russland.COMMUNITY: Konformismus und Debattenkultur (Teil 1)

Von Gert Ewen Ungar – Die deutsche Gesellschaft radikalisiert sich. Zu diesem Ergebnis kam die im Juni veröffentlichte Mitte-Studie, der Universität Leipzig. Die alle zwei Jahre aktualisierte Studie belegt auch, dass Homophobie in Deutschland wieder auf dem Vormarsch ist, denn 40,1 Prozent der Befragten, finden es “ekelhaft” wenn sich Männer in der Öffentlichkeit küssen. Im Jahr 2011 betrug der Anteil der Ekelerregten 25,3,  2014 nur knapp über zwanzig Prozent. Das Ausmaß des Ekels der Deutschen unterliegt also enormen Schwankungen. Aber auch die Zustimmungswerte zur gleichgeschlechtlichen Ehe sind laut Studie im Sinkflug begriffen. Anscheinend verschiebt sich die deutsche Gesellschaft gravierend und wir nähern uns russischen Verhältnissen an. Der Grad an Homophobie der russischen Gesellschaft wird dort übrigens vom Levada-Center ermittelt.

Nun will ich nicht verschweigen, dass ich der Aussagekraft derartiger Studien zutiefst misstraue. Die Datengrundlage des Levada-Centers sind achthundert Befragte. Das wird dann hochgerechnet auf 145 Millionen Bewohner Russlands, ein Land, das sich über zehn Zeitzonen erstreckt und alle nur erdenklichen unterschiedlichen Kulturen und Traditionen eine Heimat ist. Zwar bin ich kein Statistiker, aber ich halte das für fragwürdig. Die eigene Fragwürdigkeit errechnet das Levada-Institut übrigens mit 4,1 Prozent. So weit könnten die tatsächlichen Werte nach oben und nach unten von der statistisch ermittelten Werten abweichen. Das ist erheblich.

Auch die Aussagekraft der Mitte-Studie halte ich für begrenzt. Ganz allgemein gesagt, wenn man mich als schwulen Mann fragen würde, wie ich anderen schwulen Männern begegne, ob a.) ausschließlich positiv, b.) überwiegend positiv, c.) neutral, d.) eher negativ oder e.) vollständig negativ, dann würde ich wohl sagen: “Ähhh.. gibt’s nichts differenzierteres zur Auswahl?”
Wenn man mich dann zwingen würde, zwischen den genannten Optionen zu wählen, dann hinge die Antwort von vielen Faktoren ab. Von meinem letzten Gespräch über Russland und Schwule in Russland beispielsweise. Wäre mein Gesprächspartner von westlicher Arroganz getragen und würde daher leugnen, dass in Russland schwules Leben durchaus möglich ist, obwohl er weder die Sprache spricht, noch jemals in Russland war, sondern sich ausschließlich auf hiesige Quellen beruft, dann würde meine Antwort wohl in Richtung d.) eher negativ tendieren. Und die so gegebene Antwort hätte noch nicht einmal was mit Selbsthass oder Ähnlichem zu tun. Sie wäre nur der Ausdruck von Ärger.

Eine Person, die mich zu einer  ganz deutlich negativen Bewertung von Schwulen bewegen würde, nennt sich auf Facebook Romuald Ravenchow.
Er ist mein persönlicher Troll, ebenfalls schwul, kommentiert alles, was ich zu Russland und zu queerem Leben in Russland poste, kommentiert darüber hinaus alle Kommentare, die positiv auf meine Berichte reagieren. Er macht sich also richtig viel Arbeit. Das Außergewöhnliche an unserem Verhältnis ist, dass ich die Person, die sich hinter dem einer nichtssagenden Facebook-Identität verbirgt, im wahren Leben kennen gelernt habe. Normalerweise ist das bei Trollen unüblich. Man kennt sich nicht.
Im realen Leben bekommt Romuald den Mund kaum auf, in dessen Mundwinkeln sich aber ein beständiges Zucken zeigt. Auf Facebook ist das anders. Da ist er eher weitschweifig und lässt sich zu Kommentaren wie diesen hinreißen:

Romuald Ravenchow: Oh, ich mag Russland auch. Deshalb würde ich es gerne zu einem besseren Land machen. Wäre es mir egal, würde ich hier nicht diskutieren. Und mir tut jeder LGBTTIQ-Mensch von Herzen leid, der im heutigen Russland leben muß.

Diese durch und durch chauvinistische, imperialistische, vor Verachtung und Arroganz triefende Haltung,  durchziehen die Statements von Romuald wie ein roter Faden.

Die Abläufe der Diskussionen sind daher auch immer gleich und enden mit einem Kontaktabbruch seitens seiner Diskussionspartner.

