russland.Community: Es wäre an der ZEIT – für eine ehrliche Russland-Berichterstattung

[Von Leser-Berlino] „Wer vertraut uns noch?“ fragt sich die ZEIT und stellt fest, dass in einer von ihr in Auftrag gegebenen Infratest-dimap Umfrage 60% der Bevölkerung den Medien nicht mehr glauben, und kein bis nur noch geringes Vertrauen in ihre Berichterstattung haben. Im Ukraine-Konflikt sind es gar 66% Verweigerer gegenüber nur 32%, die der Berichterstattung vertrauen.
www.zeit.de/2015/26/journalismus-medienkritik-luegenpresse-vertrauen-ukraine-krise

Ursachen der Vertrauenskrise

Kritisch betrachtet die ZEIT die Kommentare, die insbesondere auch ihre Berichterstattung über Russland bei den Lesern hervorrufen. Von einem ungerechtfertigten „Empörungsrausch“ ist die Rede. Selbstkritisch wird aber auch aufgeführt:

„Wahr ist aber auch, dass Journalisten in den vergangenen Jahren in entscheidenden Momenten versagt haben. Vor und während des US-Einmarschs im Irak etwa. Damals, 2003, gaben viele, vor allem amerikanische Medien im Grunde nur US-Regierungspropaganda wieder – und zogen mental mit in den Krieg.“

Für heute nimmt aber die ZEIT in Anspruch, dass es anders sei:

„Nun haben Redaktionen aus ihren Fehlern gelernt, sie begannen, mit Enthüllungsplattformen wie WikiLeaks und Whistleblowern wie Edward Snowden zusammenzuarbeiten, sie schärften ihren Blick für das Treiben von Banken, überdachten ihre politische Berichterstattung.“

Am Freitag diskutierten drei Journalisten der ZEIT im Chat, warum das Vertrauen in die Berichterstattung so schwinde: „Wem glauben Sie? Und wem glauben Sie nicht – und warum? An diesem Freitag, von 13.30 bis 16 Uhr, stehen Ihnen die ZEIT- und ZEIT-ONLINE-Autoren Götz Hamann, Steffen Dobbert, Carsten Luther und Yassin Musharbash hier im Kommentarbereich live für Ihre Fragen und eine Diskussion zur Verfügung.“

Russland -Berichterstattung

In einem Artikel vom selben Tag erlaubte sich die ZEIT allerdings parallel eine „Berichterstattung“ über Russland, die als Begründung für das wachsende Mißtrauen hergenommen werden kann:
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-06/Russlandsland-alexander-lebedew-zukunft-ohne-putin-angst-stalinisierung

Darin wird eine schwerwiegende Behauptung aufgestellt:

„Dabei ist das Mittel Krieg zur Festigung der Macht nichts Neues, seit Wladimir Putin erstmals Präsident Russlands wurde. Seit mehr als 15 Jahren dienen in Russland kriegerische Auseinandersetzungen mit Nachbarstaaten auch dazu, die Unterstützung der Bevölkerung für die Regierung zu gewinnen. Sinkt die Popularität wegen Wirtschaftsproblemen aufgrund des niedrigen Ölpreises, wird ein neuer Konflikt begonnen. So war es 1999 beim zweiten Tschetschenien-Krieg. Kurz bevor die russischen Truppen nach Grosny marschierten, war die Popularität der Regierung alarmierend niedrig. Anschließend begann sie wieder zu steigen. Ähnlich ist es 2008 gewesen, als der Konflikt mit Georgien begann, und 2014, als die ukrainische Krim annektiert wurde.“

Die ZEIT behauptet hier nichts geringeres, als dass
* Russland neue Konflikte/Kriege beginne – „seit Wladimir Putin erstmals Präsident Russlands wurde“ –
* um von Wirtschaftsproblemen durch Ölpreisverfall abzulenken und
* um innenpolitisch die sinkende Popularität wieder aufzubauen!
Und „belegt“ das mit 1999 Tschetschenien, 2008 Kaukasuskrieg und 2014 Krim-Annektierung.

1999 Tschetschenien

Sinkende Popularität?: 1999 war Putin gerade mal wenige Wochen im Amt, noch nicht einmal als Präsident, er fing gerade erst an, eben die Regierungen abzulösen, die Russland in die wirtschaftliche Katastrophe geführt haben. Nach 6 Wochen Amtszeit von sinkender und anschließend wieder(!) steigender Popularität zu sprechen, ist da natürlich völlig unzutreffend und absurd.

