eine große Anteilnahme seitens der russischen Bevölkerung, so kam es jedoch nach der Veröffentlichung des russischen Berichts zu den Ursachen des Absturzes zu neuen Spannungen zwischen den beiden Staaten und dem Aufkommen von Verschwörungstheorien.

Moskaus Manövrieren beim Nürnberger Prozess

Das Massaker von Katyn reiht sich ein in die millionenfachen politischen Morde unter der Herrschaft von Josef Stalin. Die zunehmend paranoide sowjetische Führung vermutete unter den polnischen Kriegsgefangenen „eingeschworene Feinde der Sowjetmacht“ (Zitat von Lawrenti Beria, Chef der sowjetischen Geheimdienste). Keiner der Täter von 1940 wurde vor oder nach dem sowjetischen Schuldeingeständnis verurteilt.

Während der Nürnberger Prozesse wurde das Massaker von Katyn seitens der Sowjetunion den Deutschen angelastet. Die sowjetischen Vertreter versuchten dabei, deutsche Gegendarstellungen zu unterbinden. Es bestand eine brisante Lage: Durch den Kriegsverlauf und die damit verbundenen Truppenbewegungen konnten nur das Deutsche Reich oder mit der Sowjetunion eine Siegermacht und damit ein Ankläger von Nürnberg für die Taten verantwortlich sein.

Auf Druck der übrigen Siegermächte ließen die Sowjets schließlich den Vorwurf bezüglich Katyn gegenüber den Deutschen fallen: Durch die Unterdrückung einer Gegendarstellung werde die Rechtmäßigkeit und Glaubwürdigkeit des Prozesses untergraben. Vielleicht mag den Sowjets in diesem Zusammenhang auch gedämmert haben, dass ein weiteres Festhalten an ihrer Linie vielmehr sie und nicht die Deutschen als Hauptverdächtige für Katyn in den Fokus rückt. Hier verdeutlicht sich einmal mehr die Sentenz, dass Kriegsverbrechen durch die Sieger definiert werden.

MJ

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