Nicht wahr haben wollend, dass ich jemandem in meinem Bekanntenkreis habe, der zu dieser Spezies der Internet-Trolle gehört, habe ich den ganzen Zyklus eines typischen Troll-Gesprächs mit Romuald einmal auf allen Ebenen durchdekliniert. Versehentlich sozusagen. Es sind rhetorische Spielereien, eine primitive Form der Scholastik, in der durch eine beständige Verschiebung von Kriterien jede Antwort lediglich Ausgangspunkt für immer weitere und immer absurdere Fragen werden. Normalerweise merke ich das schnell und ziehe mich zurück. Durch unsere Bekanntschaft habe ich mich täuschen lassen und Fragen für ein echtes Interesse gehalten.

Es fing mit einem Bild an. Die Diskrepanz zwischen unseren Medien und dem, was in Russland tatsächlich passiert, habe ich vor einiger Zeit ein Bild aus einem russischen Supermarkt auf Facebook eingestellt. Im Gegensatz zu dem hier herrschenden Narrativ, durch die Sanktionen wären die Supermarkt-Regale leergefegt, sind sie übervoll. Es gibt alles bis hin zu exotischen Früchten wie beispielsweise Kokosnüssen, Papaya und Ananas.

Romuald forderte mich auf, als weiteren Beleg für meine Behauptng auch die Einkaufskörbe der Kunden zu fotografieren, damit so gezeigt würde, dass die Produkte tatsächlich verkauft würden. “Naja”, dachte ich bei mir, “so eine geistige Bauchlandung kann jedem mal passieren.” Denn natürlich müssen die Produkte in einem sehr direkten Verhältnis zum Verkauf stehen, ansonsten wäre es ja ökonomischer Selbstmord. Für den Lebensmittel-Einzelhandel gilt das besonders. Man kann ja nicht morgens im Großmarkt frische Ware einkaufen und sie dann drei Tage später wegwerfen. Wenn das regelmäßig passiert, ist man einfach zügig bankrott.

Diese Beweisführung war mein Troll nicht bereit anzuerkennen. Ich habe die Einkaufskörbe trotzdem nicht fotografiert. Es war mir einfach zu peinlich.

Analog dazu ist ihm auch das Vorhandensein von schwulen Klubs, Bars, Saunen, der Tatsache, dass viele meiner Freunde als Paare unbehelligt zusammen leben, dass es dort eine ganz ausgereifte schwule Infrastruktur gibt, vom Sportverein über schwules Internet-Radio, einer Vielzahl von politischen Gruppen, und sogar einem gayfriendly-Badeort am Schwarzen Meer, kein ausreichender Hinweis darauf, am Bild vom ausschließlich homophoben Russland ein bisschen was zu ändern. Im Gegenteil.  Romuald wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass dies nicht Beweis genug ist, schließlich steht in westlichen Medien etwas anderes. Da beißt sich die Katze kräftig in den Schwanz.

Dabei ist die Botschaft eine überraschend positive, die ich von meinen Reisen nach Russland bisher immer mitbrachte: So schlimm, wie in den deutschen Medien dargestellt, ist es nicht. Im Gegenteil. Man kann als Schwuler in Russland gut und sicher leben. Je nachdem, auf welche Indikatoren man blickt, ist das Leben für Schwule in Russland sogar einfacher als hier. Greift man so etwas wie soziale Sicherheit und kostenloser Zugang zu beispielsweise medizinischer Versorgung mit in den Fragekatalog ein, verschiebt sich das Gewicht ganz gehörig zugunsten Russlands. Bleibt man dabei, dass das Vorhandensein von Gay-Prides und das Recht auf Heirat das Maß aller Dinge ist, steht Russland etwas schlechter da. Doch man muss sich dann schon fragen lassen, warum man ausgerechnet diesen Maßstab anlegen möchte und hier auch zu keinerlei Diskussion bereit ist. Romuald ist dazu in keiner Weise bereit, begründet aber freilich die Auswahl seiner eigenen Kriterien nicht.

Er putzt lieber seine Gesprächspartner herunter, bis es zum Kontaktabbruch kommt. Fakten interessieren ihn dabei wenig, wenig stört ihn auch den Eindruck, den er erweckt, dass er seiner Sache mit seinem Auftreten mit seinem Gestus der Überheblichkeit und Arroganz eher schadet als nützt, ebenfalls.

Dabei, das sei hier anektodisch erzählt, brüstet er sich damit, Verhaltensbiologe zu sein.

Was ich denke ich zu dem, was sie schreiben? Sie haben von Homosexualität oder Verhaltensbiologie überhaupt keine Ahnung, das muß ich als Verhaltensforscher nun leider ganz klar so sagen.

Ich bin mir sicher, er hat  mir bei unserer Begegnung im realen Leben als Beruf nicht Verhaltensforscher angegeben. Darauf wäre ich sofort angesprungen, denn es gibt da eine Vielzahl von Überschneidungen mit dem, was ich beruflich mache. Ich meine mich, an irgendein medizinisches Forschungsthema zu erinnern, es insgesamt nach Wissenschaftsprekariat roch. Vermutlich stimmt aber auch das nicht. So groß ist der Fachkräftemangel in Deutschland dann doch nicht, dass jemand mit derart großen Defiziten in Methodik und Theorie einen Posten an der Uni bekommt.