Neuen Konflikt begonnen? Afghanistan haben westliche Alliierte, auch Deutschland angegriffen, weil die Taliban von dort aus Terror in anderen Ländern verübt haben. In Tschetschenien hatten die islamistischen Extremisten sogar auf eigenem russischen Staatsgebiet die Macht ergriffen. Der Osama Bin-Laden Russland (Shamil Bassajew) wurde Premierminister. Mit internationaler Hilfe haben die Taliban ein Terror-Regime errichtet, die Scharia eingeführt, Angriffe auf und Attentate in Russland verübt, mit jeweils mehreren Hundert Todes-Opfern.
„Der internationale Dschihad hat sich Rußlands schwächste Stelle, den Nordkaukasus, als Angriffsziel ausgesucht“ (FAZ), und „von Tschetschenien aus Dörfer in Dagestan überfallen und zu islamistischem Gebiet erklärt“
www.faz.net/aktuell/politik/ausland/russland-die-islamisten-kaempfen-global-1176642.html
Bei der Geiselnahme in einem Krankenhaus in Budjonnowsk zeigte Bassajew, was er (in Afghanistan) gelernt hatte: Tagelang hielten seine Leute Ärzte, Schwangere und Hunderte Patienten in ihrer Gewalt. Nach den anschließenden, im Fernsehen übertragenen Verhandlungen mit dem Moskauer Regierungschef konnte er im Triumph abziehen – zurück blieben mehr als 130 Tote. Er sei kein Terrorist, sondern ein Aufständischer, der sich gegen Moskaus Gewalt auflehne, hatte Bassajew zunächst verkündet. Doch der angebliche Kämpfer für die Freiheit Tschetscheniens wandelte sich zum islamischen Globalisten, nahm einen arabischen Kampfnamen an und propagiert heute ein islamisches Kalifat im Kaukasus und darüber hinaus. (FAZ)
Die USA erklärten sich mit Russland solidarisch, setzten die tschetschenischen Rebellen auf ihre Terror- und Sanktionslisten, der BND schickte Anti-Terror-Spezialisten zur Unterstützung.
Und die ZEIT heute: von Russland wurde ein neuer Konflikt begonnen.??

2008 Kaukasuskrieg mit Georgien

2008 war Putin in der Tat schon eine Weile im Amt und man könnte die ZEIT-These im Gegensatz zu 1999 tatsächlich überprüfen: „Sinkt die Popularität wegen Wirtschaftsproblemen aufgrund des niedrigen Ölpreises, wird ein neuer Konflikt begonnen.“

Wirtschaftsprobleme? Im Juli/August 2008 als der Kaukasuskrieg „ausbrach“, war allerdings von der Finanzkrise noch nicht die Rede, Russland erlebte im Sommer 2008 den Höhepunkt seiner Goldenen Zeiten und feierte die Verdopplung des BIP seit Beginn der Amtszeit Putins. – de.wikipedia
„Wirtschaftsmacht Russlands: Russlands Wirtschaft boomt seit einigen Jahren. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2008 größer als das Großbritanniens werden.“ – zeitschrift-osteuropa.de

Niedriger Ölpreis? Und auch der Ölpreis erreichte im Juli 2008 ein All-Time-High, das bis heute unerreicht blieb.

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Sinkende Popularität?: Putins Popularität war durch die wirtschaftlichen Erfolge so hoch wie nie zuvor.
Zusammenfassend gab es also im Juli/August 2008 weder akute Wirtschaftsprobleme in Russland – im Gegenteil – noch einen niedrigen Ölpreis – im Gegenteil – noch einen Poularitätseinbruch des Präsidenten Putins – im Gegenteil.

popularitaet

Neuen Konflikt begonnen? Darüber hinaus musste selbst eine EU-Kommission 2009 feststellen, dass es Georgien war, die diesen Krieg durch ihren Angriff ausgelöst hatte:
Kaukasus-Konflikt: EU-Ermittler entlarven Saakaschwilis Kriegslüge. Es war Georgien, das den Krieg auslösteSPIEGEL 2009
EU-Untersuchungskommission: Georgien hat den Krieg begonnen – FAZ 2009

Aber die ZEIT behauptet heute: von Russland wurde 2008 ein neuer Konflikt begonnen ??

2014 Krim

Die Ereignisse von 2014 sind sehr frisch und präsent. Jeder kann selbst beurteilen, ob er es für zutreffend hält, von einem Krieg in und um die Krim zu sprechen, den Russland begonnen hätte.

Vertrauen in die Berichterstattung der ZEIT

Es wäre an der ZEIT, das verlorene Vertrauen ihrer Leser durch eine Berichterstattung wieder zu gewinnen, die vielleicht sogar einseitig in der Meinung sein darf, die aber auch ausgewogen und wahrheitsgemäß informieren muss. Mit solchen falschen Behauptungen, wiederholt über Russland und seine Geschichte, bleibt das Ringen um das Vertrauen der Leserschaft leider ohne Glaubwürdigkeit und Substanz. Denn reine Meinungsmache – unbewiesen und sachlich offensichtlich falsch – ist genau das, was zu dem beklagten Vertrauensverlust geführt hat und ihn weiter vertiefen lässt. Bliebe die ZEIT bei der Wahrheit, bliebe noch genug, was man an Russland Politik in Tschetschenien oder auf der Krim kritisieren könnte, und wofür die Leser sicher auch Verständnis hätten. Verfälscht man diese aber, kann die ZEIT kein Vertrauen mehr bei den Lesern erwarten, die solch ärgerlichen Artikel durchschauen. Sie bekommt weiter den so beklagten Empörungsrausch ihrer Leser. Denn die sehen es vielleicht immer noch so, wie es die ZEIT selbst beschrieb:

„Wahr ist aber auch, dass Journalisten in den vergangenen Jahren in entscheidenden Momenten versagt haben. … Damals, .., gaben viele .. Medien im Grunde nur US-Regierungspropaganda wieder – und zogen mental mit in den Krieg.“

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