Romuald kommt aus der Gothik-Szene und inszeniert sich trotz fortgeschrittenen Alters in sozialen Bezügen immer noch so. Er hat für sich die Rolle des kongenialen Magiers übernommen, der zu allem in ironischer Distanz ist und von dem man nie recht weiß, welcher Seite er zuzurechnen ist. Romuald stellt das mit dem schon beschriebenen permanenten Zucken im Mundwinkel dar, das eben diese ironische Distanz und seine Überhebung gegenüber allem ausdrücken soll. Wenn das jemand im Alter von über dreißig macht, sagte man dazu früher Reifungsstörung. Heute heißt das anders. Jedenfalls ist das Selbstbild, das Romuald zunächst einmal sich selbst und dann auch anderen vorspielt, himmelweit von der Realität entfernt, denn er ist natürlich keine von Genialität beseelte Ausnahmeerscheinung, sondern mit seinem Handeln einfach ein vom Mainstream gesteuerter eng denkender deutscher Blockwart.

Einem Verhaltensbiologen jedenfalls würden sich derartige Sätze vermutlich nicht aus den Fingerkuppen in die Tastatur treufeln:

Romuald Ravenchow Willkommen im 21. Jahrhundert, Max Kronhart, wo die Menschen sich wünschen, so leben zu dürfen, wie sie fühlen. Wo Menschenrechte unveräußerlich zu sein haben, für verurteilte Straftäter und Verdächtige, für Heteros und LGBTTIQ, für alle Geschlechter etc.

Da steht in einem einzigen Absatz so viel Blödsinn, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Als hätten sich die Menschen in anderen Jahrhunderten nicht gewünscht, so leben zu dürfen, wie sie fühlen. Die Literatur ist voll von Beispielen davon, dass es nie anders war. Es ist eine Wesensmerkmal nicht nur des Menschen, Fühlen und Sein in Kongruenz bringen zu wollen. Was für ein Verhaltensforscher, der um diesen Umstand nicht weiß. Deutschland deine geistige Brachlandschaft.
Menschenrechte sind natürlich immer unveräußerlich. Man kann sie nicht verkaufen oder vertraglich abgeben. Das lässt sich, erkennt man ihre Universalität an, gar nicht anders denken. Der Satz ist so also banal. Was vermutlich gemeint ist, ist die Frage ist, ob sie tatsächlich universell sind. Diese Frage hingegen ist nicht banal, sondern ein riesen Problem, das in Philosophie und Soziologie weithin diskutiert wird. In diese Diskussion spielt auch die Verhaltensbiologie immer wieder hinein. Erstaunlich dass ein Verhaltensbiologe das nicht zur Kenntnis genommen hat. Und für verurteilte Straftäter werden die zu den Menschenrechten gehörenden Freiheitsrechte natürlich massiv eingeschränkt. Zumindest dann, wenn sie in den Knast kommen. Sie sind zwar immer noch unveräußerlich, aber sie werden trotzdem einfach weggenommen.

Der darüber hinaus von Romuald zugrunde gelegte Geschichtsbegriff ist hoch naiv. Es gibt kein beständiges Fortschreiten, sondern unzählige Parallelentwicklungen und Strömungen, die in ganz unterschiedliche Richtungen laufen können. Um ein Beispiel zu machen: Während die Rechte von Schwulen und Lesben bei uns ausgebaut wurden, wurden soziale Rechte und Arbeitnehmerechte abgebaut. Richtig muss der Satz also heißen: Willkommen also im 21. Jahrhundert, das in vielen Bereichen hinter die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zurückfällt.

Um den Bogen zu schließen zu dem eingangs angeführten Zitat, nachdem Schwule in Russland einfach tief bedauernswerte Menschen sind sie gesagt, dass meine schwulen russischen Freunde außer für einen kleinen Urlaub von Zeit zu Zeit aus Russland gar nicht weg wollen. Warum auch? Wohin auch? Die zerfallende EU hat im Moment wenig zu bieten, was sie attraktiv machen würde. Eine exorbitante Arbeitslosenquote, eine exorbitante Armutsquote, Instabilität, eklatanter Rechtsruck, Massenüberwachung, Preisgabe von sozialen Rechten und sozialer Sicherheit, ein riesiges Demokratiedefizit auch und gerade im Vergleich mit Russland, und so weiter und so fort. Da reißen es ein paar Gay Prides und das Recht, seine Partnerschaft standesamtlich registrieren zu lassen, nicht raus.

Gert Ewen Ungars Kommentar erschien zuerst bei logon-echon.com

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